14
»Ja?«, meldete sich Adam, das Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt, während er das Handtuch um seine Taille wand. Kühle Wassertropfen rannen in Bächen über Rücken und Brust – aber die Kälte war ihm auf seiner überhitzten Haut durchaus willkommen. Im Badezimmer hinter ihm gab die Dusche ein leises Zischen von sich, Talia wusch sich. In einer vollkommenen Welt wäre er bei ihr gewesen, nasse Haut auf nasser Haut, und hätte sich jetzt, nachdem die erste Lust befriedigt war, Zeit gelassen.
»Segues Mitarbeiter sind in Sicherheit«, meldete Custo. »Sie warten an unterschiedlichen unauffälligen Orten auf Anweisungen. Das heißt, alle außer Gillian, die sich entschieden hat, ihr Glück allein zu versuchen.«
»Hervorragend. Wo sind sie, und wie lange können sie durchhalten?« Adam ging zu dem modernen Schreibtisch, der sich in einer Mauernische neben der Küche befand, griff sich ein Stück Papier und zog mit den Zähnen die Kappe von einem Stift. Während Custo eine Liste von Orten herunterratterte, machte Adam sich Notizen. Alle schienen ein paar Tage zurechtzukommen, bevor sie sich erneut bewegen mussten. Er hoffte, dass bis dahin alles vorbei war, so oder so.
Die Dusche wurde abgedreht. Adam stellte sich vor, wie Talia aus dem Dampf hervortrat, ihr schmales Gesicht mit den großen Augen. Ihre reizende, blasse Gestalt war rosig und duftete. Ihre Haare ergossen sich glatt über ihren Rücken bis hinunter zu den zwei kleinen Kuhlen am Fuße ihres Rückgrates, von denen sich ihre Hüften ausbreiteten und ihr wunderbarer Po rundete.
Sein Blick zuckte zu ihrer Kleidung, die vor den großen Fenstern verstreut lag.
»Eine Sekunde«, sagte Adam zu Custo – er stellte das Telefon auf stumm, schritt durch den kurzen Flur und klopfte an die Badezimmertür. »Talia, im Schlafzimmer findest du saubere Sachen zum Anziehen. Nimm dir, was du magst. Was dir einigermaßen passt.«
Er wartete schweigend auf ihre Antwort. »Talia?«
»Okay, danke.« Ihre Stimme war ruhig, aber sie klang etwas abweisend.
Ach, zum Teufel. Adam lehnte seine Stirn gegen die Tür. So sollte das alles nicht laufen. Beinahe eine Woche lang hatte er es geschafft, sie nicht zu berühren, hatte sich nur einmal – okay, zweimal – hinreißen lassen, sie zu küssen. Und wer wollte ihm das verübeln? Sie war klug und überwältigend. Manches ließ sich einfach nicht steuern. Er begehrte sie. Das hatte er bereits in dieser stinkenden Gasse in Arizona gewusst, als er ihren überhitzten Körper gehalten hatte. An der Art, wie ihr Körper sich an seinen Arm schmiegte. Wie sein Kinn auf ihrem Kopf ruhte. Als ihre sanfte Stimme ihn flüsternd warnte. Sie hatte ihm gezeigt, wie das Leben sein konnte, wenn er nicht diesen Krieg im Kopf hatte. Ja, er war gut, und er saß in der Klemme.
»Adam?« Custos Stimme lenkte Adams Aufmerksamkeit zurück auf das Telefonat.
Adam deaktivierte die Stummtaste. »Ich bin da.«
Er ging zurück zu Schreibtisch und Laptop, zog einen Stuhl zurück, setzte sich und zwang sich zur Konzentration auf den Bildschirm.
Arbeit. Konzentration. Jacob.
Der Gedanke an Jacob legte sich wie eine Schlinge um Adams Hals und schnitt ihm die Blutzufuhr zu Herz und Gehirn ab. Jacob hatte diesen Albtraum begonnen und Mom und Dad umgebracht. Jacob musste sterben. Unbedingt. Danach konnte Adam vielleicht sein eigenes Leben beginnen, vorher nicht.
