20

Die Charon ließ das funkelnde Ufer des Hudson hinter sich. Talia spannte ihren Körper an, denn der Motor vibrierte heftig, und das Boot hopste unruhig über das Wasser. Die Aufregung war ihr bereits auf den Magen geschlagen. Das Schaukeln des Bootes konnte sie nicht auch noch ertragen. Wenigstens fegte die Geschwindigkeit den widerlichen Gestank von Bord, der Wind peitschte durch ihre Haare und hüllte sie in einen erfrischenden feuchten Nebel.

Sie fuhren auf das dunkle Wasser hinaus, auf dem vereinzelt die Lichter anderer Boote zu erkennen waren, kleinerer und größerer. Nachdem der Himmel hier nicht durch die Lichter der Stadt beeinträchtigt wurde, war er von funkelnden Sternen übersät, als hätte er endlich bemerkt, was auf der Erde vor sich ging.

Schneller, schneller, drängte Talia.

Die Küste fiel hinter ihnen zurück. Mit den kleiner werdenden Lichtern schwand zugleich ihre Hoffnung auf Sicherheit. Sie fuhren in ein Meer wogender Dunkelheit, als bewegten sie sich auf das Ende der Welt zu. Sie suchte keinen Ort, an dem sie vor den Monstern oder vor sich selbst Zuflucht fand. Das war vorbei. Wegzulaufen bot keine Alternative, nicht wenn alles, worauf es ankam ob gut oder schlecht –, vor ihr lag.

Und plötzlich tauchte über den Fluten die Hölle auf.

Die Styx glich einem riesigen umgedrehten Amboss, ein Kriegsschiff, auf dessen Deck die Art von Licht brannte, von dem sich Motten angezogen fühlen. Das gepanzerte Schiff ragte unter dem Sternenhimmel auf, ein gerüstetes Industrie- und Kriegsprodukt, das sich gegen die Natur stemmte.

Bei seinem Anblick setzte beinahe Talias Herz aus. Kein Zweifel, die Styx hatte die Charon bereits lange nahen sehen. Der Dämon, der Todessammler, wusste, dass jemand kam, dass wieder jemand bereit war, sein Menschsein gegen die Unsterblichkeit einzutauschen.

Der alte Mann lenkte das Boot neben das riesige Schiff, rieb quietschend daran entlang und wartete neben einer schmalen Leiter. Er drehte sich um. Im Licht des Schiffes wirkte seine blasse Haut gelblich und krank.

»Die Styx.« Mit dem Kopf deutete er auf die graue Stahlwand.

Als der Wind sich legte und die Charon schaukelte, erreichte Talias Übelkeit ihren Höhepunkt. Sie biss die Zähne zusammen, damit sie sich nicht übergab, und griff nach der Wand des Bootes. Blanke Angst machte jedes Denken unmöglich.

»Wollen Sie, dass ich Sie zurückbringe?« Der alte Mann wirkte ziemlich desinteressiert.

Talia schüttelte nur leicht mit dem Kopf, damit ihr nicht noch übler wurde.

Sie konnte es schaffen. Erst gestern hatten ihre Schatten sie und Adam geschützt, als sie vergeblich versucht hatten, Custos Leben zu retten. Außerdem war sie in den Schatten in der Lage, Gegenstände mit ihrem Verstand zu manipulieren. Mit diesen Fähigkeiten würde sie es bis zu Adam schaffen und sie beide in Sicherheit bringen. Mehr wollte sie nicht. Die Vernichtung des Dämons, der sich selbst als Todessammler bezeichnete, konnte warten.

Jetzt ging es um Adam.

Ihre Angst wich Klarheit, die wie elektrischer Strom direkt unter ihrer Haut entlangfloss.

Talia stand auf und scharte die Schatten der Nacht um sich. Die kühlen dunklen Schleier hingen in wallenden Bahnen von ihren Schultern herab. Zum Einsatz bereit. Sie zog sie noch enger um sich, um sich bei ihrem Aufstieg zu tarnen, und griff nach der Leiter.

Die Sprossen waren eisig und nass.

Ein Geist eine Frau mit einem schmalen engelhaften Gesicht beugte sich über die Leiter, um nach dem neuen Bittsteller für den Dämon Ausschau zu halten.

Mit klopfendem Herzen wartete Talia. Unter ihr legte die Charon ab und ließ ihr nur eine Wahl. Hinauf.

»Muss gekniffen haben«, rief der Geist jemand anderem zu und verschwand aus Talias Blickfeld.

