7
»Raus.« Die Sicherheitsbeamten sahen kurz in Adams Gesicht und verließen augenblicklich den Vorraum zu Jacobs Zelle.
Eine plötzliche Bewegung auf dem Bildschirm erregte Adams Aufmerksamkeit. Jacob war aufgestanden und fuhr sich in dem Bemühen, seine wilde Mähne unter Kontrolle zu bringen, mit den Händen durch die Haare. Dann bewegte er sein Gesicht vor die Kamera und ahmte die elegante, servile Geste eines Butlers nach. Womit kann ich dienen? Immer machte er sich über ihn lustig.
»Du hast dich freiwillig dazu entschlossen.« Adam ließ die Hände auf die Konsole sinken, um sich abzustützen.
»Wie meinen?« Jacob neigte den Kopf, als versuchte er zu verstehen, was Adam sagte.
Er hielt sie beide zum Narren. Damit war ab jetzt Schluss.
»Du hast dich freiwillig dazu entschieden, zu diesem Monster zu werden«, stellte Adam klar und betonte sorgfältig jede Silbe. »Dein Zustand ist keine neue Krankheit oder die überraschende Folge einer exotischen Droge, und du bist auch nicht von irgendetwas besessen. Du hast dir das ausgesucht. Du willst das.«
»Und?« Jacob blinzelte schnell, um zu demonstrieren, wie unendlich geduldig er mit Adams Dummheit war.
Und Adam fühlte sich tatsächlich dumm. Der Gedanke, dass Jacob, der Spross der Familie Thorne, dieser umsichtige Geschäftsmann und Philanthrop, sein verdammter großer Bruder, sich freiwillig dazu entschlossen hatte, ein Monster zu werden, war ihm nie in den Sinn gekommen. Der Mann, den Adam gekannt hatte, war geistreich, furchtlos und stolz darauf, die Verantwortung für das Erbe der Familie Thorne zu tragen. Diese Entartung war unter seiner Würde.
»Wieso?«, krächzte Adam heiser, seine Kehle wie zugeschnürt.
Jacob richtete sich auf. »Sei nicht dumm.«
»Du hast Mom und Dad umgebracht. Mit Absicht.« Wie das Blut aus einer offenen Wunde strömte frischer Schmerz durch Adams Brust.
»Hör auf zu jammern. Sie wären sowieso irgendwann gestorben.«
»Du hast sie ausgesaugt«, entgegnete Adam mit zusammengebissenen Zähnen.
»Wie ein Baby an der Brust seiner Mutter.« Jacob seufzte und grinste.
Hundert wunderbare Arten von Folter, die Adam die ganzen Jahre über lediglich aus Pflichtgefühl seiner Familie gegenüber unterdrückt hatte, nahmen jetzt in seiner Vorstellung Gestalt an.
Aus der Verzweiflung geborene Fantasien wucherten in Adams Kopf wie ein düsterer Garten voll wilder Pflanzen, denen man zu lange die Nährstoffe entzogen hatte. Schillernde Vorstellungen, wie man Jacob in eine Falle locken und ihm beibringen konnte, was ein echtes Monster war. Wie man Schmerz und Einsamkeit ins Unerträgliche steigern konnte. Handlungen, die es mit einem Seelen fressenden Geist an Grausamkeit aufnehmen konnten.
Zuallererst musste Adam herausfinden, wieso. »Dir hat es an nichts gemangelt. Du wurdest in wohlhabende Verhältnisse hineingeboren, hast die beste Erziehung genossen, hattest eine liebevolle Familie, die Möglichkeit, alles zu tun, was du dir je erträumt hast, eine Freundin, die dich geliebt hat. Zum Teufel, du hattest Pläne, hast jahrelang daran gearbeitet, Thorne Industries zum weltweiten Marktführer zu machen. Warum?«
Jacob zuckte mit den Schultern. »Ich habe ein besseres Angebot erhalten.«
»Was könnte besser sein als das, was du hattest?« Du undankbarer Mistkerl.
»Ich habe die Ewigkeit bekommen. Das …« Jacob blickte sich in seiner Zelle um und schürzte missbilligend die Lippen. »… das hier geht irgendwann vorüber. Die Welt, wie wir sie kennen, wird eines Tages nicht mehr existieren, und wenn alles fort ist, werde ich immer noch hier sein. Dann kann ich tun, was ich will, wann immer ich will. Das ist die Weltmacht.«
»Erzähl mir, wie du es gemacht hast.«
»Du weißt genau, dass ich das nicht tun werde.«
»Was, wenn ich mich dir anschließen will?«
Jacob schnaubte verächtlich. »Du verfügst nicht über die nötige Weitsicht. Du bist mit Jena und Michael in der Vergangenheit gefangen.«
»Das waren deine Eltern«, stieß Adam hervor.
