19

Adam trat von der dunklen Feier in eine schwüle New Yorker Nacht hinaus. Über einem Korridor aus Glas und Beton sah er einen schmalen Streifen funkelnden Himmels. In der Luft hing der für eine Stadt typische Geruch aus abgestandenen Autoabgasen und feuchten Abwässern sowie einer Mischung aus Alkohol, Essen und Metall, der sich über die schwere Industrieluft legte. Er tat einen tiefen Atemzug und nahm alles in sich auf.

Er war froh, den Krieg heute Nacht zu beenden. Genau wie der Tod symbolisierte die Nacht das Ende einer Sache und zugleich den Beginn von etwas Neuem. Die Nacht hüllte die Welt in Schatten, deshalb war sie Talias Zeit. Um ihr auf seinem Weg in den Tod nah zu sein, hielt er sich möglichst an die dunkelsten Ecken.

Adam blieb in der Gasse und durchquerte die Waschküche eines Nachbargebäudes nördlich des Amaranth, um die vierzehnte Straße zu erreichen.

Es war sinnlos, nach dem Schiff zu suchen, von dem Abigail als Styx gesprochen hatte. Adam traute seinen Quellen nicht länger. Sein Instinkt sagte ihm, dass er ein Treffen mit dem Todessammler beschleunigen konnte, wenn er seine persönlichen Kanäle nutzte.

Während er weiterging, wählte er die Nummer seiner Eltern, die Nummer, die zu dem Bilderbuchhaus in den Hamptons gehörte, in dem der Albtraum seinen Anfang genommen hatte.

Jacobs Angriff.

Durch das Eingeben der Ziffern wurden erneut die Erinnerungen wachgerufen, die er so gut verdrängt hatte. Geräusche, Bilder und Gerüche schoben sich an die Oberfläche seines Bewusstseins: Jacobs unglaublich weit aufgerissener Schlund. Seine unmenschlichen Zähne. Dads umgekipptes Whiskeyglas, der torfige Geruch, der sich in seinem Arbeitszimmer ausbreitete. Jacobs mühelose Umklammerung und sein kranker Kuss. Und Moms durchdringender Schrei, den Adam noch heute hörte.

In den sechs Jahren, die seither vergangen waren, hatte er sich nie vorgestellt, dass es so enden würde.

Er hörte ein Klingeln am anderen Ende. Wenn es einen Gott gab, würde Jacob abheben.

Und Jacob hob ab. »Thorne«, meldete er sich.

Vor Wut trat Adam der kalte Schweiß auf die Haut. Wie konnte dieses Monster es wagen, immer noch den Familiennamen zu benutzen

Es spielte keine Rolle. Nicht mehr. Er beruhigte sich, indem er kontrolliert aus- und einatmete.

»Hallo, Jacob«, sagte Adam. In gewisser Hinsicht war es tröstlich, dass er immer noch voraussagen konnte, was Jacob tat. Nach seiner Flucht aus Segue hatte Jacob eine Bleibe benötigt. Der Familiensitz bot ihm alles, was er brauchte, einschließlich der Befriedigung, Adam noch einmal mit dem schmerzlichen Untergang der Familie Thorne zu konfrontieren.

Jacob schwieg einen Augenblick, dann: »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir dich und deine Schreckschraube finden.«

Adam verkniff sich eine passende Antwort und hielt sich an seinen Plan. Er war im Geiste verschiedene Dialoge durchgegangen; dies schien ihm der beste Weg.

»Nun, betrachte mich hiermit als gefunden«, erwiderte er. »Ich muss mit dem Dämon sprechen. Talia will ihm ein Geschäft vorschlagen, und ich agiere als ihr Mittelsmann.«

Jacob gab ein Grunzen von sich. »Das kannst du genauso gut mir erzählen. Ich gebe es dann weiter.«

»Das geht nicht. Ich muss mit ihm direkt sprechen. Persönlich. Das ist nicht übermittelbar.«

»Komm schon«, entgegnete Jacob. »Seit Jahren bekämpfst du das Kollektiv. Du hast mich die ganze Zeit eingesperrt. Ich bezweifle, dass du jetzt kapitulierst.«

Richtig. Für diesen Sinneswandel musste er ihm einen ungeheuerlichen Grund liefern.

»Talia ist schwanger«, erklärte Adam. Er wünschte, es wäre wahr. Er könnte etwas von ihr und etwas von sich zurücklassen. Etwas Hoffnung für die Zukunft.

