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Sechsundzwanzig Jahre später

Adam Thorne übernahm die Nachtschicht in Jacobs Zelle.

Durch den Jetlag war er ohnehin überdreht, sein Biorhythmus schwebte noch irgendwo über dem Atlantik. In Korea, wo er die vergangenen drei Wochen einer Spur in dem Rätsel um Mount Inwangsan nachgegangen war, hatte er sich bestens gefühlt. Aber in den Appalachen von West Virginia, in einem Betonloch unter dem Segue-Institut, wusste sein Körper nicht, ob gerade Nacht, Tag oder eine seltsame Zeitzone dazwischen herrschte.

Während er versuchte, sich auf die Tasten neben der ersten Sicherheitstür zu konzentrieren, rieb er sich das Gesicht. Durch seine Augen schossen heiße Blitze, und nachdem er sich vierundzwanzig Stunden nicht rasiert hatte, fühlte sich seine Haut rau an. Ein Röhrchen mit Tabletten versprach, ihn acht Stunden auszuschalten, aber der Schlaf würde bestenfalls unzureichend sein, wenn er nicht zuerst nach Jacob sah. Seine Zeit absaß, allerdings auf der anderen Seite der Gefängnistür.

Adam gab den Sicherheitscode ein. Als er die stahlverstärkte Tür aufschob, nahm er einen schwachen Verwesungsgeruch wahr. Er runzelte die Stirn und machte sich bereit. Mit einem Kopfnicken schickte er den Wachmann fort und fragte sich, wie der Mann diesen ständigen Gestank ertrug.

Während er sich an der Hauptsicherheitskonsole anmeldete, sah Adam Jacob kurz auf dem Videomonitor: Er lag auf der Seite und hatte die Arme um den nackten Bauch geschlungen, als wollte er sich vor der Kälte schützen oder sich auf einmal keusch geben. Er war einst Mitglied im Vorstand von Thorne Industries gewesen. Jetzt hielt man ihn wie ein Labortier in einer weißen, sterilen Zelle gefangen. Blass und abgemagert wirkte er nur insofern Furcht einflößend, als dass kein Mensch je so eingesperrt und ausgehungert werden sollte, wie man es in den vergangenen sechs Jahren mit ihm getan hatte. Andererseits glaubte Adam nicht, dass Jacob überhaupt noch ein Mensch war.

Adam ließ einen Stapel Akten auf die Konsole vor sich fallen. Bevor er schlief, konnte er genauso gut noch etwas erledigen.

Er wunderte sich immer, dass so wenig Fortschritt so viel Arbeit produzieren konnte. Er nahm die erste Aktenmappe in die Hand und öffnete sie. Eine detaillierte Tabelle mit Zahlen verschwamm vor seinen Augen. Die Kalkulation kann warten. Er schloss die Akte und tauschte sie gegen eine andere aus. Darin befand sich ein Stapel Papiere, so dick, dass er mit einem Gummiband zusammengehalten werden musste. Obenauf klebte ein Notizzettel.

Ich dachte, das könnte dich interessieren. C.

Celia Eubanks war eine Forschungskollegin an der Johns-Hopkins-Universität und eine alte Freundin der Familie. Er konzentrierte sich auf den Text des Dokumentes mit dem Titel Eine Untersuchung häufig auftretender Muster bei Nahtoderfahrungen von Talia Kathleen O’Brien.

Nahtod. Das würde ihm nicht gut bekommen.

Ein schlurfendes Geräusch drang aus den Lautsprechern in der Konsole. Jacob bewegte sich in seiner Zelle.

»He, Adam. Schön, dass du wieder da bist.« Die Stimme, die kristallklar auf den Monitor übertragen wurde, klang gleichgültig und vertraut.

Adam ignorierte Jacob. Um herauszufinden, inwiefern und wie stark seine Wahrnehmung von menschlichen Werten abwich, hatten sie anfangs herauszufinden versucht, woher er wusste, wer sich hinter den fußdicken, stahlverstärkten Zellenwänden befand, aber Jacob hatte sie durchschaut und angefangen, ihre Daten zu manipulieren.