»Siehst du, was ich meine?«
Die Wut brannte in Adams Brust, in der Wunde, die der Verlust seiner Eltern in ihm hinterlassen hatte. »Ich bringe dich um. Das schwöre ich dir. Ich finde einen Weg, diesen Unsinn mit der Unsterblichkeit rückgängig zu machen, und werde dich mit bloßen Händen in Stücke reißen.« Ihm juckte es bereits in den Fingern, brannte vielmehr, den Irrsinn in seinem Kopf in die Tat umzusetzen.
»Spricht man so mit seinem großen Bruder?«
Bruder? Wie konnte diese … diese Kreatur sich selbst als Bruder bezeichnen? Nur weil er dieselben Gene hatte? Da war Adam anderer Meinung. Nicht mehr. Geschwister konnten sich gegenseitig verstoßen. Jegliches naturbedingte Gefühl von Verbindung oder Verpflichtung war wie abgeschnitten. Das passierte ständig.
Adam schloss die Augen und lenkte seine Gefühle von dem Geist in der Zelle ab. Das war nicht sein Bruder. Er bemühte sich um kühle Gleichgültigkeit. Wollte überhaupt nichts mehr fühlen. Das war nicht sein Bruder.
Jacob lachte. Ein hohes, höhnisches Lachen. Damit goss er Öl ins Feuer und machte ihn nur noch wütender.
Adam schluckte. Er musste hier weg.
Er taumelte zur Tür, gab den Code in die Konsole ein und stolperte in den dahinterliegenden Flur.
Die Sicherheitsbeamten huschten schweigend an ihm vorbei und nahmen wieder ihren Posten ein.
An der gegenüberliegenden Wand erwartete ihn Custo mit vor der Brust verschränkten Armen.
»Wieso bist du noch hier?«, schrie Adam. »Wieso führst du nicht dein eigenes Leben, weit weg von diesem unendlichen Albtraum? Such dir eine Frau, lass dich irgendwo nieder und hab eine Horde Kinder.«
»So schlimm, hm?« Custo senkte den Blick.
»Talia hatte recht. Er hat sich freiwillig entschieden, ein Geist zu werden. Er hat es offen zugegeben, als hätte ich es schon die ganze Zeit wissen müssen. Und damit hat er recht.« Adam ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Sie zitterten unkontrollierbar. Er wusste nicht, was er mit ihnen tun sollte, außer Jacob zu würgen.
»Nein, du nicht. Es entspricht nicht deinem Charakter, von einer dir nahestehenden Person anzunehmen, dass sie mit Absicht so grausam ist. Du rettest Menschen. Das ist deine Aufgabe. Das hast du immer getan.«
Ich war blind.
»Hast du es gewusst?«, fragte Adam. Hatte Custo etwa die ganze Zeit über Bescheid gewusst?
Custo stieß sich von der Wand ab und deutete auf den Fahrstuhl. »Nein, aber das ist egal. Ich bin nicht seinetwegen hier. Sondern deinetwegen. Du bist so etwas wie meine Familie für mich. Und an seiner Familie hängt man. Das hast du mir jedes Mal erklärt, wenn du mir jämmerlichem Kerl wieder einmal aus der Patsche geholfen hast.« Custo verzog den Mund. »Erinnerst du dich noch an die Geschichte mit dem Boot?«
An seiner Familie hängt man. Was zum Teufel war Familie? Adam hatte absolut keine Ahnung mehr.
»Ich wollte ein Mädchen beeindrucken«, fuhr Custo fort. »Du hast die Schuld auf dich genommen.«
»Du wärst von der Schule geflogen.« Wenn Custo gerade versuchte, ihn abzulenken, versagte er auf der ganzen Linie. Adam wollte ganz bestimmt nicht in Erinnerungen schwelgen.
»Deshalb habe ich es unter anderem getan. Wenn ich geflogen wäre, hätte meine Familie mir vielleicht Beachtung geschenkt.« Custo war mit neun Jahren in ein Internat geschickt worden. Er erhielt keinen Besuch. Hatte keinen Kontakt.
»Sie haben nicht gewusst, was sie an dir hatten.«
Custo schüttelte den Kopf. »Ich versuche, dir zu erklären, dass meine Familie mir durchaus Beachtung geschenkt hat. Meine Familie war bei mir. Das war mir in dem Augenblick klar, als du den Cops erklärt hast, du hättest das Boot gestohlen.«
Adam sah Custo an. Er war seine rechte Hand. Sein Freund. Und in jeder Beziehung sein Bruder.