Talia kletterte weiter hinauf. Als sie beinahe ganz oben war, spähte sie vorsichtig auf das Deck. Auf der einen Seite befand sich ein Hubschrauberlandeplatz und darauf ein Fortbewegungsmittel, mit dem man deutlich schneller auf das Schiff und wieder von dort wegkam. Praktisch. Daneben hatten sich ein paar Geister versammelt. Zehn oder zwölf, deren Aufmerksamkeit auf zwei miteinander kämpfende Geister gerichtet war. Die krachenden Schläge, die sie einander verpassten, hätten jeden normalen Menschen umgebracht.

Talia nutzte den Umstand, dass sie abgelenkt waren, und kroch an Deck.

Jenseits einer grauen Ebene befand sich eine schmale rechteckige Tür mit runden Ecken, die in einen wuchtigen Metallblock führte.

Sie zwang sich, ruhiger zu atmen, damit ihr Herz weniger raste. Wenn Panik sie ergriff, war damit niemandem geholfen. Sie würde mit den Innenräumen anfangen und sich langsam durch das ganze Schiff arbeiten. Systematisch, aber äußerst vorsichtig würde sie jede Ecke überprüfen.

In Schatten gehüllt, schlich Talia am Rand des Decks entlang auf die Tür zu. Dabei hielt sie sich an die natürlichen Schatten, die die Takelage auf das Deck warf.

Sie sah zur Charon hinüber, die jetzt nur noch als Lichtpunkt in der Ferne zu erkennen war.

An Deck war ein sattes Klicken zu hören, Talia fuhr herum.

Die Tür stand offen, und eine Gestalt trat heraus.

Als sie die dichte Dunkelheit erblickte, blieb augenblicklich die Zeit stehen. Die Erde hörte auf, sich um ihre Achse zu drehen. Das Meer erstarrte, und die Sterne erloschen.

Talias gesamte Sinneswahrnehmung versank in einem lauten Ohrenrauschen.

Das Wesen, das dort auf der Schwelle stand, war falsch. Er mochte sich selbst als Todessammler betiteln, mochte sich selbst als Spender unsterblicher Jugend bezeichnen, aber durch Talias Kopf und Seele hallte die richtige Bezeichnung, Dämon.

Hätte Talia sich nicht an der Seite des Schiffes festgeklammert, wäre sie vor Ekel auf das Deck gefallen.

Der Dämon war ein beängstigendes schwarzes Nichts, das sich geschmeidig um den Körper eines Mannes schlängelte. Den menschlichen Wirt. Tief in ihre Schatten versunken beobachtete Talia, wie der glitschige widerliche Dämon in die Mitte des Wirtes eindrang. Wer auch immer der Mann gewesen sein mochte, seine Identität war zerstört. Er teilte seinen geschundenen Körper mit einer schrecklichen Intelligenz. Mit leerer Miene und schlaffem Kiefer schlurfte der Dämon voran, als befände er sich in einem unendlichen Albtraum und sehnte sich nur danach, diesen endlich hinter sich zu lassen. Wie, das war ihm egal.

Bei der Vorstellung, dass Adam dieser Horrorgestalt begegnet war, verlor Talia jegliche Hoffnung, ihn noch lebend zu finden. Verglichen mit diesem alles vernichtenden Dämon waren die seelensaugenden Geister lästige Insekten. Nur der Schattenmann war mächtig genug, dieses Etwas zu vernichten, das Verderben in die Welt brachte. Wenn es sein musste, war der Schattenmann selbst dämonisch genug. Er und nur er konnte den Dämon ausschalten.

Plötzlich bildete sich ein enormer Druck in ihrem Körper.

Schrei. Jetzt. Sofort. Lass jeden Tropfen Feenblut in einen einzigen durchdringenden Schrei fließen. Es war mehr Instinkt als Impuls, ein heftiges, dringendes Bedürfnis.

Talia unterdrückte ein klägliches verzweifeltes Stöhnen. Ihr Hals sehnte sich danach, ihren Vater herbeizurufen, aber sie konnte nicht schreien, wenn sie ständig das Gefühl hatte, gleich zu ersticken. Es war ein vergeblicher Versuch. Tränen der Verzweiflung strömten über ihr Gesicht.

Sie schluckte das kehlige Geräusch hinunter und schüttelte sich. Heute ging es um Adam, aber sie würde wiederkommen. Sie würde ihren Mund aufmachen und so laut schreien, dass der Himmel zersprang. Der Dämon würde den Tod kennenlernen.

Die Geister an Deck unterbrachen ihr brutales Spiel und beobachteten gebannt die dämonische Schlange und ihren menschlichen Wirt.

Der Wirt trat über die Schwelle und hielt die Tür auf, um drei zähnefletschende Hunde hinauszulassen. Wie riesige tollwütige Wölfe hatten sie die Ohren angelegt und hielten die Köpfe gesenkt. Mit ihren goldfarbenen Augen starrten sie in ihre Richtung.