»Wohl kaum«, erwiderte Jacob gedehnt. »Selbst wenn sie mit dir erbärmlichem, sterblichem Wesen gevögelt hat, wäre es viel zu früh, um das festzustellen.«

»Talia ist zur Hälfte eine Fee«, erklärte Adam. »Die Regeln der Sterblichen treffen auf sie nicht zu. Sie sagt, sobald sie sich in den Schatten aufhält, spürt sie, dass ein Leben in ihr wächst. Nach dem Angriff auf mein Loft hat sie etwas geblutet, und das hat ihr Angst gemacht. Wir sind bereit, euch ein Geschäft vorzuschlagen. Die Einzelheiten würde ich dem Dämon gern selbst erklären.«

»Ich glaube dir nicht.«

»Das musst du nicht. Stell einfach den Kontakt zu dem Dämon her und frag ihn, was er machen will. Meine Telefonnummer hast du ja.« Adam beendete das Gespräch. Keine weitere Diskussion. Kein Zurückweichen.

An einer Reihe parkender Wagen vorbei eilte Adam die Straße hinunter. Er musste ein Fahrzeug ohne Alarmanlage finden, eines, das man leicht kurzschließen konnte.

Er blieb abrupt neben einer rostigen Karre stehen, deren Fenster einen Spaltbreit geöffnet war, damit bei den sommerlichen Temperaturen Luft hereinkam. Der Wagen flehte geradezu darum, gestohlen zu werden. Es war viel zu leicht. Adam schob seine Finger in den Spalt und drückte die Scheibe so weit herunter, dass er mit dem Arm hindurchgreifen und das Schloss öffnen konnte. Er setzte sich auf den Fahrersitz und zog einen Schraubendreher aus der hinteren Hosentasche, den er sich aus dem herumliegenden Werkzeug neben dem DJ-Pult im Klub gegriffen hatte.

Als er gerade den Schraubendreher in das Zündschloss schob und wie einen Schlüssel herumdrehte, klingelte sein Mobiltelefon. Der Wagen sprang augenblicklich an.

Adam nahm das Gespräch entgegen. »Thorne«, meldete er sich genau wie sein Bruder.

»Er will dich treffen«, sagte Jacob ohne Umschweife.

Gut. »Wo?«

»Komm hoch zum Haus. Wir machen einen kleinen Ausflug in die Vergangenheit.« Jacobs Stimme klang ganz euphorisch vor lauter Sarkasmus. Diesmal legte sein Bruder einfach auf.

Es war sechs Jahre her, dass Adam zum letzten Mal die zweieinhalb Stunden durch den sommerlichen Verkehr nach Southampton zurückgelegt hatte. Zu jener Zeit war der Verkehr extrem lästig gewesen er hatte Besseres zu tun gehabt, als dem Wunsch seiner Mutter zu folgen, die wegen irgendwelcher Schwierigkeiten mit Jacob ein Treffen einberufen hatte. Welche Schwierigkeiten sollte Jacob, ein hervorragender Geschäftsmann und Lieblingssohn der Familie Thorne, schon haben? Für Jacobs Ehrgeiz und Ego war kein Problem unüberwindbar.

Ehrgeiz und Ego, das war genau das Problem.

Jetzt kam er schnell voran, nachts waren nur wenige Autos auf den Straßen, und der Verkehr floss zügig. Adam raste aus der Stadt in die Vergangenheit. Am Rand seines Gesichtsfeldes nahm er unscharf den Grünstreifen des Sunrise Highway wahr, während er dem Wiedersehen mit seinem Bruder immer näher kam.

Nein, nicht mit seinem Bruder. Sein Bruder war tot.

Plötzlich befand sich Adam auf der Gin Road, der schmalen Straße mit den hohen Mauern und Hecken, hinter denen New Yorks Elite die Sommermonate verbrachte. Weder er noch sein Bruder würden jemals wieder an einer der festlichen Partys teilnehmen.

Das Tor zum Haus der Thornes öffnete sich, bevor Adam überhaupt seine Ankunft ankündigen konnte. Er fuhr die Kiesauffahrt hinauf, die zu dem Anwesen am Strand führte. Im Haupthaus brannte Licht, alle Zimmer waren hell erleuchtet, sodass die beeindruckende Silhouette des Sommerhauses vor dem dunklen Nachthimmel leuchtete.

Das Zeichen signalisierte deutlich: keine Schatten erwünscht. Nur Leben.

Jacob war zu Recht misstrauisch.

Bevor Adam den Wagen in der herrschaftlichen Auffahrt parkte, holte er das Röhrchen mit den L-Pillen aus der Hose und schob eine in seinen Mund, um sie in der Backentasche bereitzuhalten. Durch die Gummierung war er geschützt, bis er dem Dämon vorgestellt wurde. Dann würde er sie schnell mit den Backenzähnen zerbeißen. Der Tod war zwar nicht angenehm, aber es würde relativ schnell gehen.