Adam blätterte durch die dreihundertsechzehn Seiten von Ms Talia O’Briens Dissertation. Sie waren eng bedruckt und wurden lediglich von ein oder zwei Diagrammen unterbrochen. Schwierig zu lesen. Sie hätte eine größere Schrift wählen sollen. So wäre er vermutlich erblindet, bevor er die Arbeit überhaupt bis zum Ende durchgelesen hatte.

»Du könntest mir ruhig antworten. Unsere Mutter hat dir bessere Manieren beigebracht«, sagte Jacob in dem üblichen herablassenden Ton.

Mom würde um uns beide weinen.

Adam zwang sich, seine Aufmerksamkeit von Jacob auf das erste Kapitel zu lenken, den Abschnitt, in dem Ms O’Brien ihre Theorie und Analysemethode vorstellte. Ihre Art zu denken, die ungewöhnliche Perspektive ihrer Untersuchung, gefiel ihm. Sie ging nicht davon aus, dass es Nahtoderfahrungen wirklich gab, behauptete aber auch nicht, dass sie falsch wären. Sie nahm eine Position außerhalb der Geschichten ein und suchte nach gemeinsamen Vorstellungen, nach wiederkehrenden Mustern. Denn sie wollte nicht den Tod an sich analysieren, sondern die Vorstellung, die die Lebenden von ihm hatten. Der Tod als Konzept, als Idee, die von einem unbewussten Kampf mit der Sterblichkeit herrührte.

»Adam, ich bin so hungrig, dass ich überhaupt nicht mehr denken kann. Ich könnte vielleicht etwas Suppe probieren. Oder ein belegtes Brot. Was meinst du? Nur ein kleiner Bissen, damit ich weiter durchhalte.«

Du willst kein Brot, Jacob. Du weißt noch nicht einmal mehr, was man damit macht. Du hast es nur auf die Person abgesehen, die es dir bringt, selbst wenn es dein eigener Bruder ist.

Aber jedes Gespräch mit diesem Wesen, das Gesicht und Gedächtnis seines älteren Bruders besaß, war zwecklos. Was immer er seit seiner Veränderung von sich gab, er verdrehte die Tatsachen und kannte nur ein Ziel: dass Adam litt. Daran würde sich nichts ändern.

Adam konzentrierte sich auf die Untersuchung. Im zweiten Kapitel ging es um den Umgang der Autorin mit ihren Probanden. Es war ihr gelungen, Personen sehr unterschiedlichen Alters zu rekrutieren sehr lobenswert. Sie hatte einige Erfahrungsberichte transkribiert und im Anhang angefügt. Eine mühsame Arbeit.

Das Leben nach dem Tod.

Adam runzelte die Stirn. Diesen Ansatz hatte er noch nicht verfolgt; vielleicht war es an der Zeit, damit anzufangen. Und diese er blätterte zur Titelseite Talia O’Brien näherte sich dem Thema aus einem eindeutig objektiven Blickwinkel. Er musste sie überprüfen und herausfinden, ob keine Bedenken bestanden, sie in das Team von Segue zu holen.

»Gott, Adam, ich weiß nicht, wieso du so gemein bist. Ich will doch nur ein belegtes Brot. Du könntest mir wenigstens antworten. Antworte mir, verdammt!«

Adam blätterte durch die Dissertation, vorbei an ihrer Analyse zu den Schlussfolgerungen. Irgendetwas erregte seine Aufmerksamkeit, sein Magen krampfte sich zusammen. Er blätterte zurück. Da. Auf Seite 69 unten, Fußnote 3b. Eine Probandin behauptete, einem Individuum namens Schattenmann begegnet zu sein.

Die Erinnerung an einen euphorischen Jacob stieg in ihm auf, der vor langer Zeit mit leuchtenden Augen, wildem Blick und schriller Stimme gekreischt hatte: »Mich kriegt der Schattenmann nicht!«

Jacobs Gesicht war voll Blut gewesen, und zu seinen Füßen hatte der schlaffe Körper seines Vaters gelegen.