»Wenn ich zu dir komme, agieren wir dann von unserem New Yorker Büro aus?« Wenigstens Custo behielt einen klaren Kopf.
»Nein«, erwiderte Adam. Er berührte den Bildschirm und wählte den Tab, der die Verbindungen zu allen Segue-Büros auf der ganzen Welt anzeigte. Das System im New Yorker Büro war ausgeschaltet, ebenso wie in den Büros in San Francisco und Atlanta.
»Das US-Satellitensystem des Büros ist außer Funktion«, informierte Adam ihn. »Was in West Virginia passiert ist, ist sehr wahrscheinlich auch hier geschehen. Wenn jemand überlebt hat, wird er sich verstecken. Jegliche Information aus diesen Einrichtungen ist jetzt bekannt. Es gibt für uns keinen Grund, in das Büro zu gehen und Gefahr zu laufen, dass wir selbst entdeckt werden.«
Wie hatte er nur, wenn auch nur für einen Augenblick, seine Mitarbeiter vergessen können? Er hatte jeden Angestellten der New Yorker Filiale persönlich ausgewählt – der Gedanke, dass sie tot sein könnten, brachte ihn zur Verzweiflung. Sechsundzwanzig Menschen, die sich allesamt seiner Sache verschrieben hatten, waren verloren. Sie waren darauf angewiesen, dass er für ihre Sicherheit sorgte. Und was tat er? Er vernichtete ihre einzige Überlebenschance.
Idiotisch. Vor allem, da er sich so kurz vor dem Ziel befand.
Alles, was er brauchte, war ein wohlplatzierter Schrei zum richtigen Zeitpunkt. Nur der geschickte Schwung von Schattenmanns gebogener Klinge, mit der er eine Armee von Geistern vernichtet hatte, konnte ihn von seiner Wut erlösen.
»Ich dachte, das Kollektiv wäre nur hinter Talia her. Denkst du, sie wollten ganz Segue vernichten?«
»Ja.« Adam leuchtete das Vorgehen des Kollektivs ein. Segue zu zerstören, war der einfachste Weg, an ihr Ziel zu gelangen. Sie beraubten Adam sämtlicher Ressourcen, zerstreuten sein Personal und warfen seine Strategie über den Haufen, indem sie den Modus Operandi des Kollektivs änderten. Auf diese Weise hatten sie die Belegschaft von Segue einschließlich Adam und Talia innerhalb weniger Stunden auf eine Gruppe reduziert, die aus dem Untergrund agieren musste.
Aber solange Adam über den Schrei verfügte, konnte er den Krieg gewinnen. So lange war es ein Kinderspiel, Rache zu üben und zu siegen.
»Warum? Warum sollten sie das Risiko eingehen, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen?«
»Es geht ihnen nur um Talia. Sie ist die Einzige, die etwas gegen sie ausrichten kann.«
»Ich verstehe immer noch nicht. Wieso bringen die Geister sie nicht einfach um und fertig?«
»Gute Frage.« Wieso brachten sie nicht einfach die Stimme zum Schweigen, die in der Lage war, den Tod zu rufen? Es musste einen verdammt guten Grund geben, ansonsten wäre die Situation in West Virginia vollkommen anders verlaufen. Für irgendetwas brauchten sie Talia.
Als er ein leises Geräusch hinter sich vernahm, drehte Adam den Kopf.
Talia tappte auf Strümpfen in den Raum. Sie trug ein viel zu großes schwarzes T-Shirt und den deutlich sichtbaren Nippeln nach zu urteilen keinen BH darunter, außerdem ausgebeulte graue Jogginghosen, die sie bis zu den Knöcheln aufgerollt hatte. Ihre schlanken Füße steckten in seinen Socken, was er zugleich bezaubernd und intim fand. Sie schlüpfte wieder in ihre Schuhe. Nach zwei Monaten auf der Flucht hatte sie sich offenbar das ein oder andere angewöhnt, damit sie jederzeit wegrennen konnte. Und Gewohnheiten wurde man nur schwer los.