Adams Ärger ließ etwas nach, war allerdings immer noch stärker als das konstante Brennen, das ihn in den letzten sechs Jahren begleitet hatte. Er bekam wieder Luft, und seine Miene entspannte sich. Mit diesem Tausch konnte er leben. Verdammt, weil Custo ihn so hartnäckig unterstützt hatte, war er überhaupt auf Antworten gestoßen.
»Haben wir uns wieder eingekriegt?« Custo betätigte den Knopf des Fahrstuhls.
»Ja, ich glaube schon.« Adam versuchte, das Zittern unter Kontrolle zu bekommen, indem er seine Hände zu Fäusten ballte.
Die Türen glitten auseinander. Während er eintrat, blickte Custo sich zu ihm um. »Und übrigens, wenn jemand sich mit einer Horde Kinder irgendwo niederlassen sollte, dann du.«
Kinder in diese Welt setzen? Niemals.
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Durch den Spion in der Tür beobachtete Talia, wie Spencer zurück zum Fahrstuhl stolzierte. Sie musste etwas unternehmen. Für Adam. Oberflächlich gesehen mochte er ruhig und kontrolliert wirken, aber sie hatte seinen inneren Aufruhr gespürt, seinen Kummer und seinen Schmerz. Er war kurz davor, von der heftigen Wut, die in ihm tobte, überwältigt zu werden. Lange würde er nicht mehr durchhalten.
Und dann noch dieser Spencer mit seinem himmelschreienden Unsinn, dass Geister uns in der Evolution einen Schritt voranbrächten. Kein Wunder, dass Adam wütend auf seinen Bruder war.
Der Fahrstuhl machte Pling, Spencer trat hinein, und die Türen gingen … endlich … zu.
Talia schlüpfte aus der Wohnung, bog scharf rechts um die Ecke und entschied sich, die Treppe zu nehmen. Sie gab den Code für das Treppenhaus ein und eilte hinunter zur Hauptetage des Hotelbereiches. Die Treppe endete an der Küche. Talia wagte es, von dort den Fahrstuhl zu den Büros und Laborräumen im Untergeschoss zu benutzen. Zum Glück war er leer!
Wenn Adam bereits so viel über sie wusste, sollte er ruhig auch wissen, was sie über den Schattenmann herausgefunden hatte, über ihren Vater. Von der Forschung, die sie in der Hitze Arizonas beinahe das Leben gekostet hätte.
Darin fand sich jedoch kein Hinweis darauf, ob der Schattenmann ihnen helfen konnte, Jacob zu töten und Adam zu befreien. Sie wusste noch nicht einmal, was der Schattenmann war. War er ein Geist, wie Adam vermutete? Das schien ihr nicht richtig, noch erklärte es ihre Fähigkeiten. Und wieso sollte Jacob sich vor einem Geist fürchten?
Talia gab den Code zu ihrem Büro ein und schritt geradewegs zu ihrem Laptop.
Ein Gedanke schwirrte durch ihren Kopf: Adam brauchte – obwohl sie ihm das nie sagen würde, niemals – diesen anderen Teufel, den Tod, dieses dunkle Wesen mit den roten Augen, das aus dem schwarzen Sog ihres Schreis aufgetaucht war. Das Monster, das die Geister mit einem Schwung seiner Sense abgeschlachtet und Melanie umgebracht hatte. Und anschließend so pervers gewesen war – Talia schüttelte sich bei der Erinnerung –, ihre Wange zu streicheln.
Das Monster konnte Jacob töten. Mit Leichtigkeit. Vor ihm sollte sich Jacob fürchten.
Sie öffnete die Datei mit den Bildern, die sie auf ihrer Suche nach dem Schattenmann gesammelt hatte. Sie drückte die Tasten CTRL und A, und alle Bilder wurden geöffnet. Das war das Mindeste, das sie für Adam tun konnte.
Die Bilder blinkten eins nach dem anderen und erschienen auf dem Bildschirm. Während sie wartete, dachte sie nach und schob die Puzzleteile, die mit ihrer Abstammung zu tun hatten, hin und her:
Jacob fürchtete den Schattenmann, dem sie bei ihrem vorübergehenden Tod begegnet war und der wahrscheinlich ihre Fähigkeit besaß, die Wahrnehmung zu verändern. Töten konnte ihn aber das Monster, das sie mit ihrem Schrei herbeigerufen hatte.
Zwei Wesen, mit beiden stand sie in Verbindung. Ein erwünschter Effekt.
Die heuristische Regel aus dem Lex Parsimoniae besagte, dass die einfachste Theorie die beste war.
Wieso zwei Wesen? Das ergab keinen Sinn. Es sei denn …
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Der Raum um sie herum begann sich zu drehen, und sie klammerte sich an den Tisch vor ihr. Das konnte nicht sein, oder? War ihr Erbe so schrecklich? Ihr Geburtsrecht so verabscheuungswürdig?
