21

Nach Talias erstaunlich heftigem Stoß taumelte Adam rückwärts. Der Raum verschwand im Dunkel. Ohne Talias Berührung trieb er in einem Meer aus Schatten, es herrschte Totenstille, sein Orientierungssinn war außer Kraft gesetzt.

Diese sture Frau. Verdammt. Begriff sie denn nicht, dass das der einzige Weg war?

Doch für ihre neu entdeckte Stärke liebte er sie nur umso mehr. Als wenn das überhaupt möglich wäre. Wenn sie sich zwischen ihn und den Dämon stellte und den Todessammler dazu aufforderte, das Schlimmste zu tun, dann konnte sie allein überleben. Sie konnte fliehen, heilen und einen Weg finden zu schreien, um diesen Albtraum zu beenden. Vielleicht würden sie alle an einem strahlenden Morgen aufwachen, und alles war möglich.

Zuerst musste er sie von dem Schiff herunterbekommen. Es war vollkommen egal, was ihre Sicherheit ihn kostete.

»Talia!«

Plötzlich lichtete sich die Dunkelheit. Talia taumelte rücklings in Adams Arme. Ein fieser Hund zerrte an ihrem Korsett und hatte es auf ihren Hals abgesehen.

Adam schlug das Biest mit der Faust auf den Kopf. Es jaulte und riss sich los, während die beiden anderen Höllenhunde mit gefletschten Zähnen auf Talia zukamen.

Wie ein Blitzschlag sauste eine glänzende Klinge nach unten. Der erste Hund löste sich in dichtem schwarzem Rauch auf. Die anderen Hunde sprangen auf, um sich in geduckter Haltung mit angelegten Ohren und gebleckten Zähnen zurückzuziehen.

»Ruf die Hunde zurück!« Adam blickte zur Tür.

Der Dämon und sein Wirt waren verschwunden, die Zellentür stand halboffen. Der Kelch mit dem Erbrochenen des Dämons rollte über den Boden und verteilte den Teer in einem Halbkreis auf der Türschwelle. Adams Blick zuckte zu Jacob, aus dessen Gesicht jegliche Häme verschwunden war. Genau wie die Hunde stellte er sich darauf ein, zu kämpfen oder zu fliehen. Seine Augen hatte er auf Talia gerichtet, während sein Körper zuckte und er versuchte, ihren nächsten Schritt zu erahnen.

Talia.

Adams Blick glitt vom Schaft der herabhängenden Waffe hinauf zu Talias Hand. Er schluckte schwer und blickte in ihr Gesicht.

Ihre blasse Haut schimmerte alabasterfarben, ihre tiefdunklen Augen wirkten aufgewühlt, und die Schminke war verlaufen, was ihre feenhaften Gesichtszüge unterstrich. Ihre weißen Haare wehten und knisterten vor Energie, während ein Umhang aus durchsichtigen Schleiern auf sie herabfiel, der in einzelnen Bahnen um sie herumwallte und sich zu den Rändern hin in Nichts auflöste. Ihr Korsett war zerrissen, aber es sickerte kein Blut hindurch. Sie holte tief Luft, als sie erneut die Sense hob.

Eine Todesfee. Eine Schönheit. Und knallhart. Er hatte immer geahnt, dass so etwas in ihr steckte.

Talia hob die Waffe und ließ die Sense erneut in einem funkelnden Bogen nach unten schnellen. Die Höllenhunde tänzelten davon, gaben ein tiefes Knurren von sich und stießen laut bellend böse Drohungen aus.

Adam konnte nur raten, woher sie die Waffe hatte. Es war höchste Zeit, dass das Jenseits ihnen half. Aber er wollte sich nicht beschweren, nicht, wenn die Sense dem gehörte, an den er dachte. Nein, nicht wenn eine märchenhafte Waffe in der Hand einer Todesfee lag. Adam beschwerte sich ganz und gar nicht. Damit kam er zurecht. Vor lauter Erleichterung war ihm beinahe schwindelig, vielleicht rührte das aber auch vom Blutverlust her.