Sie zog den USB-Stick aus ihrer Hosentasche, den Adam ihr in Segue gegeben hatte, und sammelte die verstreute Kleidung vom Boden auf. Er bemerkte, wie sie ihn hinter ihrem schützenden Vorhang aus nassen Haaren beobachtete, und sah ihr in die Augen, woraufhin sie sofort den Blick abwandte und so tat, als würde sie das Gespräch mit Custo nicht weiter beachten. Nicht gerade oscarverdächtig.
»Wenn du herkommst, stellen wir fest, welche Mittel uns noch zur Verfügung stehen, und lokalisieren das Basislager der Dämonen. Dann dringen wir schnell ein und schlagen zu.«
Talia ging wieder an ihm vorbei, entdeckte hinter einer Falttür im Flur Waschmaschine und Trockner und stellte eine Ladung Wäsche an. Sie kam zurück ins Zimmer und wühlte hinter ihm herum. Nachdem sie ein Buch gefunden hatte – wo kam das auf einmal her? –, setzte sie sich auf das Sofa, um zu lesen.
»Wie willst du das schaffen, wenn das New Yorker Büro außer Betrieb ist?«
»Ich habe andere Mittel.« Geister. Talia konnte die New Yorker Geister herbeirufen und sie den Dämon suchen lassen. Es gab überall Zeugen, und mit ihr mussten sie reden. Verdammt, es war fast zu leicht.
»Ich kenne alle deine Mittel«, entgegnete Custo.
»Dieses nicht. Vertrau mir. Wie lange brauchst du, um herzukommen?« Adam sah auf seine Armbanduhr. 2:23 Uhr.
»Eineinhalb Stunden. Vielleicht zwei.«
»Ich werde da sein.« Adam beendete das Gespräch und blickte zu Talia.
Es gab keinen Grund, sie jetzt zu stören. Sie schien vertieft zu sein und er wusste ohnehin nicht, was er ihr sagen sollte. Wir haben einen Fehler gemacht stand im Widerstreit zu Wir haben noch gerade genügend Zeit für ein zweites Mal. Aus Erfahrung wusste er, dass beide Varianten vollkommen unpassend waren.
Also verwarf er beide und beschloss stattdessen, vorerst wie ein Feigling den Mund zu halten. Er ging zum Schlafzimmer, zog sich an und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. Dann arbeitete er an seiner Simulation und fügte die unerwartete Unterstützung des IBÜ den bereits besorgniserregenden Mitteln des Kollektivs hinzu. Die Prognosen, die das Programm auswarf, trieben ihm den Schweiß auf die Stirn. Aufgrund einer Fülle von Zahlen, geteilt durch geografische und industriespezifische Wahrscheinlichkeiten, kam der Computer zu dem sicheren Ergebnis, dass es keine Hoffnung gab.
Er sah zu Talia und wusste, dass das nicht stimmte.
Aber wenn er es irgendwie verhindern konnte, brachte er keine Frau in Gefahr. Er musste ganz sicher sein, dass Talia nichts zustoßen konnte.
Sie saß auf dem Sofa, das mit dem Blick auf die weite dunkle Stadt vor dem Fenster stand, hatte die Füße unter ihren Körper hochgezogen und die Nase in das Buch gesteckt. Ihre Haare waren in der Zeit, die er gearbeitet hatte, zum Teil getrocknet, hellten langsam auf und kringelten sich über ihren Schultern zu Locken. Seit sie sich hingesetzt hatte, hatte sie kaum einmal aufgesehen.
Das Buch musste verdammt fesselnd sein.
Bevor Custo kam, sollte er sich besser um Schadensbegrenzung bemühen.
Adam stand auf und streckte sich, um die Verspannung in Rücken und Nacken zu lösen. Sein Blick war entschlossen, aber sein Körper vibrierte, als er Talia gegenüber Platz nahm.
»Was liest du?«, fragte er anstelle von Geht es dir gut?