Ja. Irgendwie hatte sie das immer geahnt. Deshalb war sie allein.
Wenn sie es jetzt versuchte, würde das Puzzle vermutlich aufgehen. Wenn sie den Mut aufbrachte, der Wahrheit ins Auge zu sehen, konnte sie vermutlich sagen, wer der Tod war. Es war ihr Vater, der Schattenmann.
t
Adam ließ Custo im Aufzug zurück. Während er zu seinem Büro zurückging, wuchs in ihm eine grimmige Vorahnung. Wenn Jacob sich freiwillig entschlossen hatte, ein Geist zu werden, musste ihm jemand das Angebot gemacht haben. Jacob würde die Identität dieses Individuums niemals preisgeben, aber vielleicht konnte der Algorithmus des Programms, mit dem er das Kollektiv beobachtete, so verändert werden, dass er damit den Aufenthaltsort der Quelle bestimmen konnte.
Adam bog um die Ecke und stieß auf Talia, die an seine Tür klopfte. Sein Puls ging sofort schneller. Er musterte sie von oben bis unten, aber es war schwer, eine Ahnung ihrer Figur zu erhalten, solange sie immer noch die formlose Kleidung trug, die Patty für sie ausgesucht hatte. Er hoffte, dass sie bald neue bekommen würde. Sie war zu jung und zu hübsch, um sich so zu kleiden.
»Kann ich etwas für Sie tun?« Wenn sie hergekommen war, hatte sie vielleicht keine Wut mehr auf ihn. Vielleicht konnte er sich richtig mit ihr unterhalten. Ihre Idee mit ihr durchgehen und prüfen, ob ihre einzigartigen Fähigkeiten zu irgendeiner Lösung führten.
Talia sprang auf und wirbelte herum. Strähne für Strähne rutschten ihre Haare aus einem Knoten in ihrem Nacken. Er wusste nicht, wieso sie überhaupt versuchte, die Locken zu bändigen – sie ließen es ganz offensichtlich nicht zu.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.« Adam verlangsamte seinen Schritt. Sie arbeitete erst einen Tag auf dieser Stelle, und schon hatte sie Segue aufgerüttelt. Klar, das hatte er gehofft. Er wollte Antworten, und sie hatte mit einer einzigen seine gesamte Welt auf den Kopf gestellt.
»Haben Sie eine Minute Zeit?« Sie klemmte eine Strähne hinter ihr Ohr. Ihr Blick wirkte angespannt. Vielleicht traurig. Oder besorgt. Irgendetwas beschäftigte sie.
»Natürlich. Kommen Sie herein«, sagte Adam und gab den Code ein. Er griff um sie herum nach dem Griff, um die Tür zu öffnen, wobei er sie einen Augenblick mit seinem Körper umfing. Ihr Geruch stieg ihm in die Nase, rätselhaft und süß, ein exotischer Duft, der mehr zu ihren Schatten als in das sterile Segue passte. Der Duft reizte ihn, seinen Kopf auf ihre Haare sinken zu lassen. Tief einzuatmen. Der Druck auf die Klinke ließ die Tür aufspringen, und Talia trat aus dem Halbkreis seiner Arme in den Arbeitsraum.
Es dauerte einen Augenblick, bis er wieder einen klaren Kopf hatte, dann folgte er ihr in sein Büro. Angestellte, ermahnte er sich. Er konnte nicht Gillian mit dieser Entschuldigung abblitzen lassen und dann Talia hinterherlaufen. Außerdem war Talia bereits gebeutelt genug. Sie konnte es überhaupt nicht gebrauchen, dass er ihren Aufenthalt hier noch weiter verkomplizierte. Verdammt, diese feenhaften Augen.
»Was kann ich für Sie tun?« Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Sein Blick zuckte automatisch zu dem Bildschirm – mit einem zufriedenen Lächeln lag Jacob auf dem Gesicht in einer Ecke und ergötzte sich immer noch an ihrer Auseinandersetzung – und dann wieder zu Talia.
»Als Erstes muss ich den Code zu meiner Wohnung ändern«, erklärte Talia. Sie blickte ebenfalls vorsichtig zu Jacob, sagte aber nichts. »Spencer hat zugesehen, wie ich ihn eingegeben habe.«
»Sie haben Spencer in Ihre Wohnung gelassen?« Adam hatte sie gewarnt, was passierte, wenn das IBÜ von ihren Fähigkeiten erfuhr. Sie war zu vertrauensselig. Das nächste Mal, wenn er mit Spencer boxte, würde er extra heftig zuschlagen.
In ihre Wohnung. Verdammt.