Nur, dass Talia zu offen und ungeschützt dastand. Adam griff die Rückenlehne des Stuhls. Als Jacob nach vorn schnellte, um die Situation auszunutzen, hob er den Stuhl hoch und stieß zu. Ein Stuhlbein bohrte sich durch Jacobs Augenhöhle in seinen Schädel. Jacob krachte gegen die gegenüberliegende Wand und sackte zusammen.

Die Bewegung verursachte Adam ein heftiges Stechen in der Magengegend, dort, wo Jacob ihn als Nadelkissen missbraucht hatte. Adam presste eine Hand auf die Wunde. Das Blut quoll durch seine Finger.

Verdammt. Geister bewegten sich einfach zu schnell, und das Schiff musste gerammelt voll von ihnen sein.

In Segue war er milde in Sachen Selbstverteidigung gewesen. Damit war jetzt Schluss. Er musste Talia beibringen, wie sie ihre Flanke schützte. Wenn sie hier lebend herauskamen, würde er dieser Frau ein paar anständige Trainingseinheiten verpassen. Ein bisschen Selbstverteidigung reichte da nicht aus. Sie brauchte Kampftraining. Und er musste jemanden finden, der auf die Arbeit mit Messern spezialisiert war, eine Art Fechtmeister wahrscheinlich. Seine Banshee sollte nur das Beste bekommen.

»Verteile deine Hände gleichmäßig auf dem Schaft«, befahl Adam und ließ Jacob und die Höllenhunde dabei nicht aus den Augen. »Dann hast du mehr Kontrolle. Und nicht die Knie durchdrücken. Bleib auf den Ballen.«

Die Höllenhunde brachen in wildes Kläffen aus, das Echo hallte vielfach von den Metallwänden wider.

Jacob richtete sich auf der anderen Seite des Raumes auf. Verdammt. Geister genasen auch zu schnell.

Als Talia sich auf einmal nach vorne stürzte, blitzte die Sense erneut auf. Das Bellen der Höllenhunde verwandelte sich in ein durchdringendes Jaulen, und sie lösten sich in dunkle, schwefelige Rauchwolken auf.

Die Klinge schnellte wieder nach oben. Als hätte sie Adams Gedanken gelesen, schritt Talia nach vorn.

Los Los. Los. Sein Herz hämmerte im Rhythmus mit seinem inneren Monolog.

Talia hieb mit der Klinge nach unten.

Sie erwischte Jacob, der zusammengesackt auf dem Boden lag, sein Kopf kullerte leicht gegen die Wand. Sein Körper atmete hörbar aus und lag da, als wäre er bereits lange tot. Was sein Geruch bestätigte.

Und auf einmal war Adams Wunsch einfach so in Erfüllung gegangen. In seiner Brust löste sich ein Knoten, der ihm seit sechs Jahren die Luft geraubt hatte. Er atmete heftig aus und bekam vor Begeisterung feuchte Augen, als er allmählich begriff: Er hatte sich um seinen Bruder gekümmert, jedenfalls um das, was von ihm noch übrig gewesen war. Und jetzt war er frei. Adam wusste nicht, wie er Talia jemals dafür danken konnte, aber er würde es versuchen. Wenn es nötig sein würde, immer und immer wieder.

Talia drehte sich um. »Bist du okay?«

Zwischen ihren Brauen bildete sich eine Sorgenfalte. Sie biss sich auf die Unterlippe, die sich tiefrot färbte. Wenn sie lebend von diesem Schiff herunterkamen, würde er sich als Erstes bedanken, indem er diese Lippe küsste. Sie hatte für ihre Nerven herhalten müssen.

»Es ging mir noch nie besser.« Er blutete aus dem Bauch auf einem Schiff voller Geister, das von dem dämonischen Todessammler gelenkt wurde, doch es war wahr.