Talia klappte das Buch zu und ließ es auf ihren Schenkeln liegen. Glückliches Buch.
»Jim hat es mir gegeben, kurz bevor er mich gebeten hat, Lady Amunsdale zu rufen. Es ist eine Art Lexikon mythischer Gestalten und enthält eine Einführung über Banshees, über Todesfeen.«
Adam beugte sich in seinem Stuhl nach vorn. Der angenehme Geruch von Shampoo und Seife, der noch frisch auf ihrer Haut haftete, stieg ihm in die Nase. Der süße Geruch saß in ihrem Nacken, direkt hinter ihrem Ohr, wahrscheinlich noch intensiver und noch kräftiger zwischen ihren Beinen. Er setzte sich wieder zurück und rieb sich die Kopfhaut, um das Blut dorthin zu lenken, wo er es am dringendsten brauchte. »Was steht drin?«
»Der Begriff Banshee stammt aus dem Irischen, was keine Überraschung ist. Ban heißt Frau. Und shee bezieht sich auf den Feenhügel oder das Jenseits.«
Talias Ton zeichnete sich durch eine gewisse akademische Distanz zu den vermittelten Informationen aus, als würde sie sich aus rein intellektuellem Interesse mit ihrer Abstammung beschäftigen. Nicht so, als wäre es die persönliche Entdeckung, nach der sie ihr ganzes Leben lang gesucht hatte. Er ließ sich von ihrem Schauspiel nicht täuschen. Adam wusste, dass ein solches Familienerbe belastend war – entweder nahm man die Bürde auf sich, bis man sie an jemand anders weiterreichen konnte, meistens an die eigenen Kinder, oder man wurde von der Last erdrückt. Wenn Adams Bürde schwer wog, musste die ihre beinahe unerträglich sein.
Sie fuhr auf ihre trockene Art fort. »Der Schrei einer Todesfee geht dem Tod voraus. Er kündigt den Tod an, was erklärt, was zwischen mir und dem Schattenmann vor sich gegangen ist. Es gibt allerdings einen Unterschied: Banshees sind mit irischen Königsfamilien verwandt, was bei mir nicht der Fall ist.« Sie presste die Lippen aufeinander, schloss das Buch und warf es beiseite.
»Deine Mutter war Irin. Vielleicht gibt es in ihrer Familie Verbindungen zum Königshaus. Vielleicht bist du eine edle Prinzessin.« Und ob sie das war. Er hatte es die ganze Zeit über gewusst.
»Kann ich abdanken?« Sie lachte rau und bekam endlich feuchte Augen. Sie blinzelte rasch, um die Tränen zu vertreiben.
»Noch nicht«, antwortete Adam. »Ich brauche dich.«
Talia wurde so still, dass er seine letzten Worte noch einmal in seinem Kopf Revue passieren ließ. Ich brauche dich. Was redete er denn da? Der Satz zog eine Folgefrage nach sich – wozu? Als Waffe oder für die Liebe?
Er räusperte sich, drückte sich vor der intimeren Frage und widmete sich der offensichtlichen. »Ich glaube, dass die Verbindung zum Tod abbricht, wenn jemand zum Geist wird. Durch deinen Schrei wird sie wiederhergestellt.«
Talia schüttelte den Kopf. »Ich bin sicher, dass ich als Kind geschrien habe. Bei Wutanfällen, auf der Achterbahn oder in gruseligen Filmen. Damals ist kein Schattenmann aufgetaucht.«
»Ich glaube nicht, dass du dich in der Nähe von einem Geist oder dem Tod aufgehalten hast. Ich wette, du warst von lebendigen Menschen umgeben.«
Ihr Kinn bebte. »Als ich mit Tante Maggie diesen Autounfall hatte, habe ich geschrien. Da habe ich den Schattenmann, meinen Vater, gesehen. Ich habe mich sehr lange gefragt, wieso ich überlebt habe, während alle, die mir lieb waren, gestorben sind.«
Der Grund schien offensichtlich, Adam sprach ihn dennoch aus. »Du hattest eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Deine Zeit war noch nicht gekommen.«
»Und was nun? Bringst du mich zum Time Square, und ich lasse ihn raus?« Sie lachte bitter.