Nein, nicht in ihre Richtung. Sie sahen ihr direkt in die Augen.

Talia stockte der Atem, sie drückte ihren Körper gegen die Metallwand des Schiffes, ihr Herz gierte nach Sauerstoff.

Der Wirt verzog das Gesicht zu einem halbherzigen Grinsen, während der Rest seiner Miene blass und ausdruckslos blieb, als hätte der Dämon wie bei einer Marionette mit einem Faden den herabhängenden Mundwinkel des Mannes nach oben gezogen.

»Todesfee«, sagte der Wirt mit krächzender Stimme wie eine Handpuppe, geführt von dem Dämon. »Das sind meine Höllenhunde. Sie sind in Schatten aufgewachsen, die deutlich dunkler waren als deine. Muss ich sie erst auf dich loslassen, oder kommst du freiwillig heraus, damit ich mich mit dir unterhalten kann?«

In freudiger Erwartung sabberten die Hunde und bleckten ihre gefährlichen gelben Zähne.

Talias Herz schrie alarmiert. Die Schatten waren immer ihr Zufluchtsort gewesen.

»Todesfee. Obwohl ich eigentlich ewig Zeit habe, merke ich, dass ich gerade ungeduldig werde.« Der Wirt ließ den Blick zu ihr gleiten. »Ich bestrafe Lug und Betrug. Dies ist bereits der zweite Anschlag auf mein Leben heute Nacht, und ich garantiere dir, dass der andere sein Handeln bereut. Ich bin es müde, von meiner Arbeit abgelenkt zu werden. Komm heraus. Sofort.«

Der zweite Anschlag auf sein Leben? Das andere musste Adam gewesen sein.

Und wenn Adam irgendetwas »bereute«, musste er noch am Leben sein.

Am Leben. Talia klammerte sich an den Gedanken und löste die Schatten von ihren Schultern.

»Ah. Da bist du ja.« Die dämonische schwarze Schlange drehte den Kopf ihres Wirts. »Willkommen, Banshee. Du hättest nicht wie eine kranke Ratte an Bord meines Schiffes kriechen müssen. Die Einladung stand noch.«

Talia erinnerte sich, wie vor Monaten die Geister zu ihrer Wohnung gekommen waren, um sie zu einem »Rendezvous« mit ihrem Meister abzuholen. Sie hatte die Sache mit dem Schrei zu spät entdeckt, um Melanie zu retten.

Was immer der Dämon von ihr wollte Nein, danke.

»Ich würde « Talias heisere Stimme brach. Sie versuchte es noch einmal. »Ich würde lieber sterben, als eine von denen zu werden.« Ihr Blick zuckte zu den Geistern. Einer glotzte zurück und arbeitete bedrohlich mit dem Unterkiefer, als würde er ihre Aussage verarbeiten.

»Nein, nein. Das hungrige Leben ist nichts für dich«, erwiderte der Wirt. Seine menschlichen Augen wirkten überrascht, was im Gegensatz zu den Worten stand, die der Dämon ihm in den Mund gelegt hatte.

Vielleicht war der Mann doch noch da.

»Wenn du zum Geist werden solltest«, fuhr er fort, »könntest du mir kein Kind gebären.«

Mitten im Atmen hielt Talia die Luft an. Ihr Blick glitt vom Wirt zum Dämon und wieder zurück.

Ihm was?

»Sieh mich nicht so schockiert an«, sagte der Wirt. »Wenn der Tod mit einer sterblichen Frau ein Kind haben kann, dann kann ich bestimmt eins mit einem Bastard aus den Zwielichtlanden haben. Unsere Verbindung wird meine Pläne, von denen die Geister erst der Anfang sind, enorm beschleunigen und mir zum Erfolg verhelfen. Die Kombination von sterblichem Blut, Zwielicht- und Dämonenblut in einem Wesen wird die Grenze zwischen der sterblichen Welt und den Zwielichtlanden für immer zerstören. Kein Tod mehr. Ohne Tod kein Himmel mehr. Über das anschließende Chaos herrsche ich.«

Talias bereits verkrampfter Magen drehte sich nun vollends um, und sie würgte auf das Deck des Schiffes.

Der Wirt nickte mit dem Kopf. »Zugegeben, unser Verkehr wird für dich kein Vergnügen sein, genauso wenig wie die Schwangerschaft. Aber ich glaube, am schlimmsten wird die Niederkunft.«

Talia schluckte, um sprechen zu können. »Nein. Niemals.«

Vorher würde sie über die Reling springen. Ertrinken. Sie würde unter gar keinen Umständen zulassen, dass der Dämon sie berührte. Nicht auf diese Weise. Überhaupt nicht.