»Er ist mir nach oben gefolgt und wollte mit mir über meine Idee sprechen, dass sich jemand freiwillig für die Unsterblichkeit entscheiden könnte. Er hat so geredet, als wäre es am Ende gar nicht so schlecht, ein Geist zu werden. Als wenn das, was sie anrichten, nicht … grausam wäre.« Sie runzelte die Stirn. Nachdem sie gesehen hatte, wozu die Geister in der Lage waren, und selbst von ihnen gejagt worden war, konnte sie derlei Gedankenspiele nicht ertragen.
»Möchten Sie, dass ich mit ihm spreche? Soll ich ihm sagen, dass er aufhören soll?«
»Ich kann für mich selbst sorgen, danke. Ich möchte nur, dass mein Eingangscode geändert wird.«
Adam seufzte. »Spencer hat allerdings Generalcodes. Genau wie Custo und ich. Aus Sicherheitsgründen. Wir müssen notfalls in der Lage sein, in jeden Raum zu kommen.«
»Ich möchte nicht, dass er oder irgendjemand anders meine Wohnung betritt.«
»Talia …«, widersprach er wenig überzeugt. Der Gedanke, dass Spencer sie berührte, dass er es sich in ihrer Wohnung bequem machte, nahm Adams Argumentation jegliche Kraft. Auch er wollte Spencer nicht dort haben.
Und die Sicherheit von Segue? Vielleicht verlangte dieser Fall nach einer Ausnahme. Etwas, das der Sicherheit von Talia zugute kam. »In Ordnung«, gab er nach. »Ich kann seinen Zugangscode zu Ihrem Büro und Ihrer Wohnung deaktivieren, aber meinen und Custos behalte ich. Keine Widerrede.«
Sie nickte. »Damit kann ich leben. Danke.«
Adam drehte sich zu seinem Computer um. Er rief das Sicherheitssystem auf, markierte Talias Eingang und gab seinen Freigabecode ein. »Wie soll Ihr neuer Code lauten?«
»Ähm. Aurora«, antwortete sie.
Das Wort passte zu ihr. Aurora borealis. Das magische Nordlicht. Wenn die Farben des Nordlichts ihr Gesicht umgaben, würde sie vollkommen aussehen. Am Ende der Welt, eine Fee auf seiner Türschwelle
»Danke«, sagte sie. Ihre Bitte war somit erledigt. Er hatte damit gerechnet, dass sie nun rasch den Rückzug antreten würde. Stattdessen kaute sie auf ihrer Unterlippe herum.
»Noch etwas?«
»Ja. Mh … alles okay? Bei der Besprechung wirkten Sie ziemlich aufgebracht.«
Auch mit Talia war während der Besprechung etwas vorgegangen. Sie hatte Mitleid mit ihm. Zumindest so viel, dass sie wieder mit ihm sprach. Wenigstens dazu war Jacob gut.
»Alles okay«, erwiderte Adam. »Ich musste hören, was Sie zu sagen haben.« Er beließ es dabei.
»Gut …« Sie schenkte ihm ein reumütiges Lächeln. »Vielleicht habe ich eine Entschädigung für Sie.«
»Ach?« Die Frau machte ihn fertig.
»Haben Sie jemanden, der sich mit Kunst auskennt?«
»Kampfkunst?«
Sie senkte die Lider und schürzte die Lippen. »Mit den schönen Künsten«, korrigierte sie.
Adam dachte rasch nach. »Ich weiß, es ist langsam in das allgemeine Bewusstsein gedrungen, dass es Geister gibt. Es würde mich nicht überraschen, wenn die Leute sich in Kunst und Musik damit auseinandersetzten. Aber ich habe dafür in Segue nicht eigens einen Forschungszweig eingerichtet. Wieso fragen Sie?«
Sie neigte den Kopf. »Ich glaube, dass Sie etwas übersehen haben.«
Adam setzte sich nach vorn. »Was?«
»Daran habe ich gearbeitet, bevor die Geister mich in Phoenix entdeckt haben. Ich habe einen Künstler ausfindig gemacht. Wenn Sie eine Minute Zeit haben, zeige ich Ihnen, was ich herausgefunden habe. Ich glaube, dass es Sie zumindest interessieren wird. Ich weiß allerdings nicht, ob es Ihnen mit Jacob weiterhilft.« Ihr Blick zuckte zu dem Monitor. Genau wie Custo und Patty hatte sie verstanden, was Jacobs Entscheidung für ihn bedeutete.
»Könnten Sie in mein Büro kommen? Einen Blick darauf werfen?« Sie kaute wieder auf ihrer Lippe, die sich rubinrot färbte. Sie wirkte immer noch besorgt. Spencer war offenbar nicht der Grund für ihre Bedrückung. Es musste etwas anderes sein. Vielleicht hatte sie etwas herausgefunden.