Als er den blanken Schmerz in ihren Augen sah, empfand Adam Bedauern – nicht, weil sie Sex gehabt hatten, nicht mehr – aber wegen allem anderen. Allem, was sie erlitten hatte und was sie dennoch nicht davon abgehalten hatte, strahlend, intelligent und stark zu sein. Sie war eine bemerkenswerte Frau – und mit ihrer Bürde deutlich besser zurechtgekommen als er mit seiner.
Er konnte unmöglich schönreden, was zwischen ihnen geschehen war, sondern musste ihr die Wahrheit sagen. Das war er ihr schuldig.
Sie musste die Veränderung in seinen Augen bemerkt haben, denn sie griff wieder nach dem Buch, schlug irgendeine Seite auf und legte hochkonzentriert die Stirn in Falten. »Hier sind ein paar sehr interessante Volksmärchen festgehalten …«
»Talia.« Als sie den Kopf nicht hob, packte Adam das Buch und ließ es auf den Boden fallen. Ihre Handflächen, die jetzt leer waren, zitterten. Er legte seine eigenen Hände in ihre und umfasste sie.
»Talia, hör mir zu. In einer anderen Welt, zu einer anderen Zeit hätten wir irgendwie zueinanderfinden können. Aber das ist jetzt nicht möglich … ich weiß, dass du das verstehst. Ich hätte nie zulassen dürfen, dass es so weit kommt. Es tut mir leid …«
Ihr Kopf zuckte nach oben, ihre Augen blitzten. »Mir tut es nicht leid. Ich bin das Kind des Todes, und dieser Krieg wird uns wahrscheinlich beide das Leben kosten. Ich bereue nicht eine Minute, dass ich mich für das Leben entschieden habe. Ich weiß jetzt, was ich bin, und habe eine ungefähre Vorstellung davon, was ich tun soll. Ich hätte die ganze Zeit über leben können, leben sollen.«
Er strich mit den Daumen über ihre Handflächen – sie fühlten sich seidig, weich und warm an. Es wäre ganz einfach, seine Hände über ihre glatten Arme gleiten zu lassen, sie auf seinen Schoß zu ziehen und über ihre weiche Haut zu wärmeren Stellen ihres Körpers vorzudringen. Mithilfe von Sex alles zu vergessen. Wenn Custo nicht jeden Augenblick hätte hereinkommen können, hätte er es vielleicht einfach getan.
Er zwang sich, sie nicht weiter zu streicheln. »Wir haben einen schwierigen Weg vor uns, und ich will dich nicht verwirren.«
Sie zog ihre Hände zurück. »Behandele mich nicht so von oben herab. Ich bin nicht verwirrt. Was ich zu tun habe, ist nicht sehr schwierig.«
Talia stand auf und trat an die Fenster über den hellen Lichtern der Stadt.
»So habe ich das nicht gemeint.« Er folgte ihr und begegnete in der nachtdunklen Scheibe ihrem Blick. Und einfach so waren sie wieder dort, wo sie vor einer Stunde angefangen hatten. Sein Körper erinnerte sich und war gegen seinen Willen erregt.
»Es ist okay. Ich bin okay. Ich werde tun, was getan werden muss. Ich habe mein ganzes Leben nach einem Grund gesucht, wieso ich anders bin. Jetzt habe ich ihn gefunden. Ich wurde geboren, um den Geisterkrieg zu beenden.« In ihrem Spiegelbild wirkte ihr Gesichtsausdruck beherrscht. Zu beherrscht. Geradezu versteinert.
Adam ließ den Blick auf den Boden sinken. Wenn er sie weiterhin ansah, würde er etwas tun, das sie beide nur noch mehr verwirren würde.
Und sie hatte recht. Sie musste etwas tun. Jacob war immer noch dort draußen. Er und derjenige, der ihn erschaffen hatte, mussten sterben.