Kurz zog sich Adams Herz zusammen, es war ein letztes Aufbäumen gegen seinen geplanten Abgang, aber dann dachte er an Talia. Er würde nicht zulassen, dass sie wie Custo verblutete und zugrunde gerichtet wurde. Nicht, wenn er es verhindern konnte.

Adam stieg aus dem Wagen und begab sich zum Hauseingang.

Es war ein Déjà-vu. Nach sechs Jahren war er zum Ausgangspunkt zurückgekehrt. Nach Hause.

Mom und Dad wollten, dass er etwas unternahm. Gut, nun würde Adam etwas unternehmen.

Vier Stufen führten zu der eleganten Eingangstür. So war Mom elegant und formvollendet, selbst im Urlaub. Adam griff den Knauf und öffnete die Tür, jede Bewegung war ein Echo der Erinnerung an seinen letzten Besuch hier.

Nein. Dies war das letzte Mal, rief Adam sich ins Bewusstsein.

Der Eingangsbereich war weiß. Makellos. Anmutig. Ein Kronleuchter glitzerte, als würden verzauberte Regentropfen von ihm herabfallen. Darunter stand ein runder Marmortisch, den Mom mit einer Schale bunter Blumen geschmückt hätte, um die Kälte des Raumes aufzulockern. Dahinter befand sich das Wohnzimmer mit den Panoramafenstern zum schwarzen Ozean, erhellt von den erleuchteten Terrassen, die hinunter zum Strand führten. Alles befand sich an seinem Platz. In diesem Haus steckte so viel von Mom.

Und Jacob, der neue Herr und Gebieter über den Sommersitz der Familie Thorne wo war er?

»Hier«, rief Jacob.

In Dads Arbeitszimmer, in dem Jacob ihren Vater umgebracht hatte.

Adam ging den langen Flur hinunter auf die Glastüren zu, die zu Dads Privatbereich führten, seinem Refugium, in dem er »arbeitete«, wenn Moms Freundinnen da waren.

Adam sammelte sich und stieß die Tür auf.

Jacob saß aufrecht hinter Dads Schreibtisch, als wenn er meinte, dort hinzugehören. Adam sah rot. Hätte er eine Waffe bei sich gehabt, hätte er sie womöglich benutzt.

Stattdessen ballte er die Hände so fest zu Fäusten, dass seine Knöchel schmerzten. Talia. Er kämpfte nicht mehr für Mom und Dad. Sie waren tot, gehörten der Vergangenheit an. Talia war die Zukunft.

Jacob trug eine graue Nadelstreifenweste, ein weißes Hemd und eine Krawatte lange bevor all das geschehen war, hatte Adam ihn den Banker genannt. Jacob warf einen Stift auf die auf dem Schreibtisch verteilten Papiere und machte es sich in Dads Ledersessel bequem.

»Ich sehe gerade die Finanzen von Thorne durch. Grob überschlagen hast du in den letzten sechs Jahren beinahe fünfzig Millionen Dollar ausgegeben.« Jacob imitierte den Tonfall seines Vaters, den er immer dann benutzt hatte, wenn Adam sein Budget überzogen und sich für irgendeinen Spaß, der ihn gerade reizte, am Firmenkonto bedient hatte.

»Ich denke, es sind eher einhundert. Ich habe die Überseekonten angezapft«, sagte Adam. Womit er sich heute beschäftigte, war alles andere als ein Spaß.

Jacob lächelte höhnisch. »Was für eine Verschwendung. Und jetzt willst du Vater-Mutter-Kind mit dieser kleinen Hure spielen?«

Adam wurde von einer Welle kalter Wut überrollt. Als er antwortete, klang seine Stimme rau, beinahe gebrochen. »Talia ist keine Hure.«

»Nun, sie hat die Beine für dich breit gemacht, und ihre Mutter hat dasselbe für den Tod getan.« Jacob grinste süffisant, weil er einen Nerv getroffen hatte. Seine Ellbogen ruhten auf den Armlehnen von Dads Stuhl, während er die Hände über dem Bauch verschränkte.

Mit der Zunge berührte Adam die kleine Pille in seinem Mund. Zubeißen, kauen, und der Tod höchstpersönlich würde auf Jacobs höhnische Bemerkung antworten. Aber er war nicht länger für seinen Bruder verantwortlich. Sondern für Talia.

Adam bemühte sich, die Beleidigung gegen sie zu übergehen. Es wäre nicht klug, wenn die Unterhaltung eskalierte. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass Jacob den letzten Anstand, der noch in seinem Monsterhirn steckte, verlor und sich in einen Geist verwandelte. Es war besser, ihn in der Spur zu halten.