Wieder nagte sie mit ihren Zähnen an ihrer Lippe, wobei sie sein Lächeln erwiderte.

Ja, diese Unterlippe kam zuerst dran und dann vielleicht die hübsche Kuhle in ihrem Dekolleté. Diese Gruftis hatten sich bei den Korsetts garantiert etwas gedacht.

»Bringen wir das hier zu Ende«, sagte Talia, und die Heiterkeit verschwand aus ihrem Gesicht. Mit einer Hand griff sie den Schaft, die andere streckte sie ihm entgegen.

Als Adam sie ergriff, spürte er, wie sie an den Schatten zwischen der sterblichen Welt und dem Jenseits zog. Hinter diesen Schleiern lag der Durchgang, den man als Tod bezeichnete. Dunkle Magie durchströmte sie, bis jede Zelle ihres Körpers in der hereinbrechenden Dämmerung strahlte. Noch nie hatte sie diesen Grenzbereich so vollkommen umspannt wie jetzt.

Er trat an die Tür und spähte vorsichtig in den schmalen grauen Flur. Von ihm gingen diverse Türen ab, ansonsten war er leer.

»Pass auf«, sagte Adam und zeigte auf das Erbrochene des Dämons. Er wollte sich jetzt so weit wie möglich von dem Zeug fernhalten. Auch dafür musste er ihr dankbar sein. Von ganzem Herzen und immer wieder.

Sie schlichen den Flur hinunter und vernahmen polternde Schritte, stießen jedoch auf keinen Widerstand. Eine steile Treppe beinahe eine Leiter führte an Deck. Talia stieg zuerst hinauf und ließ ihn in pechschwarzer Finsternis zurück. Adam kletterte nach oben. Eine kühle Hand auf seinem Gesicht brachte seine Sehkraft zurück, und er erkannte das Schiff.

Adam hielt sie in der dunklen Kabine fest, legte die Arme um ihre geschnürte Taille und dachte über den nächsten Schritt nach.

»Wenn der Dämon schlau ist, hat er Geister neben den Türen postiert, damit sie uns fassen, sobald wir versuchen zu entkommen. Vermutlich verfügt das Schiff über eine Kommandozentrale. Ich würde ja um Hilfe rufen, aber es gibt niemanden mehr, den ich anrufen kann. Ich fürchte, wir sind die Letzten, die noch übrig sind.« Das war schwer zu glauben alle Kräfte, die er zusammengezogen hatte, waren entweder vernichtet oder zerschlagen.

Adam spürte, wie Talias Körper von Lachen geschüttelt wurde.

»Ich habe keine Angst mehr«, flüsterte sie. »Ich sage dir, wir gehen durch diese Tür. Die Sense meines Vaters hat eine große Reichweite, größer als ich dachte. Das ist genug.«

»Bist du sicher?«

»Ja.« Talia löste ihre Hand aus der Umarmung und suchte erneut die seine. Sie drückte sie. Los.

t

Als Adam sich aufrichtete, um die Klinke herunterzudrücken und die Tür aufzustoßen, machte Talia sich bereit; dann trieb sie einen Sturm aus Schatten auf das Deck. Das ohrenbetäubende Schopp Schopp eines Hubschraubers zeigte ihnen, welchen Fluchtweg der Todessammler gewählt hatte, aber der Wind der Rotorenblätter war nichts verglichen mit dem Sturm ihrer Schatten.

Adam ließ ihre Hand los, sodass sie die Sense fest umfassen konnte. Sie wollte ihn nicht in der Dunkelheit zurücklassen und schob die Schleier beiseite, bis die Welt in Grautönen vor ihnen lag.

Ein Geist stürzte auf die Kabinentür zu und wurde für seine Dummheit zweigeteilt. Beinahe widerstandslos glitt das Messer durch ihn hindurch, sodass sie nicht lange aufgehalten wurde und sich ermutigt fühlte. Ein zweiter Geist trat hastig den Rückzug an, als sie und Adam das Deck betraten. Dahinter warteten noch Dutzende weiterer Geister.