Adam hob den Kopf. »Custo wird bald hier sein. Ich muss ein paar Sachen zusammenpacken und die Bestände überprüfen.«
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Talia beobachtete, wie Adam sich in einen rückwärtigen Raum zurückzog, angeblich, um die Bestände zu prüfen, aber eigentlich wohl eher, um von ihr wegzukommen. Sie empfand die Distanz zwischen ihnen als erleichternd und enttäuschend zugleich. Wenn die Unterhaltung anders verlaufen wäre, und das wäre sie, wenn sie es nur zugelassen hätte, gäbe es jetzt überhaupt keine Distanz zwischen ihnen. Absolut keine. Dass er gegangen war, verursachte ihr körperliche Schmerzen; Magenkrämpfe, die bis in ihr Herz strahlten.
Es hätte alles anders sein können.
In einer anderen Welt, zu einer anderen Zeit, hatte er gesagt. Darin bestand genau das Problem. Selbst, wenn sie die nächsten vierundzwanzig Stunden überlebten, stammten sie buchstäblich aus unterschiedlichen Welten. Die schmerzliche Wahrheit lautete, dass Leben und Tod unvereinbar waren. Die, die versuchten, beides miteinander zu vermischen, endeten als Geister – immerwährendes Leben – oder als Gespenster – immerwährender Tod. Sie war die Tochter des Todes. Adam strotzte vor Leben. Das ließ sich nicht vereinbaren. Sie waren nicht kompatibel.
Vielleicht hatte Tante Maggie ihr als Kind zu viele Märchen vorgelesen. Märchen, die von Magie erzählten, von Küssen und von Wünschen. Vom Glück bis in alle Ewigkeit und davon, dass die Liebe Widerstände überwinden konnte. Tante Maggie war durch und durch eine Romantikerin gewesen, aber vielleicht hatte sie auch so viel Wert auf diese Geschichten gelegt, weil sie wusste, wie Talia gezeugt worden war. Was hatte ihre Mutter Maggie wohl über ihren Vater erzählt? Talia hatte viele Male gefragt, aber nie eine klare Antwort erhalten. Im Angesicht ihres neu erworbenen Wissens, schienen Tante Maggies Märchen nicht so verkehrt.
Das Buch, das Jim ihr gegeben hatte, behauptete noch etwas anderes, das sie Adam gegenüber noch nicht auszusprechen wagte. Die Feen waren ein eigenes Geschlecht – alte, langsam vergehende Geister der Erde, denen der Zugang zum Himmel versperrt war und die, abgesehen von gelegentlichen Ausflügen in die Welt der Sterblichen, für immer im Jenseits ausharren mussten. Instinktiv spürte sie, dass es für sie und Adam keine andere Welt und keine andere Zeit als das Jetzt gab.
Wenigstens konnte sie ihm ihren Schrei geben und dadurch hoffentlich Frieden stiften.
Die Waschmaschine summte, der Waschgang war beendet, und Talia riss sich vom Anblick der Stadt los, um die Kleidung in den Trockner zu werfen.
Sie wandte sich zum Flur um, entdeckte auf dem Sofa das Buch und überlegte, dass sie es wegstecken sollte, falls Adam beschloss, weitere Nachforschungen anzustellen. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war …
In ihrem Rücken ertönte ein Knall. Erschrocken warf sie die Arme nach oben und legte sie schützend um ihren Kopf.
Nach dem ersten Schreck wirbelte sie zum Fenster herum und entdeckte ein Loch von der Größe eines Apfels, von dem aus sich weiße Risse über die Scheibe zogen. Hinter dem Loch lag die dunkle New Yorker Nacht. Sie nahm den seltsamen Geruch von verbranntem Metall wahr. Aber bevor sie die Ursache herausfinden konnte, folgte ein zweiter Einschlag, und etwas sauste an ihr vorbei und blieb im Sofa stecken. Scherben flogen über den Boden.