Adam stand auf und deutete auf den Ausgang. »Gern.«
Sie öffnete ihre Tür mit dem neuen Code und warf ihm über ihre Schulter hinweg einen dankbaren Blick zu, dann traten sie ein.
Die Geräusche hallten in der Leere des Raumes. An der gegenüberliegenden Wand reihten sich nackte Regale aneinander, lediglich in einem Fach hatte jemand einen Stapel Bücher vergessen. Die Wände waren vollkommen weiß, nur hier und da sah man ein paar Möbelabdrücke oder Gebrauchsspuren. In der Mitte des Raums befand sich ein Besprechungstisch aus dunklem Holz, an dessen einem Ende ihr aufgeklappter Laptop stand. Soweit er sehen konnte, lagerten ihre Forschungsunterlagen über die Nahtoderfahrungen in Kartons, aber nicht auf dem Tisch, wo er sie hingestellt hätte, sondern darunter, wo sie als Fußstütze dienten.
»Sie wissen, dass Sie für den Raum alles bestellen können, was Sie möchten«, sagte Adam und sah sich nach etwas Persönlichem um, nach einem Hinweis auf ihre Arbeit, irgendetwas, das darauf hindeutete, dass hier jemand mit der Absicht eingezogen war, eine Weile zu bleiben. Er wollte wirklich, dass sie blieb. Er wäre begeistert, wenn sie Segues Konto plündern würde, um es sich gemütlich zu machen. Wenn er es ihr gemütlich machen durfte.
Sie bedeutete ihm, zu ihrem Computer zu kommen, und betätigte beim Hinsetzen die Leertaste, um die Sterne zu vertreiben, die über den Bildschirm flogen.
Daraufhin erschien ein Bild. Es handelte sich um ein Foto einer Skulptur, aufgenommen in einer Galerie. Adam beugte sich hinunter und erkannte eine abstrakte, aus unterschiedlichen Materialien gefertigte Figur. Ein menschenähnlicher Körper war in netzartigen Schleiern gefangen und wand sich vor Qualen. Die Skulptur berührte Adam, er empfand Mitgefühl mit der Gestalt, die vergeblich versuchte, sich aus der Falle zu befreien. Das konnte jeder sein, aber Adam erkannte sich selbst darin wieder.
»Sehr stark«, sagte er und zeigte nicht, dass die Skulptur ihm die Luft zum Atmen nahm. Genauso fühlte er sich Jacob gegenüber. Gefangen.
»Haben Sie auf den Titel des Werkes geachtet?«
Adam senkte erneut den Blick. Anders als erwartet war das Foto auf dem Bildschirm nicht betitelt, aber wenn er die Augen zusammenkniff, konnte er in dem Foto selbst ein Schild entziffern, das sich vor der Skulptur auf dem Boden befand: DER MANN DER SCHATTEN.
»Das ist nicht … Sie glauben doch nicht …« Sie konnte unmöglich glauben, dass die Skulptur eine Abbildung von dem Schattenmann war.
»Doch.« Talia lächelte. Ihre Augen leuchteten vor Aufregung, für einen Augenblick war ihr Forschergeist sogar stärker als ihr Kummer. Der Ausdruck machte ihn nervös. Wenn sie sich freute, war sie geradezu schön. Er musste den Blick von ihr lösen, um sich auf den Bildschirm zu konzentrieren.
»Abgesehen von dem Titel, wie sind Sie darauf gekommen?«
Talia hob eine Hand und bedeutete ihm zu warten, während sie sich mit der anderen durch die zahlreichen Dateien klickte, die auf dem Bildschirm geöffnet waren. Ein weiteres Bild erschien, eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die man digital bearbeitet hatte, sodass eine öde Landschaft entstanden war. Darauf hielt ein kaum sichtbarer Wirbelwind eine Gestalt gefangen, die sich in ähnlicher Weise krümmte. Die Abbildung erschien surrealer als die erste, wie ein Bild von Salvador Dalí, aber mit ähnlicher Wirkung.
Seine Augen zuckten zu dem Titel, der mit Bleistift in den weißen Rand unterhalb des Bildes geschrieben stand. Schattenmann.
»Zufall«, behauptete Adam. »Glauben Sie mir, ich habe im Internet jede mögliche Spur zum Schattenmann überprüft …«
Talia hob die Brauen und schüttelte energisch den Kopf.
»Was?« Adam spürte einen Druck in seiner Brust, eine seltsame Mischung aus Verzweiflung und Aufregung. Er fand den Gedanken unerträglich, dass er all die Jahre etwas übersehen hatte, aber wenn er heute noch mehr erfahren konnte, wollte er es unbedingt wissen.