Alle wichen vor ihr zurück. Es war ein berauschendes Gefühl endlich wurde die Gejagte zur Jägerin. Und obwohl die Sense zu groß für sie war, schien ihr die flirrende Energie, die ihren Sinnen Kraft gab, genau richtig.

Hinter den zusammengedrängten Geistern stiegen der Dämon und sein Wirt gerade die Stufen zum Hubschrauber hinauf. Gleich würden sie sicher in den Himmel aufsteigen. Die Sense reichte weit, aber nicht so weit.

Die Fee in Talia sagte ihr eindringlich, dass sie jetzt handeln musste. Senseschwingend warf sie sich in die Menge aus Geistern. In ihrem Rücken fluchte Adam heftig, aber sie drängte weiter voran.

Sie ließ die Sense nach unten sausen und erwischte einen Geist an den Knien. Unter der Wucht des Schlages brach er zusammen und wurde mit weit geöffnetem Mund aus dem Leben gerissen.

»Links von dir!« Adams Stimme klang tief und wütend.

Talia wirbelte herum. Zwei Geister mit unmenschlichen Zähnen griffen sie an. Sie bekam Panik. Aus den Augenwinkeln nahm sie verschwommen wahr, dass Adam einen der beiden in den Bauch trat. Sie schwang die Sense in Richtung des anderen, der daraufhin zusammenbrach; dann wirbelte sie herum, um sich den ersten vorzunehmen und hieb direkt auf das riesige Maul in seinem Gesicht ein.

Adam legte den Arm grob um ihre Taille und riss sie plötzlich zurück. Die Klinge schwang durch die Luft, erwischte einen dritten Geist an der Schulter und beförderte ihn in den Tod.

Schwer atmend blickte Talia in Erwartung des nächsten Angriffs nach rechts und nach links. Aber die Geister zogen sich zurück.

»Sie gehen von Bord«, flüsterte Adam in ihr Ohr.

Talias Blick glitt zum Rand des Schiffes, wo tatsächlich ein Geist über die Seite ins Meer sprang. Das ergab durchaus einen Sinn: Die Geister mochten vielleicht ertrinken, aber sie konnten nicht sterben. In den Wellen kam Talia nicht an sie heran, ohne selbst zu ertrinken. Aber sie war hinter einem deutlich größeren Fisch her.

»Hierher!«, rief der Wirt. Er stand immer noch auf der obersten Stufe vor dem Hubschrauber.

Seine desertierende Armee beachtete den Ruf des Dämons nicht. Durchaus logisch: Jeder, der sich für die grausame Existenz als Geist entschied, war in erster Linie selbstsüchtig. So jemand riskierte nicht sein Leben für den Dämon, denn schließlich hatten sie genau dafür ihr Menschsein geopfert.

Talia schritt über das leere Deck auf die Stufen zu. Der Hubschrauber stand bereit; wieso waren der Dämon und sein Wirt noch nicht sicher an Bord?

Sie suchte nach Anzeichen für irgendeinen Trick.

Der leichenblasse Wirt wirkte überaus angespannt.

»Töte uns. Schnell. Bevor er mich ganz beherrscht«, keuchte der Mann mit menschlicher Stimme. Seine Hand, mit der er so fest das Geländer umklammerte, dass die Knöchel weiß hervortraten, zitterte, als die dämonische Schlange sich in sein Ohr drängte. Das verbitterte Gesicht des Wirtes verwandelte sich in eine schmerzverzerrte Grimasse mit weit aufgerissen blinden Augen und angsterfülltem Blick. Zähflüssiger Teer füllte seine Mundhöhle und troff aus seiner Nase.

Talia begriff. Der Wirt hatte seine Lektion gelernt und eine letzte Entscheidung getroffen. Er widersetzte sich der gewaltsamen Übernahme durch den Dämon und wartete darauf, von der Sense erlöst zu werden.