Ihr Herz hämmerte wie wild, ihr Atem ging stoßweise. Sie drehte sich um und rannte den Flur hinunter. Hinter ihr bildete sich Rauch, der ätzend nach Chemie und irgendwie … falsch roch. In einem Ausmaß falsch, dass er die normale Welt verdrängte. Das spürte sie mit jeder kranken Zelle ihres Körpers.
Sie versuchte, durch ihre zusammengebissenen Zähne zu atmen. Der Gestank verursachte ihr einen bitteren Geschmack im Mund. Ihre Augen tränten heftig. Und sie rieb mit Händen und Handgelenken darüber.
Bei einem dritten Knall sank sie auf die Knie nieder und kauerte inmitten von aufsteigendem Dampf. Ihr Körper schrie nach Luft. Sie riskierte einen Atemzug und würgte, als ein brennender Schmerz ihre Nase versengte und in ihren Lungen brannte.
Mit dem Stoff ihres T-Shirts bedeckte sie Mund und Nase und versuchte zu atmen. Ihr Hals schmerzte.
»Talia!« Adam brüllte mit tiefer Stimme.
»Hier!«, krächzte sie. Sterne glitten am Rand ihres Sichtfeldes vorbei. Mehr Luft!, schrie ihr Körper. Der Reflex übernahm die Kontrolle, und sie atmete flach ein. Schmerz.
Ein Arm legte sich um sie und zog sie nach oben. Adam. Sie erkannte seinen starken Körper, die Linie seines Arms, seine Wärme. Zusammen bewegten sie sich durch den Raum, wobei sie keine Ahnung hatte, in welche Richtung, bis Adam eine Tür auftrat und sie von Licht geblendet wurde.
Ein Lagerraum. Offene Kartons. Waffen. Seine angebliche Überprüfung der Bestände.
Sie versuchte ein paarmal, vorsichtig etwas Luft einzuatmen, um Sauerstoff in ihr Blut zu pumpen und wieder klar sehen zu können. Ihr Hals und ihre Lungen waren rau.
Adam schlug die Tür zu und rannte zum anderen Ende des Raums. Auf einer Tastatur gab er etwas ein. Eine Geheimtür glitt zur Seite und brachte einen winzigen Raum zum Vorschein, kleiner als ein Kleiderschrank, gerade groß genug für zwei.
»Kannst du stehen?« Adams Stimme klang tief und schroff. Wütend. Sie entsprach genau den Gefühlen, die sie bei ihm wahrnahm.
Sie nickte, obwohl sie es nicht wusste.
Ihr Atmen entwickelte sich zu einem unregelmäßigen Keuchen, und ihr wurde leicht schwindelig. Sie legte eine Hand auf ihre Brust, aber es half weder dabei, Luft in ihre Lungen zu pumpen, noch den Schmerz zu lindern.
Er ergriff ihre Hand, zog sie hinein und drückte den zweiten von zwei nicht weiter gekennzeichneten Knöpfen. Die Dringlichkeit seiner Berührung trieb sie an. Bloß weg hier. Ganz schnell.
Bei der plötzlichen Abwärtsbewegung wurde Talia übel. Sie befanden sich in einem Aufzug. Ein Geschoss, das nach unten raste.
»Bist du okay?« Adam fasste ihr Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich herum. Sein Ausdruck war beherrscht, aber seine Gefühle schienen eine Mischung aus Sorge und Schock zu sein. Die Gefühle, die sie bei ihm wahrnahm, trieben sie weiter; wenn sie irgendwie konnte, würde sie ihm nicht noch mehr Sorgen bereiten. Mit seiner freien Hand hob er eines ihrer Lider, um ihre Pupillen zu sehen, dann bewegte er einen erhobenen Finger in einem Bogen vor ihren Augen hin und her, um ihre Reaktionsfähigkeit zu testen.
»Ja.« Ihre Antwort war ein raues Schnarren, mehrere Oktaven tiefer als ihre übliche Tonlage. Und es schmerzte.