»Treffen wir uns hier mit dem Dämon?«

Jacob stand auf und straffte seine Weste, während er um Dads Schreibtisch herumkam.

Es folgte eine blitzschnelle Bewegung, und Adam krachte rücklings gegen das Einbauregal rechts neben der Tür. Schmerz schoss durch seinen Kiefer. Er blinzelte heftig gegen die Punkte an, die vor seinen Augen verschwammen, und konzentrierte sich wieder auf seinen Bruder.

Jacob schien sich nicht zu bewegen und richtete überaus geschickt einen Manschettenknopf an seinem Ärmel. Die Manschette war rot gefleckt. »Du hast mein Hemd beschmutzt. Jetzt muss ich mich umziehen.«

So schnell. Zu schnell. Er musste gerade erst gefressen haben.

Die Tablette in Adams Mund war immer noch ganz. Er schob sie mit der Zunge zur Seite und spuckte Blut. Während er sich aufrichtete, sagte er: »Der Dämon «

Es folgte ein weiterer rasend schneller Schlag. Ein heftiger Schmerz blitzte durch seinen Kopf, und der Raum verschwamm vor seinen Augen. Adam stieß mit dem Rücken gegen ein Möbelstück, das krachend zusammenbrach. Blut strömte warm aus seiner Nase und verschmierte auf seiner Wange, als er mit dem Gesicht zuerst auf dem Teppich landete.

»Widerlich, Adam. Du blutest wie ein Tier.« Jacob stellte einen Fuß mitten auf Adams Rücken, direkt neben sein Rückgrat, und trat zu, sodass Adams Nerven SOS-Signale in Form von elektrischen Stromschlägen aussandten.

»Wie gern würde ich dich zweiteilen«, sagte Jacob gereizt.

»Du bist das Tier. Du hast gerade gefressen, und hast dich immer noch nicht in der Gewalt«, keuchte Adam.

Der Druck verstärkte sich.

»Sitzt hinter dem Schreibtisch meines Vaters, als wärst du immer noch ein Mensch«, fuhr Adam fort und spürte den rauen Teppich an seiner Wange. Seine Kopfhaut zog sich zusammen, während sein Rückgrat sich durchbog.

»Er war auch mein Vater.« Jacob trat zu, und Schmerz tobte durch die langen Muskeln in Adams Rücken.

»Nein, der Dämon ist dein Vater. Dein Wächter. Ihm gegenüber musst du dich verantworten.«

»Und wieso auch nicht? Er hat mich unsterblich gemacht. Was ist schon das Geld der Thornes verglichen mit der Macht, die die Zeit uns verleiht?«

»Auch mein Vater hat dich unsterblich gemacht. So etwas nennt man Seele.«

»Dad war schwach. Das ist der Dämon nicht.« Der Druck auf seinem Rücken ließ abrupt nach.

Adam kämpfte gegen ein Würgen an, während er sich auf die Knie hochstemmte. »Gibt es ein Treffen oder nicht?«

Jacob zuckte mit den Schultern. »Ja. Er will dich treffen. Aber er lässt keinen Toten in seine Nähe, also wirst du die kleine Pille abgeben, die du im Mund hast.«

Adam wurde erst heiß, dann kalt. Er tastete erneut mit der Zunge nach der Tablette.

»Habe ich erwähnt, dass der Dämon in die Zukunft sehen kann?« Jacob lachte.

Die Vorhersehung.

»Er hat alles kommen sehen.« Jacob stieß mit der Schuhspitze gegen Adams Schulter. »Er hat mich sogar hergeschickt, um auf dich zu warten. Du bist ja so berechenbar.«

Adam war sicher, dass Zoe ganz genau wusste, was er vorhatte. Wenn er dazu bestimmt war zu versagen, wieso hatten sie ihn dann nicht davon abgehalten? Vielleicht hätte er sich anders entschieden.

»Ich brauche nur diese kleine Pille, dann können wir uns mit dem Todessammler treffen«, erklärte Jacob.

Sollte er jetzt zubeißen und Jacob umbringen? Noch vor einer Woche hätte Adam darüber gar nicht erst nachgedacht. Selbst jetzt war die Versuchung groß und linderte den Schmerz, der in seinem Gesicht und seinem Rücken pochte. Oh, wie gern würde er Jacobs Miene sehen, wenn er vom Tod überwältigt wurde.

Jacob zog die Mundwinkel nach oben. »Ich weiß, dass du sie nicht für mich nimmst, Bruder. Nicht einmal für Mom und Dad.«

Abigail musste eine Chance gesehen haben. Dieses verrückte alte Weib musste diese Möglichkeit vorausgesehen haben.