»Bastard «, fauchte der Dämon mit hoher durchdringender Stimme, als er die Kontrolle über den Mund des Wirtes zurückerlangt hatte.

Als Talia mit der Sense Schwung holte, spürte sie eine wundervolle Kraft in sich.

»… Hurenbrut « Der Wirt hatte den Kampf verloren, ließ das Geländer los und kroch auf den wartenden Hubschrauber zu.

Die Kraft schmerzte wundervoll in ihren Muskeln und kribbelte in ihren Fingerspitzen. Todesfantasien tanzten durch ihren Kopf. Ihr Blut war in Aufruhr, und es verlangte sie danach, von dem Dämon lediglich einen Fleck auf dem Schiffsdeck zurückzulassen.

Mit Adam in ihrem Rücken näherte sie sich der widerlichen Kreatur aus Dämon und Wirt. Der Dämon hatte keine Chance zu entkommen. Es gab kein Versteck, und ihm blieb keine Zeit.

Talia sammelte die Energie, die sie für ihren Schrei benötigte, und ließ sie in einen großen Sensenschwung strömen.

Die Klinge wirbelte singend durch die Luft und zerschlug die widerliche Kreatur. Talia zitterte beinahe vor Entzücken über diesen wundervollen Mord.

Der Wirt jammerte, bis er tot war, während der Dämon sich teilte und seine schlängelnde Gestalt sich in einen länglichen Schatten verwandelte, bevor er sich genau wie seine Höllenhunde vollkommen auflöste.

Tot.

Einen Augenblick lang konnte Talia nicht atmen. Neben den aufsteigenden schwarzen Gasen wollte sie das auch gar nicht.

Dann zuckte die Wolke aus Dämonenrauch.

Talia sprang erschrocken zurück und stieß gegen Adam. Schützend legte er seinen kräftigen Arm um ihre Taille.

Aus der schwarzen Wolke schoss eine dunkle Hand hervor. Beinah genauso plötzlich verschwand sie wieder im Nichts. Bevor Talia nur einmal Luft holen konnte, tauchte der Arm erneut mitten aus den Schatten auf, als würde er gegen eine unsichtbare Macht kämpfen.

Talias Herz zog sich zusammen. Noch ein Dämon? Sie umfasste fester den Schaft der Sense. Sie konnte es schaffen. Ihre Muskeln bereiteten sich auf den Schlag vor und warteten darauf, dass das Wesen herauskam.

»Halt dich bereit«, murmelte Adam. In ihrem Rücken spürte sie, wie er den Körper anspannte.

Sie zog an den Schatten, der Quelle ihrer Kraft, so lange, bis die glänzende Sense über ihrem Kopf von Schattenschleiern umgeben war. Zog, bis das Wesen aus seinem Gefängnis in die Welt kam.

Talia erschauderte vor Schreck, als sie begriff.

Das Wesen hatte glänzende, lange schwarze Haare und fiel, umgeben von einem Umhang aus wallenden Schatten, auf das Deck herab. Als es sich aufrichtete und sie aus seinen schräg stehenden Augen ansah, gab es keinen Zweifel mehr. Der Tod war ihr Vater.

Sie musterten sich eine ganze Weile. Unter seinem aufmerksamen Blick wogten die Schatten um sie.

Talia hob das Kinn und gab ihm mit pochendem Herzen seine Sense zurück.

Das Gesicht ihres Vaters war alterslos wie das eines finsteren Engels, und voll grausamen Mitgefühls. Sein Körper wirkte stark und gesund, obwohl er von den Schatten des Todes umgeben war denselben Schatten, die sie umwaberten. Seine Stille wirkte anmutig, aber sie wusste, dass er schnell und brutal zuschlagen konnte und Schmerz und Leid hinterließ.

Kein Wunder, dass die Leute sich von ihr fernhielten.

»Du hast das Gesicht deiner Mutter«, sagte er schließlich. Wie dunkler Samt strich seine Stimme über ihre Haut.

