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Adam griff nach der Marmorbrüstung, die auf den Garten hinausging. Wenn Jacob ihn bis an den Rand des Wahnsinns gebracht hatte, trieb Talia ihn jetzt darüber hinaus. Sie sollte sich wie ein Bücherwurm verhalten, sich in ihr Büro zurückziehen und ihren beeindruckenden Intellekt dazu nutzen, eine gut durchdachte Theorie zu entwickeln, die sie auf Hunderten eng beschriebener Seiten nachwies.

Stattdessen fand sie heraus, was Jacob für eine verdammte Entscheidung getroffen hatte, in deren Folge Adams Familie vernichtet worden war. Dann, keine zwei Stunden später, eröffnete sie ihm, dass einige Leute in seltsamer Verbindung zu dem Schattenmann standen. Ihrem Vater zu allem Überfluss. Die Kunstwerke zeigten, dass er irgendwo gefangen war und nichts gegen die wachsende Bedrohung durch die Geister unternehmen konnte.

Und sie hatte ihm Bilder geschickt. Was für Bilder! Hatte er nicht brav und anständig jede Vorstellung ihres nackten Körpers aus seinen Gedanken vertrieben, seit er ihr in Arizona die nassen Kleider vom Leib geschnitten hatte? Okay, jedenfalls die meisten.

Wozu die tägliche Schinderei in Segue, wenn Talia ihn sehnsuchtsvoll in kräftigen Farben von einer Leinwand ansah? Natürlich hatte er bereits ein Gebot für das Werk abgegeben.

Talia. Die Schlafende Schöne. Aurora. Sie war ein Lichtstreif. Überraschend, nicht vorhersehbar, schillernd. Sie leuchtete herrlich im Dunkeln und war in der Lage, ein Feuer zu entfachen.

Und er verhielt sich wie ein Trottel und fiel rücksichtslos über sie her verdammt, er hatte sich mit ihrem zarten Körper von Jacob und dem ganzen Albtraum mit den Geistern ablenken wollen. Er hatte alles verdorben.

Der Gedanke löste eine Panikwelle in ihm aus, die seine Lust dämpfte. Er sollte ihr nachgehen. Alles wieder in Ordnung bringen.

Adam überquerte die Terrasse und blieb abrupt stehen, um ihr heruntergefallenes Haargummi aufzuheben. Er spannte das feste, dünne Band um zwei Finger, führte es an seine Nase und roch daran. Es duftete frisch und feucht. Er rollte das Gummi über seine Finger zu seiner Handfläche hinunter. Auf seltsame Art und an Talia war alles seltsam verband ihn das Band mit ihr. Die Spannung fühlte sich gut an.

Er folgte ihr hinein. Es dauerte einen Moment, bis der Aufzug kam wahrscheinlich setzte er sie gerade auf ihrer Etage ab.

Als der Fahrstuhl da war, trat er ein und streckte die Hand aus, um ihre Etage zu drücken, hielt bei dem Anblick des schwarzen Gummibandes in seiner Hand jedoch inne und schob es zu seinen Fingern hoch.

Es war so klein, so straff. Es verstärkte sein Begehren. Fand er etwa jetzt, wo der Geisterwahnsinn seinen Höhepunkt erreichte, die Lösung für sein Rätsel und zugleich eine unvergleichlich begehrenswerte Frau? Und das auch noch zusammen in einer Person?

Ach, zum Teufel. Er senkte die Hand und drückte stattdessen die zweite Etage.

Er würde kurz in seinem Büro haltmachen und sich dann einen heftigen, anstrengenden Lauf auferlegen, bis er sich wieder selbst trauen konnte.

Am Ziel angekommen, öffnete der Fahrstuhl die Türen. Adam stieg aus und fand sich Custo gegenüber, der vom anderen Ende des weißen Flurs auf ihn zukam. Wahrscheinlich wollte er ins Bett gehen.

»Custo, komm mit«, sagte Adam, als er auf dem Weg zu Pattys Labor an ihm vorbeikam. Was spielte es schon für eine Rolle, dass Custo vor Erschöpfung ganz verhärmt aussah. Sie konnten gemeinsam leiden.