Der Wirt verzog die Lippen zu einem Lächeln, während sein Blick im Widerspruch dazu suchend umherstreifte.

»Das werden wir ja sehen«, erklärte der Wirt. »Wie wäre es, wenn wir die Angelegenheit mit deinem Liebsten besprechen? Er hat behauptet, du wärst bereits schwanger, aber das stimmt nicht, oder?«

Ihr Liebster. Ja, das war Adam. Aber er war noch so viel mehr. Er war ihr Verstand. Ihr Vorbild an Mut, Stärke und Ausdauer. Ihm ein Kind zu schenken, wäre die reinste Freude.

In Talias Augen brannten Tränen. Diese Zukunft war verloren.

»Jacob spielt jetzt schon eine Weile mit ihm.« Erneut musste der Wirt gegen seinen Willen lächeln. »Ich muss sehen, welche Fortschritte er macht. Wenn ich Jacob richtig einschätze, ist der Schnösel Adam Thorne so gut wie erledigt.«

Talia hob das Kinn. Der Dämon mochte Jacob kennen, aber ganz offensichtlich kannte er Adam nicht. Sie litt mit Adam, mit jeder Faser ihres Körpers, aber sie vertraute voll und ganz darauf, dass seine Seele genauso hell erstrahlte wie immer.

»Bist du anderer Meinung?« Der Dämon versuchte, den Wirt höhnisch klingen zu lassen, aber er hörte sich weiterhin leblos und bitter an.

Talia schwieg. Sie wollte ihn nicht ermutigen, Adam noch mehr zu quälen, als er es bereits getan hatte.

»Wieso sehen wir nicht nach? Schauen wir doch einmal, wie dein Adam sich hält.« Der Kopf des Wirtes zuckte zu der Gruppe Geister. »Martin, begleite unsere ehrenwerte Todesfee. Endlich wird mir etwas geboten.«

t

»Einmal blinzeln heißt ›Ja‹, zweimal blinzeln ›Ja, sofort‹.« Als Jacob lachte, wehte übel riechender Atem in Adams Gesicht.

Adam verschloss die Augen vor dem kleinen, fensterlosen Hauswirtschaftsraum und dem verzerrten Gesichtsausdruck seines Bruders. Er kniff die Augen ganz fest zusammen, damit es auf keinen Fall zu Missverständnissen kam: Nein. Er wollte kein Geist werden. Niemals.

Er hätte mit einem klaren und deutlichen Nein geantwortet, aber sein Mund war zugeklebt. Er hätte Jacob den Mittelfinger gezeigt, aber seine Hände waren auf seinem Rücken gefesselt und schon seit Längerem taub.

»Was wettest du?« Jacob klang glücklich. Entzückt. Er hatte den Spieß umgedreht und genoss jeden Augenblick.

Adam hielt die Augen geschlossen und wägte seine Lage ab. Es gab keinen Weg, hier lebend herauszukommen. Er war nicht nur wie Custo an einen Stuhl gefesselt, sondern mit einem Messer seitlich daran geheftet. Jacob hatte die Klinge durch sein Fleisch in die hölzerne Rückenlehne des Stuhls gerammt. Es tat höllisch weh.

Aber wenn er kurz an der Klinge riss, würde er vielleicht nur vielleicht ein lebenswichtiges Organ treffen und rasch verbluten. Vielleicht konnte er den Schattenmann trotzdem herbeirufen.

Die Türklinke klickte, und eine Welle verfaulter Luft wirbelte durch seine Zelle.

Eine Woge feuchter Hoffnungslosigkeit schwappte über Adam hinweg. Er kannte die Ursache dieses Gefühls: Der Dämon und sein Wirt waren zurück. Die Hunde des Dämons jaulten im Flur.

Vor Schmerz biss Adam demonstrativ die Zähne zusammen, damit niemand etwas von seinem Vorhaben ahnte. Das Schicksal hatte ihm gerade die Gelegenheit seines Lebens verschafft. Nur noch einen Moment, bis der Dämon sich ganz im Raum befand. Dann würde Adam sich mit dem Gewicht zur Seite werfen und sich die Klinge in den Bauch rammen. Er betete, dass das Messer scharf war.

Achtung, fertig, l

Da hörte er das leise, heisere Schluchzen einer Frau.

Adam erstarrte, sein wild pochendes Herz zog sich zusammen. Er öffnete die Augen.

Mit einem breiten Grinsen betraten die Dämonenschlange und sein Wirt den Raum, während Letzterer zugleich mit unruhigem Blick den Raum absuchte. Hinter ihm hielt ein Geist Talia gnadenlos fest.