Talia war tief berührt. Ihr fehlten die Worte.

Aber Adam fragte: »Ist es vorbei?«

Der Blick des Schattenmannes glitt von ihr zu Adam. »Das Verderben ist wieder dort, wo es hingehört.«

Ihr Vater wandte sich erneut zu ihr um. Der dunkle Strom umflutete ihren Körper, als wollten die Schatten sie in ihr Meer ziehen. Durch die dichten Wellen spürte sie den festen Druck von Adams Körper und nahm seine Gefühle wahr.

»Wie ist das überhaupt passiert?« Adams Stimme klang hart und fordernd, so heftig war der Schmerz über seinen Verlust. Talia wunderte sich, dass er dem Tod nicht mit der Faust drohte. Sie dachte an ihre Mutter, die bei ihrer Geburt gestorben war, an Tante Maggie, an Melanie, Patty und Custo. Alle waren tot.

Der Schattenmann senkte den Kopf, aber nicht voller Reue. »Ich habe die Schleier zwischen Leben und Tod geteilt, ohne dass man mich dazu aufgefordert hatte. Das Verderben ist entkommen und hat sich in der sterblichen Welt festgesetzt.«

»Du ? Wieso?« Adams Stimme war heiser vor Anspannung.

»Aus Liebe zu einer Frau.«

»War sie es wert?«, provozierte Adam den Tod.

Der Blick des Schattenmanns glitt erneut zu Adam. »Ist Talia es wert?«

Adam erstarrte, Wut und noch etwas anderes stieg in ihm auf.

Talia hatte das Gefühl, mit der schrecklichen Erkenntnis, die alles andere überschattete, zu altern. Die Verbindung zwischen dem Schattenmann und ihrer Mutter dieses Märchen war zu einer Geißel für die Menschheit geworden.

»Diese Leute sind alle meinetwegen gestorben?« In den Schleiern war ihr gebrochenes Flüstern deutlich zu verstehen. Die Sense fiel klirrend auf das Deck. Wenn Adam nicht hinter ihr gestanden hätte, wäre sie vermutlich ebenfalls hingefallen.

»Hast du sie umgebracht?«, fragte der Tod mit unbewegtem Ausdruck in seinem schönen Gesicht.

»Nein, aber «

Der Schattenmann hob eine Hand. »Dann bist du nicht schuld. Der Dämon ist meinetwegen in die Welt entkommen. Ich hätte mich ihm stellen müssen, aber man hat mich wegen meines Vergehens festgehalten.«

»Alle mussten sterben, weil « Talia beendete den Satz nicht. Sie schluckte die Worte hinunter. Wie konnte Adam sie jetzt noch lieben? Wie konnte er sie lieben, wenn derselbe Akt, durch den sie auf die Welt gekommen war, zugleich seine Familie zerstört hatte?

Talia richtete sich etwas auf und rückte einen Schritt von Adam ab, sodass sie ihn nicht mehr fühlen konnte. Die Schatten kamen ihr zu Hilfe.

»Die Kinder des Dämons haben ihre eigenen Entscheidungen getroffen. Nicht einmal das Verderben konnte sie dazu zwingen, sich ihm anzuschließen, wenn sie es nicht wollten. Für ihre Handlungen sind sie ganz allein verantwortlich.«

»Und die, von denen sie sich ernährt haben?« Die Bitterkeit in Adams Stimme war kaum zu überhören.

»Hinübergegangen. Sie sind, wo sie hingehören.«

»Und die Geister, die entkommen sind?«, setzte Adam nach.

»Sie müssen ebenfalls vernichtet werden, um die Seelen, die in ihnen gefangen sind, zu befreien.«

Talia zog die Schatten fester um sich, damit die kühlen Falten ihre Schmerzen betäubten, bis sie nichts mehr spürte.

»Bist du bereit?«, fragte der Schattenmann sie. Er hatte ihren Abstand zu Adam bemerkt und ihn richtig gedeutet.