Adam spuckte die Tablette auf den Teppich und hob das Gesicht zu Jacob. In sarkastischem Ton sagte er: »Okay. Bring mich zu deinem Meister.«

Jacob verdrehte die Augen, dann schlug er zu. Und traf.

Die Welt um Adam versank im Dunkel.

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»Wenn ich nur einmal tief durchatmen könnte, wäre mir vielleicht nicht so schwindelig.« Mit theatralischer Geste griff Talia nach den Bändern, die sie fest in das Korsett schnürten. Ihre kratzige Stimme ließ die Lüge noch überzeugender wirken.

»Klar«, sagte Zoe. »Daran hätte ich denken müssen, wegen deiner Verletzung und alledem. Tut mir leid.«

Talia ging in die Garderobe und wartete, bis Zoe die Tür hinter sich geschlossen hatte. Von der dröhnenden Musik waren nur noch dumpfe Bässe und gedämpftes Jaulen zu hören.

Als Talia das Schloss einrasten hörte, beschleunigte sich sogleich ihr Puls voller Vorfreude.

Jetzt bekam sie ein paar Informationen.

Zoe trat weiter in den Raum hinein, und Talia zog die Schatten herunter. Eine vielschichtige Dunkelheit breitete sich in dem Raum aus und schaltete die Sinneswahrnehmung der Sterblichen aus.

»Talia?« Zoes Stimme klang sehr dünn in der Dunkelheit.

Talia ergriff Zoes Hand und ließ sie an ihrer Wahrnehmung teilhaben, wodurch zugleich Zoes Angst über ihre Verbindung in sie hineinströmte. Kein Wunder, dass man die Leute über die Schwelle des Todes treiben musste. Ohne die Feen wäre die Menschheit verloren.

Zoe suchte ihren Blick. Ihre Augen waren ängstlich geweitet. »Was ist hier los?«

»Ich wollte mich ungestört mit dir unterhalten«, erklärte Talia leise, um ihre Stimme zu schonen. »Nur du und ich, ohne dass uns jemand unterbricht.«

Zoe schluckte vernehmlich. »Worüber?«

»Über Adam.«

»Aha Was ist mit ihm?«

»Wo ist er?«

Zoes Augen zuckten nach rechts, während sie sich eine Lüge ausdachte. »Das weiß ich nicht. Hat er es dir nicht gesagt?«

»Nein, das hat er nicht.« Verdammter Kerl. »Aber ich weiß, dass du es weißt.«

Zoe zappelte mit den Füßen herum und begegnete Talias Blick. »Ich habe keine Ahnung. Ehrlich.«

Ehrlich? Zoes Gefühle verrieten, dass sie nicht die Wahrheit sagte.

»Du lügst. Du weißt, wohin er gegangen ist.«

»Nein. Jetzt lass mich gehen, du machst mir Angst.« Zoe zog ihre Hand aus Talias Griff.

Talia war klar, dass sie nun von der Dunkelheit verschluckt wurde, dass die Schatten sie betäubten und ihr zusetzten, weil in ihnen jegliche Wahrnehmung verloren ging. Sie wartete einen Augenblick, bis der Schreck der vollkommenen Isolation seine Wirkung tat.

Als Zoe anfing zu zittern, berührte Talia leicht ihre Schulter und beugte sich zu ihrem Ohr. »Ich bin eine Todesfee. Es ist meine Aufgabe, den Leuten elendige Angst einzujagen.«

»Lass mich sofort hier raus.« Zoes Herz musste wie wild schlagen. Die sie umgebenden Schatten bebten. Ihre Angst schwappte über die fließenden Schleier.

Talia blieb ungerührt. Die kleine Göre würde reden. Und wenn Talia sie so erschrecken musste, dass sie sich vor Angst in die Hose machte. »Sag mir, wohin Adam gegangen ist.«

»Ich weiß es nicht.« Zoe zuckte entschieden mit den Schultern. In ihren Augen schimmerten Tränen, die in den magischen Schatten wie Spiegel reflektierten.

Talia flüsterte. »Dann stecken wir in einer Sackgasse. Wir müssen so lange hierbleiben, bis wir uns auf etwas einigen können.« Wie konnte sie das Ganze beschleunigen? Nun war es an ihr zu lügen. »Du musst allerdings wissen, dass es vermutlich nicht gut für dich ist, wenn du dich zu lange in meinen Schatten aufhältst.«

Zoe verdrehte die Augen und blinzelte die Tränen weg. »Abigail hat gesagt, dass ich alt werde.«

Talias Hals brannte, als sie lachte. »Abigail kann keine Feen sehen. Das konnte sie nicht voraussehen.«

»Du würdest mir nichts antun.« Zoe verschränkte die Arme über der Brust.