»Ich kann Ihnen noch sechs weitere zeigen, alle ganz ähnlich. Bei einer Internetrecherche tauchen die Bilder nicht auf. Dort erscheint, wie Sie schon sagen, nichts, das irgendwie in Beziehung zum Schattenmann steht. Irgendjemand dort draußen sorgt dafür. Jedenfalls wird der Text innerhalb eines Bildes nicht von einer Suchmaschine erfasst, und in allen Fällen sind die Titel Teil des Bildes. Man muss den Namen der Künstler kennen und wissen, wonach man sucht, um etwas zu finden.«
Adam zog einen Stuhl mit quietschenden Rädern heran und setzte sich neben Talia. »Erklären Sie es mir.«
In seiner Nähe wuchs ihre Anspannung, aber daran ließ sich nichts ändern. So wie die Dinge sich entwickelten, würde er häufig in ihrer Umgebung sein. Besser, sie gewöhnte sich gleich an ihn.
Sie seufzte schwer. »Es hat mit dem Unfall zu tun, den ich mit fünfzehn Jahren hatte. Meine Tante Maggie ist dabei gestorben. Für einen Augenblick war ich ebenfalls tot. In der einen Minute befand ich mich im Wagen, in der nächsten war ich von Finsternis umgeben, tiefer und dichter als meine Schatten. Ich wusste, dass ich starb. Und entdeckte diesen Mann …« – Talia tippte auf den Bildschirm – »… der in einem Wirbel dunkler Schleier gefangen war. Ich kann das Gefühl nicht beschreiben. Alles, was ich dazu sagen kann, ist, dass ich instinktiv wusste, dass er …« Sie holte tief Luft. »… mein Vater ist. Wie Sie wissen, ist es nicht ungewöhnlich, dass man bei Nahtoderfahrungen Familienmitgliedern begegnet. Ich wusste, dass er Schattenmann heißt. Er wollte etwas sagen, aber da wurde ich bereits ins Leben zurückgerissen. Das Notarztteam hatte mich zurückgeholt.«
Adam behielt die Fassung. »Der Schattenmann ist Ihr Vater.«
Talia erblasste. Er spürte, dass sie in seinem Gesicht nach einer Reaktion suchte.
»Sie selbst sind die Probandin, auf die Sie sich in Ihrer Arbeit beziehen«, folgerte er.
Sie nickte steif, um die überwältigenden Gefühle zu überspielen und sprach weiter. »In meinem ersten Jahr auf dem College war ich wie gelähmt, als ich zufällig in die Studentengalerie geraten bin und ihn auf einer Zeichnung entdeckte – den Schattenmann. Der Künstler hatte keine Ahnung, was ihn dazu inspiriert hatte. Das gilt für alle Künstler, mit denen ich gesprochen habe. Das Bild ist ihnen »einfach gekommen«. Ich bin also offenbar nicht die Einzige, die ihn gesehen hat. Er ist auch anderen erschienen. Und einige haben versucht, ihn bildlich darzustellen.« Talia klickte sich zur Unterstreichung ihrer Aussage durch einige Bilder.
Die Ähnlichkeiten waren nicht zu leugnen. Ein Mann, der inmitten von Schatten gefangen war.
»Was denken Sie? Eine Massenhysterie?«
»Nein, keine Hysterie.« Sie zuckte zusammen. »Haben Sie die Unheimliche Begegnung der dritten Art gesehen?«
»Sie glauben, der Schattenmann ist ein Alien?« Das war zu viel.
Sie lachte überrascht, wieder hellte sich ihre Miene auf. »Nein. Nicht der Teil. Am Anfang des Films, wo sich die Leute, die ganz verschiedene Leben führen, den Ort vorstellen, an dem das Raumschiff schließlich landet. Der Berg. Richard Dreyfuss baut in seiner Küche einen riesigen Matschberg …«
»Ich verstehe. Sie glauben, dass der Schattenmann versucht, uns etwas mitzuteilen.«
»Ja.« Sie setzte sich auf dem Stuhl zurück. »Vielleicht ruft er um Hilfe.«
»Wenn der Schattenmann versucht, Kontakt zu jemandem aufzunehmen, wieso dann nicht zu mir? Ich habe mein gesamtes Leben der Entdeckung … Was? Wieso ziehen Sie so ein Gesicht?«
Sie setzte eine weniger skeptische Miene auf. »Ich bezweifle, dass unterschwellige Botschaften bei Ihnen ankommen oder Sie darauf reagieren. Sie sind einfach nicht der Typ.«
»Sie wissen, was ich für ein Typ bin?« Das versprach interessant zu werden.
Sie steckte eine weißblonde Strähne hinter ihr Ohr. Die Locke rutschte wieder hervor und kringelte sich um ihre Schläfe.