Adam streckte die Hand nach ihr aus, stieß aber nur gegen Schatten. »Was meinst du?«

»Ich nehme meine Tochter mit nach Hause.«

Die Dunkelheit löste sich in schrille Farben auf, wie sie Talia bislang nur aus Träumen kannte. Dennoch kamen ihr die Töne bekannt vor. Musik erklang und erstickte den Lärm an Deck. Sie hörte ein Lied, das schön und zugleich traurig klang und in einer endlosen Schleife immer wieder von vorne gesungen wurde.

»Was? Du bekommst sie nicht!« Adam hätte ebenso gut den Wind anschreien können.

»Für deine beispiellose Hilfe«, fuhr der Schattenmann fort, »garantiere ich dir Unsterblichkeit. Das, was sich die anderen gewünscht haben, aber ohne dass du so schrecklich Hunger leiden musst wie sie.«

»Du meinst ohne Talia«, vergewisserte sich Adam. »Nein. Hörst du mich? Nein.«

»Talia ist eine Todesbotin. Als solche gehört sie in die Zwielichtlande.«

»Sie ist eine halbe Fee, sie ist halb sterblich, und sie gehört mir

Bei Adams Worten drehte Talia sich zu ihm um. Sie beobachtete ihn aus ihrem dunklen Versteck. Adam war eindeutig anders als sie in den Schatten war diese Tatsache ziemlich deutlich. Er war stark und wurde von seinem Willen getrieben. Und genau in dem Augenblick erstrahlte sein Wille so hell, dass er sie zwang, die Feenaugen zu schließen. Hell genug, um die Schatten um sie herum zu verdrängen. Hell genug, dass er ihre Hand finden und ergreifen konnte.

Durch ihre Handflächen strömte ein Energiefluss ein Anker, eine Lebenslinie, eine Verbindung, die keinen Unterschied machte zwischen Fee und Sterblichem. Sie gehörte ihm, und er gehörte ihr.

Und er ließ sie nicht gehen.

Nachdem er sich so deutlich zu ihr bekannt hatte, war klar, dass er sie nicht für das Leiden seiner Familie verantwortlich machte. Im Gegenteil, Talia begriff, wie sehr er ihr vertraute, dass ihre Seelenverwandtschaft stärker war als alles, was sie erlitten hatten. Das war mehr als genug.

»Was immer du dir jetzt erhoffst, eure Verbindung kann nicht von Dauer sein.« Der Stimme des Schattenmannes war anzuhören, dass er aus eigener Erfahrung sprach. »Es wird die Zeit kommen, da Talia in den Zwielichtlanden bleiben und du hindurchreisen musst.«

Adam zog sie in seine Arme und hielt sie fest. Er war aus Fleisch und Blut, und er war sterblich, aber sie hatte sich noch nie in ihrem Leben so sicher gefühlt.

»Du hast schon einmal eine Grenze durchbrochen; wenn es so weit ist, wirst du sehen, dass wir dasselbe tun«, sagte Adam.

»Ich bin der Tod. Ich weiß, dass das nicht möglich ist.«

»Ich lebe und weiß, dass es möglich ist. Wir werden herausfinden, wie.«

»Ich gehe, wenn er geht«, erklärte Talia, »und wohin er geht.«

Traurig blickte der Schattenmann auf Talia und beugte sich wie ein einsamer alter Mann hinunter, um die Sense aufzuheben. Sie wirkte schwer in seinen Händen. »Ruf mich, und ich werde da sein.«

Ein Wirbel aus Schatten, und ihr Vater war fort. Der Gruß aus den Zwielichtlanden löste sich in glitzernde schwarze Meeresgischt auf, während das Deck des Schiffes von dem lauten Rattern der Rotoren erschüttert wurde.

Sie würde ihren Vater wiedersehen, wahrscheinlich schon bald. Der Dämon mochte zwar tot sein, aber es schlichen noch Tausende von Geistern auf der Erde umher. Seine Arbeit war genauso wenig beendet wie die ihre.