»Ich tue dir bereits etwas an. Genau jetzt. Wie schlimm es wird, hängt ganz von dir ab.«

Sie ließ Zoes Schulter los und wich zurück, sodass das ungeheuerliche Nichts wieder über sie hinwegschwappte. Talia peitschte die Schatten auf, um ihren Denkprozess zu beschleunigen und ihre Angst zu echter Panik zu steigern.

Zoes Brust zuckte, sie atmete unregelmäßig. Ihr Herz hämmerte wie wild, während schwarze Schminke ihre Wangen hinunterlief und sie schließlich so stark zitterte, dass ihr gesamter Körper davon geschüttelt wurde.

Dumme Göre. Hatte sich perfekt hergerichtet, um den Tod willkommen zu heißen. In Wahrheit war ihr der Tod auch nicht mehr willkommen als jedem anderen.

Als würde sie ihr zustimmen, erklärte Zoe: »Er ist zur Styx gefahren. Um den Dämon, den Todessammler, zu vernichten.«

Der Schock strich eiskalt über Talias Haut. Sie ließ die Schatten abrupt fallen, und fauchend lösten sich die Schleier auf.

»Er ist wohin gegangen?« Jetzt hatte sie Angst. »Wie will er das schaffen? Ich dachte, nur ich könnte den Schattenmann rufen!«

»Adam hat einen Weg gefunden.« Zoe trat zurück und griff mit der Hand nach der Türklinke.

Erneut zog Talia die Schatten nach oben, schleuderte sie nach vorn und hielt die Tür mit einer Welle Dunkelheit geschlossen. »Was hat er herausgefunden?«

»Äh ich « Zoe sprach den Satz nicht zu Ende, was Talia auch gar nicht wollte. Die Folgen waren bereits verheerend. Philip hatte damals in Segue von einer Möglichkeit berichtet. Von einem alten Todesritus. Um ein unsterbliches Monster aus der Welt zu verbannen, musste jemand sein Leben opfern. Man benötigte ein Leben als Ausgleich für den Tod. Adam hatte sich damals gegen die Idee gewehrt. Er konnte doch jetzt unmöglich planen Doch.

Nur über ihre Leiche.

Talia griff nach hinten an ihren Rock. Als der Verschluss sich nicht öffnen ließ, zerrte sie heftig an dem Stoff in ihrer Taille und zerriss ihn. Der Rock glitt nach unten und legte sich um ihre Füße. Es folgte der Slip. Sie hatte keine Zeit, mit dem Korsett zu kämpfen, nicht wenn Adam jeden Augenblick dem Dämon gegenüberstand.

»Er war nicht davon abzubringen, Talia.« Zoes Worte überschlugen sich. »Abigail hat gemeint, er tue es auf jeden Fall. Als sie ihm sagte, dass er nicht gegen den Todessammler gewinnen kann, wollte er nicht auf sie hören. Sie konnte ihn nicht aufhalten.«

»Sie vielleicht nicht«, zischte Talia, ihr Hals schmerzte, »aber ich

Abigail und Zoe sollten verdammt sein. Wäre es denn so schwer gewesen, ihn ein paar Tage in einen Raum zu sperren? Wie schwer wäre es gewesen, seiner Entscheidung eine eigene entgegenzuhalten? Die Zukunft zu verändern.

»Wir wollten nur dein Bestes. Ich und Abigail und Adam. Was sein muss, muss sein. Du musst gesund werden. Wenn seine Methode nicht funktioniert, kann uns nur noch dein Schrei retten. Hier bist du in Sicherheit.«

»Du wirst mir ganz genau erklären, wo er ist und wie man dort hinkommt, oder ich schwöre, dass ich dich eigenhändig umbringe.« Da keine andere Kleidung zur Verfügung stand, zerrte Talia die dünnen schwarzen Leggings hervor, die Zoe vor der Party getragen hatte. Talia schob ihre Füße in Zoes abgelegte Springerstiefel.«

Zoes Blick wurde hart. »Das kann ich dir nicht sagen.«

»Kannst du nicht oder willst du nicht?«, krächzte Talia. Sie konnte auf keinen Fall schreien. Aus Verzweiflung über ihre Schwäche zerriss sie die Schnürsenkel, die sie gerade zuband.

»Ich will nicht. Wenn du geheilt bist, dann «

»Bis ich geheilt bin, ist Adam tot.« Talia stand auf. Wieso sollte ich ein Interesse daran haben, die Welt zu retten, wenn Adam nicht mehr da ist?«

Talia ignorierte Zoes entsetzte Miene, packte die Frau grob am Arm, machte sich auf den Weg zum Hinterausgang und zerrte sie hinaus in die Nacht.

»Wir können ihn nicht aufhalten«, behauptete Zoe.