Der Anblick traf Adam tief in der Seele.

Talia. Wie? Das musste ein Trick sein.

Talia stieß einen erstickten Aufschrei aus und wankte nach vorn, aber der Geist riss sie grob zurück.

Das war kein Trick. Sie war wirklich da.

Adams heftige Schmerzen versanken in einer Sturmflut aus Angst. Die Bedrohung durch Jacobs Kuss war nichts dagegen. Nein, ihn ängstigte nichts mehr, was Jacob ihm antun konnte.

Abigail hatte ihn gewarnt, dass er noch nie wirklich Angst empfunden hatte. Er hätte besser auf sie hören sollen. Wahre Angst hatte nichts damit zu tun, was einem selbst zustoßen konnte, wie schmerzhaft oder grausam es auch sein mochte. Wahre Angst erfuhr man erst, wenn jemand in Gefahr war, den man liebte.

Der Wirt neigte den Kopf zu Jacob. »Ich habe dir gesagt, dass ich keine Waffen an Bord meines Schiffes dulde.«

Wütend zog Jacob das Messer mit einer Drehung aus Adams Seite. »Er ist an den Stuhl gefesselt. Er kann nichts tun.«

Ohne das Messer hatte er keine Chance mehr. Panik ergriff ihn, aber ein Blick in Talias weißes Gesicht genügte, und er riss sich augenblicklich zusammen. Er war das Einzige, das er noch unter Kontrolle hatte. Wenn er sich von der Angst überwältigen ließ, war damit niemandem geholfen. Er musste sich für sie beherrschen. Musste ihr bis zum Ende beistehen.

»Willst du dich mit mir streiten?« Der schlängelnde schwarze Dämon beugte den Körper seines Wirts bedrohlich nach vorn.

Auf einmal zog Jacob unterwürfig den Kopf ein. »Natürlich nicht.«

Der Wirt vollführte eine plötzliche flüchtige Geste. Jacob reichte dem anderen Geist die Klinge. Der ließ Talia los und verließ den Raum. Es klang bedrohlich, als die Tür ins Schloss fiel.

Talia kauerte sich vor Adam auf den Boden und untersuchte mit zittrigen Händen die Seite, in der das Messer gesteckt hatte. Blut sickerte durch sein Hemd, aber es reichte nicht, um ihn zu töten; Jacob hatte die Stelle zu gut gewählt.

Jacob riss Talia an den Haaren nach oben. Sie winselte, als er ihre Schultern verdrehte.

Adam stöhnte und stemmte sich gegen seine Fesseln.

»Lass sie los«, sagte der Wirt. »Es geht schneller, wenn wir sie einen Moment für sich lassen.«

Talia sank zurück auf Adams Schoß. Adam sehnte sich danach, sie in die Arme zu schließen, sich schützend vor sie zu stellen und sie in Sicherheit zu bringen. Nichts war quälender als eine wimmernde Talia auf seinem Schoß.

Schließlich hob sie das Gesicht und sah ihn mit glänzenden Augen an.

Adam erwiderte ihren Blick und drückte damit eine Million Fragen aus. Wieso war sie hier? Warum versteckte sie sich nicht in den Schatten, wo sie etwas tun konnte? Flüchten. Sich in Sicherheit bringen.

Natürlich verstand sie ihn. Von allen Menschen auf der Erde war Talia die Einzige, die ihn wirklich verstand.

»Ich konnte dich damit nicht allein lassen«, erklärte sie, ihre Stimme heiser vor Anstrengung. »Du hättest auf mich warten sollen.«

Ich konnte nicht das Risiko eingehen, dich zu verlieren.

»Du hättest mir vertrauen sollen.« Talia machte sich an dem Klebeband in seinem Gesicht zu schaffen.

Ich musste dich schützen. Die harte Realität war, dass er sie nicht beschützen konnte. Er hatte alles versucht und dennoch versagt.

»Du kannst nicht einfach weglaufen, um die Welt zu retten, wann es dir passt. Ich brauche dich«, sagte sie. Seine Haut brannte, als sie das Klebeband abriss.

»Ich liebe dich.« Das musste Adam ihr zuallererst sagen. Etwas Richtiges, wenn so viel anderes falsch war. »Ich musste etwas tun.«

»Das kannst du immer noch«, unterbrach der Wirt.

Adam hob den Blick zu dem Dämon. Der Wirt führte eine Hand zu Talias Haar und wickelte eine blonde Locke um seinen Finger.

Der Dämon. Berührte Talia.

»Du bist mir ein Dorn im Auge « Der Wirt machte eine erwartungsvolle Pause.