»Weißt du, ich bin mit alledem noch nicht fertig«, sagte sie an Adams Brust gelehnt. Und wahrscheinlich würde sie das auch nie sein.

»Dann bin ich es auch nicht«, erwiderte er.

Nachdem Adam sie bereits fest in den Armen gehalten hatte, eroberte er ihren Körper nun vollends. Er vergrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge und schmiegte sich eng an sie. Er verströmte Erleichterung, Entschlossenheit, Hoffnung und Liebe. Es war viel, und das mit überwältigender Intensität. So konnte es immer bleiben.

Aber sie befanden sich auf einem stinkenden Schiff, und er war verletzt und blutete. Der Wind des Hubschrauberpropellers wirbelte durch ihre Haare.

Talia löste sich aus seiner Umarmung, schob sein Hemd nach oben und untersuchte die offene blutende Wunde. Es musste unglaublich schmerzhaft für ihn gewesen sein zu kämpfen. Sie brauchte etwas, um ihn zu verbinden, um die Blutung zu stoppen, bis sie Hilfe gefunden hatten.

»Zieh dein Hemd aus«, sagte sie. Es war bereits blutdurchtränkt und klebrig, aber es musste gehen.

Er ließ sie nicht aus den Augen, während er es auszog, und achtete nicht darauf, dass die Wunde durch die Bewegung noch stärker blutete. Er war blass und keuchte, aber der Blick aus seinen Augen wärmte sie durch und durch. Sie riss eine der Seitennähte des Hemdes auf, um es als Verband zu benutzen. Dann teilte sie den Stoff in zwei lange, halb durchnässte Streifen.

»Hast du irgendeine spezielle Vorliebe?«, fragte Adam. Mit seinen rauen Knöcheln strich er sanft über ihre Wange, und sie spürte, dass er im Begriff war, einen neuen Entschluss zu fassen.

Sie blickte von ihrer Arbeit auf. Seine linke Wange war geschwollen. »Bei was?«

»Unserer Reise. Die, die ich dir versprochen habe. An jeden Ort der Welt. Wohin auch immer.« Der arme Mann brachte kaum einen Satz zustande und plante bereits das nächste Vorhaben.

Talia wollte schon die Augen verdrehen, aber sie spürte, wie ernst es ihm war. »Irgendwohin, wo es ruhig ist«, antwortete sie. Irgendwohin, wo du gesund wirst.

»Nicht zu ruhig.«

Sie verknotete den Stoff über seinem Bauch, dessen Muskeln sich spannten, als er wieder die Arme um sie legte. »Irgendwohin, wo es friedlich ist.«

Er küsste sie leidenschaftlich, zu kurz, aber doch lange genug, um ihr erneut zu zeigen, wo sie hingehörte. »Mach dir deshalb keine Sorgen«, sagte er. »Ich kümmere mich um alles.«

Der angeschlagene Mann stützte sich schwer auf ihre Schultern, aber das sagte sie ihm nicht. Er strich mit dem Mund über ihre Wange.

»Ich nehme an, du weißt nicht, wie man einen Hubschrauber fliegt?«, sagte Talia in Richtung Himmel, während Adam sich zu ihrem Nacken hinunterbeugte. Auf einmal fühlte sich ihr Hals viel, viel besser an.

»Richtig.« Er hatte ihr Ohrläppchen entdeckt.

»Und hast du eine Idee, wo wir medizinische Hilfe bekommen?«

Er legte eine Hand um ihre Brust und verdoppelte ihren Herzschlag.

Er stöhnte.

»Obwohl ich mit deiner hm aktuellen Vorgehensweise durchaus einverstanden bin « Er ließ seine andere Hand über ihren Hintern gleiten.

»Sollten wir uns zuerst um mhh einen Arzt kümmern und diese Sachen auf später verschieben.«

Er rückte von ihr ab und wankte. »Versprochen?«

Talia blickte ihm in die Augen. »Versprochen.«