Adam gab den Code zu Pattys Labor ein, Custo folgte ihm wortlos. Patty hatte gesagt, dass sie heute Abend lange arbeiten würde, und so war es. Sie saß über ein Mikroskop gebeugt und richtete sich auf, als er auf sie zukam.

Ihr Blick glitt zu Custo, dann wieder zu Adam. »Was ist los?«

Adam sah aus den Augenwinkeln, dass Custo mit den Schultern zuckte. »Das würde ich auch gern wissen.«

»Ich muss mit euch sprechen«, sagte Adam. »Was ich zu sagen habe, muss unter uns bleiben.«

Custo beugte sich auf dem Labortresen nach vorn. Patty rollte mit ihrem Schreibtischstuhl von dem Mikroskop zurück. »Natürlich.«

Adam rieb sich mit der Hand das Gesicht. Wo sollte er anfangen?

»Ich habe neue Informationen. Eigentlich zu viele Informationen.« Er durfte keinem von beiden von dem Ritual berichten, das Philip entdeckt hatte. Es war ihnen durchaus zuzutrauen, dass sie etwas Dummes anstellten, wie etwa ihr eigenes Leben für Adam zu opfern, bevor er dazu kam, seines für Jacob herzugeben.

»Wieso habe ich das Gefühl, dass es mir nicht gefallen wird?« Patty verzog ihren Mund zu einem schiefen Strich.

»Weil es unser Leben deutlich komplizierter macht«, erwiderte Adam.

»Erzähl«, sagte Custo.

Adam holte tief Luft. »Talia steckt mittendrin in diesem Schlamassel mit den Geistern. Sie und ihr Vater, der Schattenmann.«

»Der Schattenmann ist ihr Vater?« Patty zog die Brauen zusammen.

Adam ahnte, was sie dachte. Sie wollte sich die anormale DNA noch einmal genauer ansehen. Und er würde ihr dabei über die Schulter schauen.

»Talia ist zumindest davon überzeugt, und ihre physischen Abweichungen sprechen für diese Verbindung. Als sie fünfzehn Jahre alt war, geriet sie zusammen mit ihrer Tante Margaret O’Brien in einen Autounfall. Ihre Tante starb, und Talia erlebte die Nahtoderfahrung, die sie zu ihrer Arbeit inspiriert hat. Sie behauptet, es habe einen kurzen Augenblick des ›Übertritts‹ gegeben, in dem sie den Schattenmann gesehen habe und instinktiv wusste, dass er ihr Vater ist.«

»Weiß sie sonst irgendetwas über den Schattenmann? Wo er sich aufhält?« Das war Custo, er kam direkt zum Kern.

»Was er ist?«, ergänzte Patty.

»Nein. Zumindest hat sie das gesagt, und nachdem sie ausnahmsweise so offen war, wollte ich nicht auf diesem Punkt herumreiten. Aber sie glaubt, er würde vielleicht versuchen, Kontakt mit ihr aufzunehmen.«

Custo stieß sich von dem Tisch ab. »Wie das?«

»Talia hat auf eigene Faust nach dem Schattenmann gesucht. Und hat ihn in diversen künstlerischen Darstellungen entdeckt. Dieselbe Gestalt taucht in unterschiedlichen Kunstwerken auf Gemälden, Skulpturen und Ähnlichem, alle tragen seinen Namen. Ich kann euch zeigen, was sie gefunden hat.«

»Vielleicht findet sich in den Bildern irgendein Hinweis auf seinen Aufenthaltsort«, sagte Custo.

Adam hatte über den Bildern gebrütet sie waren alle surreal und unbestimmt, es fehlten konkrete Details, selbst das Gesicht vom Schattenmann war undeutlich.

»Das ist nicht alles. Talia hat auch Kunstwerke von sich selbst gefunden.«

»Ach herrje«, sagte Patty. »Das arme Mädchen.«

»Einige Bilder« das Aktbild beispielsweise »zeigen nur sie. Auf anderen ist dargestellt, wie sie mit anthropomorphen Monstern kämpft, vor ihnen flüchtet oder sich vor ihnen fürchtet.«

»Geister«, schloss Custo.