Adam hatte den Witz sehr wohl verstanden Thorne, Dorn würde aber gewiss nicht eines Dämons wegen lachen.

»… und das bereits seit einiger Zeit. Ich wäre äußerst erfreut und käme mit meinen Plänen erheblich schneller voran, wenn du meiner Geisterarmee beitreten würdest.«

Angst stieg in Adam auf. Er ahnte, worauf das hinauslief.

Aufgeregt blickte der Wirt zwischen ihm und Talia hin und her. Anscheinend fand der Mann den Vorschlag, der mithilfe seiner Lippen zum Ausdruck gebracht worden war, ebenfalls interessant.

»Wenn du mein Angebot, unsterblich zu werden, annimmst, schenke ich der Todesfee Zeit. Ich lasse sie von meinem Schiff herunter und gebe ihr einen Tag Vorsprung, damit sie davonlaufen und sich verstecken kann. Erst dann jage ich sie wieder.«

Das »oder« wollte Adam überhaupt nicht hören.

»Oder ich vergewaltige sie jetzt, direkt vor deinen Augen und bekomme ein Kind von ihr.«

Talia presste ihre Hände auf Adams Ohren, aber es war zu spät. Er hatte es bereits gehört.

»Nein, nein, nein, nein, nein«, krächzte sie. »Hör nicht auf ihn. Denk nicht einmal daran.«

Mit den Tränen floss schwarze Tusche über das Gesicht, das er liebte. Selbst mit dieser ganzen Gothicschminke war sie wunderschön. So viel Magie in einem so schmalen Körper.

Adam hatte gesehen, was mit Custo geschehen war. Hatte gesehen, wie man seinen Freund zu Tode gequält hatte. Er würde es nicht ertragen, hilflos zuzusehen, wie Talia vor seinen Augen geschändet würde. Der bloße Gedanke an eine Vergewaltigung trieb heftige Schmerzen durch seinen Körper.

Mit einem heftigen Knacken zerbrach etwas in Adam. Etwas Lebensnotwendiges. Etwas, das ihn mit Talia verband, mit Segue und mit seiner verlorenen Familie. Etwas, durch das er sich von allen abhob, die er liebte. Der Dämon hatte soeben mühelos den Preis für seine Seele genannt.

»Nein, nein, nein, nein, nein«, schluchzte Talia an seiner Schulter und suchte bei ihm Trost, den er ihr nicht geben konnte oder wollte.

Adam zog den Kopf zur Seite weg. Er konnte ihre Berührung nicht ertragen, nicht den Schmerz in ihrer Stimme. Wenn jemand seine Entscheidung ins Wanken bringen konnte, dann sie. Er brauchte seinen ganzen Willen, um diesen letzten Schritt zu tun.

Der Wirt neigte den Kopf und gab vor nachzudenken. »Eigentlich würde es meinem Plan am ehesten nutzen, wenn ich sie jetzt bumse. Wenn nötig, kann Jacob sie festhalten. So wie du mich mit deinem Segue ständig genervt hast «

»… ich mache es«, unterbrach Adam, obwohl er wusste, dass der Dämon jetzt mit ihm spielte. »Ich werde ein Geist.«

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»Nein.« Schluchzen erstickte Talias heiseres Flüstern. Mit ihrer aufsteigenden Angst begannen die Schatten zu beben. Sie nahm Adams Kopf in ihre Hände, sodass er sie ansehen musste. Sie wollte ihm in die Augen blicken und ihn zu einer anderen Antwort nötigen. Sie kniete vor ihm. Jetzt begann sie zu beten. Bitte, alles nur kein Geist. Sie konnte sich kein schrecklicheres Schicksal für ihn vorstellen, als genau zu dem Wesen zu werden, das er sein Leben lang bekämpft hatte. Sie weigerte sich, der Grund für sein Verderben zu sein.

Mit aller Kraft drehte Adam das Kinn zur Seite, biss vor Anstrengung die Zähne zusammen und wich ihrem Blick aus.

»Tu das nicht, Adam«, krächzte sie. »Nimm das zurück. Du kannst dich immer noch anders entscheiden. Sie werden mich ohnehin finden. Der Dämon besitzt Höllenhunde, die in den Schatten sehen können. Ich kann ihnen nicht entkommen. Du würdest es ganz umsonst tun.«

Hinter ihr ging die Tür auf. Talia hörte die jaulenden Hunde. Einen Moment dachte sie, die Bestien würden hereingebracht, um ihre Aussage zu bekräftigen, aber stattdessen sagte der Wirt zu jemandem, der vor dem kleinen Raum stand: »Ich brauche meinen Kelch.«

»Wieso hörst du mir nicht zu, Adam? Bitte, hör auf mich!« Obwohl sie sich so sehr anstrengte, blieb ihre Stimme nur ein heiseres Flüstern; sie konnte sich kaum selbst verstehen.