»Die meisten der Bilder, die ich gefunden habe, stammen von Künstlern. Leuten, die besonders inspiriert sind. Sie sind eher der Manager. Eine Führungspersönlichkeit. Sie sind nicht« – sie wedelte mit der Hand in der Luft herum, als würde sie nach dem richtigen Wort suchen – »offen genug.«
»Nicht offen«, wiederholte er, während er die Information verdaute. Gerade jetzt war er für eine Menge interessanter Ideen offen.
»Nicht impulsiv«, korrigierte sie und spähte auf den Bildschirm.
»Ich kann sehr wohl impulsiv sein«, erwiderte er. Er blickte auf ihren Mund. Er trieb es genauso weit wie jeder vernünftige Mann.
Ach, Mist. Da wollte er Spencer ermahnen, die Finger von ihr zu lassen, und er selbst – was tat er? Wollte er sie endgültig vertreiben?
»Was haben Sie noch?«, fragte er, um sich abzulenken. Er musste etwas mit seinen Händen tun, ansonsten würde er sie berühren. Er streckte die Hand aus, griff das Laptop und wechselte zu einem anderen Bild.
»Nein!«
Aber Talia war zu langsam. Eine kraftvolle Illustration füllte den Bildschirm.
Der Künstler hatte eine nackte Frau von unglaublicher Schönheit dargestellt. Sie ruhte auf einem prächtigen Diwan und war in einen bodenlangen dunklen Umhang aus mehreren Lagen gehüllt, der sich zusammen mit ihren weißblonden Locken über ihren Körper ergoss. Sie war schlaftrunken, sexy und stark. Die Gesichtszüge erinnerten eindeutig an Talia. Die aufreizende Kurve ihrer nackten Hüfte, die Neigung ihrer Taille, das plötzliche Anschwellen ihrer Brüste setzten seinen Verstand in Flammen und brachten sein Blut in Wallung.
Der Titel stand unten links, Die Schlafende Schöne.
Talia schlug den Deckel des Laptops zu.
»Nun.« Ihre Stimme klang irgendwie belegt. »Es könnte sein … äh … dass es dort draußen auch ein paar Bilder von mir gibt. Natürlich sind einige Details extrem übertrieben dargestellt, aber dennoch …«
Adam holte tief Luft und versuchte, seine Aufregung unter Kontrolle zu bekommen. »Es gibt keinen Grund, verlegen zu sein. Sie sind eine wunderschöne Frau. Aber Sie gehören zu dem Rätsel Schattenmann, deshalb muss ich alles sehen, was Sie gefunden haben.« Er hielt ihrem Blick stand und gab seiner Stimme einen professionellen Klang. Was nicht eben leicht war, während diese fantastische Frau direkt vor ihm stand und sein Blut kochte. Pattys altbackene Kleidung an ihrem Körper war ein Verbrechen.
Sie biss die Zähne zusammen, behielt die Fassung und nickte leicht. »Ich maile sie Ihnen.«
»Ich möchte alles sehen, was Sie haben«, wiederholte er. Ganz offensichtlich hatte sie ihm einige Sachen vorenthalten wollen, was er ihr kaum verübeln konnte. Die Frau hatte ihr wahres Wesen ihr Leben lang verheimlicht, und mit dem Bild, das er soeben gesehen hatte, war der letzte Schleier gelüftet. Buchstäblich. Etwas so Luxuriöses wie eine Privatsphäre konnte sich jetzt allerdings keiner von ihnen leisten.
»Natürlich. Ich schicke Ihnen auch meine Notizen.«
Mit einer geschickten Bewegung stand Adam auf. Er wollte ihr etwas Raum verschaffen. Und sich ebenfalls. Wollte einen klaren Kopf bekommen. Durch einen anstrengenden Lauf würde das Bild, das sich in seinen Kopf eingebrannt hatte, etwas an Intensität verlieren.
Aber erst hatte er noch eine Frage. »Der Titel. Wieso Die Schlafende Schöne?«
Talia riss das Kabel aus der Rückseite des Laptops und drehte sich um, um den Stecker aus der Wand zu ziehen. Sie sah ihm nicht in die Augen, und er zwang sie nicht dazu.
»Es ist eine Anspielung auf meinen Namen«, erklärte sie hastig. »Das war das Lieblingsmärchen meiner Mutter. Meine Mutter war in ihrem Leben sehr häufig an das Bett gefesselt, und sie hat gesagt, dass mein Vater sie ›erweckt‹ habe. Talia stammt aus einer älteren französischen Version der Geschichte, aus der Zeit vor Disney.«
Adam verstand. »Aurora.«
Sie legte das Kabel auf den Laptop, drückte beides an ihre Brust und ging um den Tisch herum zur Tür. Wieder lief sie weg.
»Talia«, rief er.
Sie blieb stehen, sah sich jedoch nicht um.
»Der Name passt zu Ihnen«, sagte er.