»Ja. Und wir müssen davon ausgehen, dass das Kollektiv sich dessen ebenfalls bewusst ist, denn schließlich haben sie sie monatelang verfolgt.«

»Ist sie etwa dazu ausersehen, die Welt vor den Geistern zu retten?« Custo gab sich keine Mühe, seine Skepsis zu überspielen.

»Wir müssen ihr helfen«, sagte Adam. »Wir müssen sie um jeden Preis schützen. Wir müssen sie fördern, sie trainieren und dafür sorgen, dass sie sich Segues Unterstützung sicher ist. Dass wir ihr all unsere Mittel zur Verfügung stellen.«

Er blickte auf das Gummiband an seinen Fingern. Er musste die Beziehung zu ihr auf einer rein professionellen Ebene halten. Schließlich konnte er sie nicht gut beschützen, wenn er auf ihr lag. Oder unter ihr. Oder in ihr war. Sein Mund wurde trocken. Er schob das Gummi von seiner Hand und steckte es in die Tasche.

»Noch etwas«, fuhr Adam fort. »Wenn mir irgendetwas zustoßen sollte «

Patty runzelte die Stirn und hob abrupt die Hand. »Solche Gespräche mag ich nicht.«

»Das ist schade« schade für alle. »Es ist eine Tatsache, dass es bei diesem Kampf um Leben und Tod geht. Wenn mir etwas zustoßen sollte, müsst ihr zwei sie weiterhin mit allen Mitteln unterstützen. Ich möchte, dass ihr mir das versprecht.«

Custo zog die Augen zusammen, nickte aber knapp.

Adam blickte über den Tisch hinweg. »Patty?«

»Ich unterstütze sie sowieso. Ganz egal, ob du am Leben bist oder nicht.«

Patty reagierte auf ihre übliche freche Art, aber Adam war nicht zum Lachen zumute.

»Okay.« Adam nickte. »Das ist alles.« Nun würde er laufen. Möglichst schnell und möglichst weit, damit er nichts Dummes mehr anstellte. Wie etwa in den vierten Stock hinaufzuwandern.

»Adam?« Custo hob eine Braue.

»Was?«

»Du hast uns nicht alles gesagt.«

»Das werde ich auch nicht.« Adam wandte sich von ihnen ab und ging zur Tür.

t

Talia stieg auf das Dach hinauf. Sie glaubte, dass Adam dort zuletzt nach ihr suchen würde, denn sie war selbst noch nie zuvor hier oben gewesen. Sie hatte gedacht, dass es dort friedlich wäre, aber es war laut, ein dröhnender Generator störte die Nachtruhe. Sie hatte angenommen, dass die Luft so nah am Himmel köstlich duftete, aber sie verströmte einen leicht mechanischen, öligen Geruch, in den sich Zigarettenqualm mischte.

»Jim sagt, dass es auf dem Dach spukt. Er behauptet, er spüre dort eindeutig einen kalten Fleck. Dort neben der Dachrinne, von dort aus hat sich jemand in den Tod gestürzt.«

Talia fuhr herum, als sie Spencers Stimme erkannte. Er lehnte an einer Art grauer Trennwand und rauchte. Er schnippte mit dem Daumen die Asche von seiner Zigarette, die daraufhin auf ihre Füße herabregnete. Hinter ihm stieg das Dach in einem malerischen Bogen an. Unter ihnen wand sich die Terrasse um das Erdgeschoss des Hotels, sodass es wirkte, als würde das Gebäude auf einer weißen Scheibe über der Erde schweben.

Sie schluckte ihre Überraschung hinunter. »Bislang haben mich die Gespenster in Ruhe gelassen. Ich glaube, ich kann das Risiko eingehen.«

»Ich glaube auch nicht an sie.« Er zog lange an seiner Zigarette und ließ den Rauch seitlich aus seinem Mund entweichen. »Beziehungsstress? Es sah aus, als hätten Sie beide da unten einen kleinen Streit gehabt.«

Talia errötete. Sie wandte sich zur Tür um. In diesem verdammten Hotel konnte sie nirgends hin.

»Sie wissen, dass Sie verschiedene Optionen haben, oder?« Spencers Stimme klang freundlich und hilfsbereit, aber Talia hatte immer noch nicht das Gefühl, ihm vertrauen zu können. Sie konnte niemandem trauen.