Wieder ging die Tür auf Talia drehte den Kopf, um zu sehen, welches Grauen als Nächstes folgte und der Kelch wurde hereingereicht. Es war eine Art altmodischer Pokal.

Der Wirt hielt ihn fest, während die Dämonenschlange bis zum Rand Teer hineinerbrach. Talia roch den aufsteigenden Schwefelgestank. Etwas an dem Zeug erinnerte sie an den Teer, der ihre Kehle verklebte.

»Das musst du trinken.« Der Wirt hob den Kelch, als wollte er Adam zuprosten.

Oh, bitte. Gott nein.

Aber dem war das offenbar egal. Aus irgendeinem albernen kosmischen Grund halfen ihr weder Gott noch der Schattenmann. Talia blickte auf Adams undurchdringliche Miene. Sie war ganz allein mit diesem Albtraum.

Nein, sie kriegten ihn nicht.

Talia stand auf, baute sich vor Adams Stuhl auf, sah dem Dämon direkt ins Gesicht und stemmte die Füße in den Boden, um möglichst guten Halt zu haben. Nur über ihre Leiche. Sie hoffte, dass der Dämon ihre Herausforderung wörtlich nahm.

Dem Dämon blieb nichts anderes übrig, als sie zu töten, wenn er mit seiner ekligen Brühe an ihr vorbeiwollte. Was genial wäre, denn dann käme der Schattenmann und würde die widerliche, glitschige Haut des Dämons in Fetzen reißen.

»Ich habe mich entschieden, Talia«, sagte Adam hinter ihr. »Geh aus dem Weg.«

Adams Ton ließ die Temperatur in dem kleinen Raum um dreißig Grad sinken und jagte Talia eine heftige Gänsehaut über den Körper. Sie wappnete sich gegen die Kälte. Sie konnte auch stur sein.

Der Wirt setzte ein schiefes, ungelenkes Grinsen auf, aber die weit aufgerissenen Augen des Mannes wirkten ängstlich und traurig. Talia empfand es als ironisch, dass die menschliche Hälfte dieser Dämonenehe Mitleid mit ihr verspürte, denn schließlich hatte der Wirt durch seine Entscheidung dem Dämon überhaupt erst zur Macht verholfen.

Na, wenn dieser Feigling um Vergebung bat, musste er woanders danach suchen.

Der Wirt schien zu verstehen, denn seine Augen bekamen einen stumpfen Ausdruck, der Mann zog sich in die Schatten seines Verstandes zurück. Er entschied sich weiterhin für den Weg des geringsten Widerstandes.

Sie nicht.

»Ich rühre mich nicht von der Stelle«, verkündete Talia. Der Raum verdunkelte sich, denn mit ihrem inneren Tumult scheuchte sie die Schatten auf. Es war, als würde ein Sturm durch den Raum fegen.

Jacob trat auf sie zu, doch der Wirt gebot ihm mit einer Geste Einhalt.

»Binde Adam los«, sagte der Wirt zu Jacob. »Lass ihn mit ihr verhandeln. Er muss den Kelch sowieso selbst in die Hand nehmen. Wenn er erst ein Geist ist, wird sich die Banshee schon beruhigen.«

Wohl kaum.

Jacob trat um den Stuhl herum. Talia hörte, wie er das Klebeband von Adams Händen riss.

Adam stand auf, ließ die Arme seitlich herunterhängen und dehnte die Finger, um das Blut hineinzupumpen. Seine Miene war verschlossen und grimmig.

»Du sorgst dafür, dass sie sicher zurück nach New York kommt?«, fragte Adam über ihren Kopf hinweg.

»Ja«, erwiderte der Wirt. »Sicher und wohlbehalten. Als ein Wesen aus den Zwielichtlanden muss ich mein Wort halten.«

Das konnte einfach nicht wahr sein.

»Tu das nicht.« Talia klammerte sich an Adams nasses Hemd. Er roch nach Schweiß, aber immer noch so gut. So ganz nach Adam. Sie legte ihre Hände auf seine Brust, um ihn aufzuhalten.

Er umfasste ihre Schultern war es das letzte Mal, dass er sie festhielt? und sah ihr endlich in die Augen.