Adam bekämpfte den Schmerz, den die Erinnerung in ihm auslöste, schob das Bild zurück in eine kleine Kiste in seinem Kopf und schloss sie fest zu.

Er blinzelte heftig, um wieder normal sehen zu können und sich von der Hitze zu befreien, die ihm auf einmal den Schweiß auf die Haut getrieben hatte. Er zwang sich, tief durchzuatmen.

In den zurückliegenden Jahren hatte er ausgiebig überall nach dem Namen »Schattenmann« gesucht, hatte versucht, Jacob zu befragen und ihn zu provozieren, aber nichts erreicht. Überhaupt nichts.

Bis jetzt.

Adams Herz schlug bis in seinen Hals. Schattenmann. Ms O’Briens Probandin hatte sich mit ihm unterhalten, und der Schattenmann hatte sie vor dem Tod gerettet und zurück ins Leben geholt.

Ich fasse es nicht. Der Schattenmann.

Ein seltsames Gefühl kroch in ihm hoch, legte sich schwer auf seinen Brustkorb und surrte in seinem Kopf.

Nahtoderfahrungen. Darauf hätte er früher kommen müssen. Unglaublich, dass ihm das nicht eingefallen war. Dabei hatte er Wiccas, Schamanen und Heilige zurate gezogen.

Adam holte sein Mobiltelefon aus der Tasche. »Custo. Suche Ms Talia O’Brien. Doktorandin. Nein, vermutlich hat sie inzwischen schon ihren Doktortitel, von der « Er blätterte zur Titelseite. »… Universität Maryland. Ich nehme an, sie hat ein Angebot erhalten und unterrichtet irgendwo. Ihr Fachgebiet ist verdammt, sie hat sich beinahe mit allem beschäftigt , aber versuch es mit Soziologie, Anthropologie, vielleicht Psychiatrie. Finde so viel wie möglich über sie heraus. Nimm dir, was du dazu brauchst.«

»Ich kümmere mich sofort darum. Interessierst du dich aus einem bestimmten Grund für sie?«

»In erster Linie, weil ihre Arbeit überragend ist. Du musst ihre Dissertation lesen. Wenn möglich noch heute Abend. Ich lege eine Kopie auf deinen Schreibtisch. Lass mich wissen, wenn du sie gefunden hast.« Adam musste zum Flugzeug. Eine seltsame Energie strömte durch seine Adern.

»Muss gut sein. So begeistert hast du dich nicht mehr angehört seit nun, seit Jahren.«

»Das wird dir genauso gehen. Lies alle Fußnoten, dann wirst du schon sehen.« Adam beendete das Telefonat und bückte sich, um die Akten aufzuheben. Die Kalkulation musste er mitnehmen.

»Talia O’Brien.« Jacob sprach den Namen gedehnt aus. »Hört sich irgendwie verklemmt an, Bruder. Ist eher mein Typ.«

Adam blickte auf den Monitor. Jacob war aufgestanden und starrte streitlustig in die Kamera.

»Ich wüsste, was ich mit ihr mache«, sagte Jacob grinsend. Mit einer übertriebenen Geste, die Lust signalisieren sollte oder Hunger oder beides, strich er mit der Zunge über seine Zähne.

»Aber ich habe sie zuerst gefunden«, murmelte Adam und wandte sich ab. Er klingelte nach dem Wachmann.

Der Raum hinter ihm bebte. Adam kannte das Geräusch: Jacob trat gegen die Zellentür. Gott hilf, dass die verstärkte Stahltür hält. Es folgte ein unmenschliches Kreischen. Nach sechs Jahren richteten sich noch immer Adams Nackenhaare auf. Keine Kugel und kein Schwert konnte dieses Monster aufhalten.

Talia O’Brien.

Vielleicht konnte sie ihm helfen, seinen Bruder zu töten.