»Was meinen Sie?«

Spencer legte den Kopf schief. »Ich frage mich, ob Sie wissen, dass Adam eine Akte über Sie führt.«

Der Begriff Akte störte sie, als wäre sie ein Objekt, ein Fall, den man untersuchte. Aber Adam hatte kein Hehl aus seiner Neugierde und seinen Fragen gemacht. Sie hatte ihm gezeigt, wozu sie in der Lage war. Und ihn über ihre Verbindung zum Schattenmann aufgeklärt. Sie hatte ihm sogar die Bilder von sich gezeigt. Jeder gute Wissenschaftler würde daraufhin detaillierte Aufzeichnungen machen, und diese bewahrte man in einer Akte auf. Also ignorierte sie das unangenehme Wort.

»Ja, Tests Ihrer DNA et cetera.«

Talia spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Dazu hatte sie nicht ihre Zustimmung gegeben.

»Aber was mir wirklich auf den Wecker gehen würde, ist die Videoüberwachung, die Adam in ihrer Wohnung installiert hat.«

Jetzt fühlte sie sich elend.

»Sie glauben mir nicht?« Spencers Augen funkelten, während er ein weiteres Mal an seiner Zigarette zog. »Sie schlafen in T-Shirt und Slip, mehr nicht. Und am Ende der Nacht sind die Laken am Bettende zusammengeknüllt, sodass Ihr hübscher Bauch «

»Seien Sie still.«

»Zumindest glauben Sie mir jetzt. Die Dinge sind hier nie das, was sie zu sein scheinen.« Er drückte die Zigarette mit dem Fuß auf dem Beton aus.

»Nehmen wir zum Beispiel Sie«, fuhr Spencer fort, und als sie sich von ihm entfernte, sprach er lauter weiter. »Sie sehen aus wie ein Mensch, verhalten sich wie ein Mensch, sind aber keiner.«

Sie schlang die Arme fester um ihren Körper. Offenbar hatte er ihr etwas zu sagen. Und alles sprach dafür, dass sie es sich lieber anhören sollte.

»Als Abgesandter des IBÜ muss ich allem nachgehen, was hier vor sich geht. Ich nehme an, dass Adam sich Ihnen gegenüber genauso verschwiegen gezeigt hat wie mir.«

Talias Augen brannten. Adam war krank. Pervers. Er hatte so lange mit einem Monster zusammengelebt, dass er selbst zu einem geworden war.

»Sie müssen nicht hierbleiben. Durch das IBÜ haben Sie andere Möglichkeiten. Vor allem sind Sie nicht allein. Dort draußen gibt es noch andere wie Sie, sie sind in alternativen Einrichtungen untergebracht. Bei uns ist es nicht so komfortabel wie in Segue. Die Einrichtung ist ziemlich altmodisch, aber zumindest wissen Sie, woran Sie sind. Ihre Rechte werden geschützt. Ihre Privatsphäre. Es ist nicht das beste Leben, aber es ist zumindest ehrlich.«

Ehrlich. Sehr witzig. Sie konnte niemandem trauen.

»Es genügt ein Wort, und schon sind Sie hier weg. Kein Problem. Sie werden ganz einfach auf das IBÜ-Gelände gebracht.« Spencer wedelte mit den Händen wie ein Zauberer, kurz bevor es Puff macht.

Talias Kopf arbeitete auf Hochtouren. Sie konnte allein von hier fliehen und sich einen Vorsprung verschaffen. Aber nicht nach Arizona oder Vegas. Sie musste einen kleinen Ort irgendwo im Nirwana finden, weit weg von anderen Menschen. Sie hatte genug von ihnen.

»Ich denke darüber nach.«

»Nein. Sie haben sich doch bereits entschieden. Sie wollen den steinigen Weg gehen.«

Spencer schritt auf sie zu und blieb neben ihr stehen. Zu dicht. »Mit einer Sache hat Adam recht. Es kommt ein Geisterkrieg auf uns zu. Auf Dauer werden wir nirgends auf diesem Planeten sicher sein. Bedenken Sie das.«

Er riss die Tür auf und ließ sie allein in der Nacht zurück.