»Mich auch nicht«, erwiderte Talia. »Wohin fahre ich?«

Als Zoe zögerte, packte Talia sie fester und schüttelte sie. »Wohin verdammt?« Ihre Stimme brach, und sie rang nach Luft.

»Die Fähre wartet an der Anlegestelle an der Neunundsiebzigsten Straße.«

»Welche Fähre?«

»Zur Styx. Das ist ein Boot, das Versteck des Todessammlers.«

Talia sammelte die Schatten um sich, während sie Zoe durch die schmale Gasse zur nächsten Straßenecke zerrte. Die Straße war alles andere als belebt. Dreckig, voller Abfall und zweifellos gefährlich. Eine Bande hing an einem mit Brettern vernagelten Eckgebäude herum. Ein paar Blocks weiter oben jagten Autos über eine befahrene Kreuzung. Dort konnten sie ein Taxi anhalten.

Die Kombination aus Wut und Schatten verlieh Talia die Kraft, die jammernde Zoe die drei Blocks bis zur Kreuzung mitzuschleifen. Sie hätte das Mädchen lieber im Klub zurückgelassen, wo sie in Sicherheit war, aber wer wusste, ob sie nicht entscheidende Kleinigkeiten ausgelassen hatte? Talia traute dem Mädchen keine Sekunde.

Adam im Übrigen auch nicht.

Dummer Kerl. Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Einfach abzuhauen und sie mit einem Haufen verrückter Babysitter zurückzulassen. Wenn sie ihn fand und er nicht bereits tot war, würde sie ihn eigenhändig umbringen. Und wenn er bereits tot war, würde sie seinen jämmerlichen Geist aus dem Jenseits zurückrufen und ihn noch einmal umbringen. Dummer, arroganter Kerl.

Als Talia die Ecke erreichte, streckte sie ihre freie Hand in die Luft, während Zoe schmollte.

»Der Todessammler wird dich umbringen«, sagte Zoe. Sie klang störrisch und flehend zugleich. »Ich will nichts mit deinem Tod zu tun haben. Du kannst mich nicht zwingen mitzukommen.«

»Und ob du mitkommst.« Ein Taxi hielt am Straßenrand.

Talia öffnete die Tür und stieß sie grob hinein. »Wohin?«, fragte der Taxifahrer.

»Zum Hafenbecken an der neunundsiebzigsten Straße«, grummelte Zoe.

Der Fahrer schüttelte den Kopf. »Nein, die Damen. Der Mörder aus dem Riverside Park läuft immer noch frei herum. Da bringe ich euch nicht hin.«

Zoe formte mit triumphierendem Blick das Wort Geist. »Der Anleger liegt direkt am Park«, erklärte sie. »Jemand oder etwas darin jagt dumme Leute, die sich dorthin trauen. Da ist jetzt praktisch niemand mehr.«

Talia ignorierte den unterschwelligen Vorwurf. »Ich gehe direkt zum Anleger. Ich verspreche Ihnen, dass ich nicht im Park herumlungern werde. Mir passiert nichts.«

Der Mann zuckte mit den Schultern, fuhr los und fädelte sich in den Verkehr ein.

Zoe spähte über ihre Schulter hinweg zu Talia. »Ich weiß nicht, was du vorhast. Wie willst du Adam jetzt helfen? Du bringst die Welt um die Chance, den Todessammler zu vernichten. Das ist alles, was du erreichst.«

Talia lächelte. »Nein. Wenn Adam scheitert und wenn ich scheitere, dann gibt es immer noch eine Welt voller Menschen, die es selbst versuchen können, die ihr Leben opfern können, um den Dämon zu töten.« Das Sprechen kratzte schmerzhaft, wahrscheinlich ruinierte sie gerade den gesamten Heilungsprozess, an dem sie den Tag über gearbeitet hatte. Aber ihre Worte zeigten Wirkung.

Zoe erbleichte.

»Es stimmt. Jeder, selbst du, kann den Todessammler töten. Wenn du bereit bist, dich ihm zu stellen, kannst du mir so viele Vorträge halten wie du willst. Bis dahin halt den Mund und lass mich nachdenken.«

Okay. Ihr Schreien kam also nicht mehr infrage. Doch sie verfügte immer noch über ihre Schatten. Damit konnte sie zwar nicht den Dämon töten, aber vielleicht konnte sie Adams jämmerlichen aber überaus attraktiven Hintern retten, so wie er es einst mit ihrem Leben getan hatte. In der Gasse in Arizona hatte er sich unbewaffnet dem Geist gestellt, und sie waren mit dem Leben davongekommen. Jetzt konnte sie das Gleiche für ihn tun. Er sollte verdammt sein.