»Verdammt.« Adams Gesicht lief rot an, nur um seinen angespannten Mund herum bildeten sich weiße Flecken. »Du siehst furchtbar aus. Das muss eine Art chemischer Waffe aus einer Spraydose gewesen sein. Giftgas vielleicht.«
Gemischt mit etwas Schlimmerem. Etwas Üblem aus dem Jenseits. Aber das sagte Talia nicht.
» … okay.« Ich bin okay, hatte sie eigentlich sagen wollen, aber das erste Wort hatten ihre unkooperativen Stimmbänder verschluckt. Das war eine Lüge, was auch Adam klar sein musste. Was sie meinte, war, dass sie weitergehen würde, bis sie nicht mehr konnte. Er musste für medizinische Hilfe sorgen. Am besten sofort.
Der Aufzug hielt abrupt an, was eine Herausforderung für ihre weichen Knie darstellte. Adam schob Talia hinter sich, stellte sich schützend vor sie, zog seine Waffe und drückte einen Knopf. Die Tür glitt auf.
Eine unbestimmten Lichtquelle erhellte schwach die Dunkelheit dahinter. Nachdem Talia ein paar Mal vorsichtig eingeatmet hatte, nahm sie einen nassen widerlichen Gestank wahr. Sie vergrub ihr Gesicht an Adams Schulter. Es konnte sich nur um einen einzigen Ort handeln. Den Abwasserkanal. Eine räudige Ratte sauste an der Aufzugtür vorbei.
»Wir müssen gehen. Wir müssen ein sicheres Versteck finden.« Adam klang, als würde er zu sich selbst sprechen. Er trat hinaus in den Tunnel und blickte in beide Richtungen, als wäre er unsicher, in welche Richtung des stinkenden Ganges er gehen sollte.
Es war seltsam, Adam ratlos zu sehen. Adam, der für alles eine Lösung hatte, Adam und seine unzähligen Sicherheitsvorkehrungen. Nicht dass sie ihm das vorwarf – niemand konnte auf alles vorbereitet sein. Er hatte bereits so viel getan, indem er den ganzen Geisterkrieg auf seine Schultern geladen hatte.
»Ach, zum Teufel«, sagte er und zog sie nach links. »Das Loft hätte sicher sein müssen. Es steht in keiner Verbindung zu Segue. Trotzdem haben sie es gefunden. Wie haben die das gemacht?«
Talia wusste, dass er sie nicht wirklich fragte. Ihre Aufgabe war es weiterzuatmen, und sie verwandte ihre gesamte Konzentration darauf. Nur so konnte sie ihm helfen.
»Wenn sie uns finden, Talia, dann lauf weg und versteck dich. Verstanden? Du rennst weg und versteckst dich. Du machst diese Sache mit den Schatten und bringst dich in Sicherheit. Ich versuche, sie so lange wie möglich aufzuhalten.«
Er stützte sie, indem er seinen linken Arm unter ihre Schultern schob. Der unangenehm lange, dunkle Tunnel war glatt von jener Art Feuchtigkeit, die niemals trocknete und in den Wänden hing. Der Müll zu ihren Füßen, durchweichtes Zeitungspapier und nicht zu identifizierende Abfälle, hatte sich damit vollgesogen. Nur ein leuchtend weißer Plastikbecher aus einem Imbiss schien dem Schlamm standzuhalten.
Adam blieb an einer rostigen Metallleiter stehen, die in die Betonmauer eingelassen war, und starrte auf einen Gullydeckel darüber.
»Was ist …«, krächzte Talia. Sie meinte Was ist mit Custo?, der sie in dem Loft hatte treffen sollen. War er wie Spencer zum Verräter geworden und hatte den Angriff gesteuert, oder lief er ahnungslos den Angreifern in die Arme?
Adam drehte sich abrupt zu ihr um. »Still. Nicht reden. Du musst deine Stimme schonen. Sie muss heilen. Du bist erst sicher, wenn sie geheilt ist. Niemand ist sicher, ehe du geheilt bist.«
Voller Panik begriff Talia. Man hatte ihren Schrei verstummen lassen, ihre großartige Waffe.