»Talia«, sagte er mit brüchiger Stimme, »du bist eine Spezialistin im Davonlaufen und Verstecken. Ich habe dir alles hinterlassen, womit ich dir helfen kann. Du musst diese Chance nutzen. Ich gebe sie dir so oder so. Du musst weglaufen. Du musst heilen. Dann suchst du diesen Mistkerl und schreist.«

»Bitte, wenn du mich liebst, tust du das nicht«, flehte sie. Es war furchtbar, wie entschieden er klang. Wenn Adam einmal etwas beschlossen hatte, war es unmöglich, ihn davon abzubringen. Tränen der Verzweiflung schwammen in ihren Augen.

»Sieh mich an«, befahl Adam. »Sieh mich an!«

Sie zuckte vor Schmerz zusammen, empfand sein Schreien wie einen Schlag ins Gesicht.

»Anschließend musst du mich suchen«, erklärte er. »Du musst für mich schreien. Machst du das, Talia? Schreist du für mich?«

Ein ängstliches Schluchzen löste sich aus ihrer Kehle. »Nein.« Aber sie wusste überhaupt nicht, gegen wen sich ihr Widerspruch richtete. Gegen seine Entscheidung. Gegen das Weglaufen. Gegen diesen ganzen verdammten Albtraum. Begriff er denn nicht, dass die einzig mögliche Antwort »Nein« lautete?

Adam packte ihre Schultern so fest, dass er sie aus dem Weg schieben konnte.

Sie warf sich gegen ihn, schlang die Arme um seine Taille und versuchte, ihn mit ihrem Gewicht nach unten zu ziehen. Er taumelte etwas, fand aber sein Gleichgewicht wieder.

Sie griff nach den Schatten, um Adam die Sicht zu nehmen. Verführte die Schleier zu einem ekstatischen Tanz, damit er nicht zu dem Dämon gelangte. Sie nahm all ihren Willen zusammen, um ihn mit ihrem Geist zurückzudrängen.

Wenn der Dämon seine Hunde auf sie jagen wollte, sollte er das tun. Sie konnte gegen Geister kämpfen, gegen den Dämon und seine Höllenhunde. Und wenn es sein musste, würde sie auch gegen Adam kämpfen. Verdammt.

Der Dämon bekam ihn jedenfalls nicht.

Adam wehrte sich, sein Wille stand gegen ihren. Er bog ihre Arme weg und bohrte sich dabei mit den Fingern in ihre Haut.

»Siehst du, wie leicht das ist?«, sagte der Wirt, vermutlich zu Jacob. »Sie ist vielleicht seit zehn Minuten hier, und schon ist er fertig. Sieh dir an, wie sie sich bekämpfen.«

Jacob kicherte.

Talia wurde von blinder Wut ergriffen. So etwas hatte sie noch nie zuvor empfunden. Der Raum wurde pechschwarz. Ihre Haare wirbelten um sie, während die Schleier sich Schatten für Schatten um sie legten.

Gequält und voller Empörung holte sie tief Luft und schrie.

Es war ein krächzendes, jämmerliches Geräusch, das ihre Lungen in Brand setzte.

Der Wirt lachte unverhohlen.

Sie versuchte es erneut und legte alles Leben und alle Liebe in ein Geräusch, ein lang gezogenes Keuchen, das Schmerz und Sorge ausdrückte.

Immer noch nichts. Verdammt, einfach nichts.

»Hör auf damit, Talia«, fuhr Adam sie an. »Du verletzt dich nur noch mehr.«

Die Schatten tobten durch den Raum, dennoch schaffte er es, sich vorwärtszubewegen und zerrte sie einen Schritt mit sich auf den Dämon und seinen verhassten Kelch zu.

Schluchzend stemmte sie sich mit der Schulter gegen Adams Körper und tastete mit den Armen hinter ihm nach etwas, an dem sie sich festhalten konnte, mit dem sie sich seiner Kraft widersetzen konnte. Nach irgendetwas, das den Wahnsinn hinauszögerte.

Auf einmal spürte sie kühlen Stahl in ihrer Hand. Ein Griff oder ein Schaft, der zu dem Rohrsystem des Schiffes gehörte. Sie schloss die Finger darum.

Eine archaische Kraft strömte ihren Arm hinauf und durch ihren Körper. Da verstand sie.

Das war kein Rohrschaft. Der Schaft gehörte zur Sense ihres Vaters. Er reichte sie seiner Tochter durch die Schatten, die ihn mit ihr verbanden. Das Vermächtnis des Todes, das er ihr vererbt hatte.

Ein finsterer Jubel, eine dämonische Blutlust durchflutete Talias Mischlingssinne. Sie stieß Adam ein für allemal heftig zurück und wandte sich dem Dämon zu, wobei sie die halbmondförmige Sichel über ihrem Kopf kreisen ließ wie eine Wetterfahne, die einen Wetterumschwung verkündet.

Endlich bestimmte sie, woher der Wind wehte.