Das Taxi fuhr die Neunundsiebzigste Straße West hinunter, unter einer Unterführung hindurch, durch die der Verkehr tobte, und bog in eine breite, von Bäumen gesäumte Auffahrt ein, vermutlich lag dort der tödliche Riverside Park. Dahinter schimmerte der Hudson River wie ein schwarzes Band, auf dessen Wasseroberfläche die Lichter der Stadt funkelten. Sein fauliger, modriger Geruch zog in das Taxi.

Eine Gänsehaut überlief Talias Rücken und bahnte sich ihren Weg bis zu ihrem Kopf.

»Halten Sie hier«, sagte Zoe. Sie deutete auf eine Lücke in der Betonbegrenzung. »Geh die Stufen hinunter und folge dem Gehweg. Suche nach der Charon sie liegt am Anleger ganz rechts. Die Verlassene, weil jeder weiß, dass man sich von ihr fernhalten sollte. Der Fährmann bringt dich zur Styx, aber bitte zwing mich nicht mitzukommen. Ich habe gesehen, wozu die Geister in der Lage sind. Ich will leben.«

»Wenn du mir irgendetwas verschwiegen hast «, begann Talia heiser.

»Das habe ich nicht. Geh und stirb, wenn du willst, aber lass mich hierbleiben.«

»Gut.« Talia stieg aus und schlug die Tür zu.

»Hallo?«, fragte der Fahrer und lehnte sich aus dem Fenster. »Sind Sie sicher?«

»Ja.«

Talia sah sich nicht um, als das Taxi losfuhr. Sie folgte der Asphaltstraße bis zu den Stufen und eilte sie hinunter bis zu dem Asphaltrund auf der unteren Ebene. Dort lag, dunkel und verlassen, ein Café. Sie spürte die Stille des Ortes.

Obwohl tief in ihren Umhang aus Schatten gehüllt, hämmerte Talias Herz, als sie den Bürgersteig hinunterlief und den unebenen Weg überquerte. Das Tor zum Pier stand offen, als wenn der Fährmann sie bereits erwartete.

Klopfend stieß etwas gegen die Planken, ein einsames, hohles Geräusch. Genauso tönte ihr Herz.

Am Ende eines Stegs stand ein Mann auf einen Stab gestützt. Sie konnte ihn nicht genau erkennen, aber den gebeugten Schultern nach zu urteilen, schien er sehr alt zu sein.

Während sie auf ihn zuging, ließ Talia die Schleier los, die sie umhüllten.

Als sie plötzlich vor ihm auftauchte, blinzelte der Mann, kaute aber ungerührt weiter auf seinem weißen Bart herum. Seine Haut war wettergegerbt und faltig wie eine braune Papiertüte. Er trug ein verblichenes kariertes Hemd, das deutlich zu warm für eine Sommernacht zu sein schien.

»Hallo«, sagte sie.

Er kaute.

Talia runzelte die Stirn. »Ich muss zur Styx. Man hat mir gesagt, Sie könnten mich dort hinbringen.«

Der alte Mann kaute weiter auf seinen Barthaaren herum. »Das kostet.«

Verdammt. »Ich habe kein Geld dabei, aber ich komme morgen zurück und zahle Ihnen, was immer Sie verlangen. Versprochen.«

Der alte Mann brummte. »Geben Sie mir eine Locke von Ihrem goldenen Feenhaar, und ich bringe Sie hinüber zur Styx

Der Mann schien selbst einer Sage zu entstammen; Talia war nicht überrascht, dass er über ihre Herkunft Bescheid wusste.

»Eine Locke von meinem Haar?«

Er nickte und deutete auf ein Boot, dessen Sitzbereich im rückwärtigen Teil die Überdachung fehlte. Es war dreckig, eine rotbraune schmierige Kruste überzog die Rückbank. Wahrscheinlich Blut.

Talias Magen krampfte sich zusammen, und ihr wurde übel. »Okay.«

Der alte Mann zog ein Taschenmesser aus seiner Hosentasche. Er fasste den Holzgriff, der so alt und abgenutzt war, dass er glänzte, und klappte eine Klinge heraus. Dann schnitt er eine Locke aus der Mähne auf Talias Schultern.

»Fertig«, erklärte er und roch an den Haaren. »Steigen Sie ein.«

Talia krabbelte hinunter in das Boot, setzte sich auf den Rand neben dem stinkenden Schmutz und klammerte sich verzweifelt fest.

Der alte Mann ging zu einem schmutzigen Pult und startete den Motor. Dann lenkte er das Boot hinaus aus dem Schlick, fort von der vibrierenden Stadt und hinaus auf das wogende dunkle Wasser des Flusses.

Jetzt gab es kein Zurück mehr.