17

Talia beobachtete, wie die Soldaten in die Mitte des Raumes schlichen und sich durch die Dunkelheit vortasteten, während Spencer, dieser feige Verräter, es sich an der Wand neben dem Badezimmer bequem gemacht hatte und über sein Headset Anweisungen gab.

Wo war Adam? Wieso brauchte er so lange? Noch eine Minute länger, und sie würde nach ihm sehen.

Ein Soldat bewegte sich gefährlich nah auf das offene Fenster zu. Da seine Sinneswahrnehmung eingeschränkt war, bemerkte er noch nicht einmal, in welcher Gefahr er sich befand, als er mit seinen Stiefeln auf die Glasscherben trat.

Talia zog ihre Schatten etwas von der Kante des zerbrochenen Fensters zurück. Sie wollte nicht schuld daran sein, dass der Mann in den Tod stürzte.

Der Soldat trat aus den Schatten in den Sonnenschein. Die plötzlich auf ihn einstürmenden Reize und die Gefahr brachten ihn aus dem Gleichgewicht, und er fuchtelte mit den Armen. Aber er fing sich wieder, schob sich vorsichtig nach vorn und spähte über den Rand. Dann bezog er dort Position. Als wenn Talia und Adam vorhätten, auf diesem Weg zu flüchten. Wohl kaum.

Die Geister, einer ein glatzköpfiger, untersetzter Mann, der andere eine große, schlanke Frau mit der anmutigen Haltung einer Ballerina, schlichen durch den Raum.

»Mein ganzes Leben über bin ich glücklich gewesen«, brummte der Mann. »Seit ich es mit dem Dämon zu tun habe, ist es mit meinem Glück vorbei. Jetzt ziehe ich immer den Kürzeren.«

Dämon.

Die Frau streckte die Hände aus, um sich in der Dunkelheit voranzutasten. Ihre Finger glitten flüchtig über die Schultern eines Soldaten, der doppelt so schwer war wie sie. Sie berührte zufällig seinen Mundschutz, ergriff ihn und benutze ihn, um ihn daran aus dem Weg zu befördern.

Der Soldat zuckte zusammen und schrie, doch die Dunkelheit verschluckte seine Schreie.

»Oh, ich werde dich nicht fressen«, höhnte die Geisterfrau und warf den Mann auf den Boden. »Das wäre ja gegen das Abkommen.«

Das Abkommen. Spencer. Custo.

Mit der Hand stieß die Frau gegen die lange Wand, die direkt in den Flur führte. Sie ging auf das Schlafzimmer zu.

Nichts da.

Talia griff das Messer, holte mit dem Arm Schwung und schleuderte die Klinge durch den dunklen Raum.

Talia konnte beim besten Willen nicht zielen, aber in den Schatten spielte das keine Rolle. Das Messer segelte in einem etwas unglücklichen Winkel durch die Luft und hätte die Geisterfrau vermutlich mit dem Griff an der Schulter getroffen. Aber Talia korrigierte den Kurs, bewegte die Schatten nach oben und drehte sie so, dass die Klinge sich in das linke Auge der Frau bohrte.

Kreischend krachte die Frau gegen die Wand und glitt lautlos nach unten, wobei sie sich an Spencer klammerte. Wie ein eng umschlungenes Liebespaar sackten sie gemeinsam auf den Boden. In der Stille war Spencers angestrengtes Atmen deutlich zu hören. Er richtete sich auf und krabbelte von dem Körper der Frau herunter, war aber zwischen Wand und Sofa gefangen. Er hatte sich fast befreit, als die Geisterfrau seinen Knöchel packte.

Regeneration machte hungrig. Die Frau zog die Klinge aus ihrem Gesicht, verteilte dabei weißes Gewebe auf Spencers schwarzer Kleidung und zog ihn an ihren weit aufgerissenen Mund. Er schoss und traf sie an der Schulter, aber der Schuss blieb ohne Wirkung. Die Geisterfrau erhob sich wie Phoenix aus der Asche und hatte Appetit auf ein gutes Frühstück. Als sie Spencer einen Kuss aufdrückte, gab der einen hohen, mädchenhaften Schrei von sich. Sein Körper zuckte, erschlaffte und brach zusammen.

Talia spürte, wie Spencer verblich, und erschauderte. Zu dumm. Was für ein Ende hatte er sich wohl vorgestellt? Das war jedenfalls das einzig Passende.

Als Spencer wie ein zusammengefallener Haufen auf dem Boden lag, setzte die Geisterfrau ihren Weg zum Schlafzimmer fort. Sie stand auf der Schwelle, als sie plötzlich erschrocken zurückwich. Ohne auf Hindernisse zu achten, krabbelte sie in den großen Raum zurück, rutschte auf den Glasscherben aus und stürzte rücklings aus dem Fenster.

Adam. Als Talia gerade in Richtung Schlafzimmertür schlich, kam er heraus. Sie kroch auf ihn zu, traf bei der Nische auf ihn und ergriff eine seiner blutverschmierten Hände. War das sein Blut? Sie trieb ihre Schatten um ihn. Der beißende Gestank von Blut hing wie Leichengeruch an ihm. Sie atmete durch den Mund und versuchte, nicht zu würgen.

Nachdem er wieder in Schatten gehüllt war, konnte Adam sie erkennen. Er war in den letzten fünf Minuten um zehn Jahre gealtert. Seine Augen verschleierten ein Gefühl, das sie nicht benennen konnte. Es strömte in sie hinüber finster, von Kummer und Schmerz durchzogen, aber er schien seltsam ruhig und entschlossen. Sie traute dem nicht und stellte fest, dass sie seine Wut lieber mochte. Dieses neue Gefühl war schmerzhaft, so als würde sie innerlich ein bisschen sterben. Was auch immer er in diesem Raum vorgefunden hatte, es musste sehr schlimm gewesen sein.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie. Ihre Worte waren vollkommen unangemessen, aber sie wusste nichts Besseres zu sagen.

Adam sah sich in dem Raum um und beobachtete mit versteinerter Miene die langsam und blind herumstaksenden Soldaten sowie die übrig gebliebenen Geister.

Schließlich blieb sein Blick an Spencer hängen. Er verzog die Lippen zu einem breiten Grinsen, bevor er sich abwandte. Spencer war Abschaum; er hatte es nicht verdient, dass man um ihn trauerte.

»Wir nehmen die Treppe«, erklärte er.

Gestern Patty, heute Custo. Adams Verluste häuften sich. Die Anspannung war ihm deutlich anzusehen er hatte jedes Recht zusammenzuklappen. Eigentlich hätte er schon längst zusammenbrechen müssen.

Die Gefühle schnürten Talia das Herz ein. Sie musste noch etwas sagen, ihn wissen lassen, dass er nicht allein war.

»Adam, ich «

»Nicht jetzt.« Er hielt ihre Hand so fest, dass es wehtat; der Rest seines Körpers war ganz ruhig.

Sie schluckte die übrigen Worte hinunter.

Nicht jetzt. Sie verstand. Solange Custos Blut an seinen Händen klebte, konnte er keinen Trost ertragen.

»Die Treppe«, wiederholte sie.

Er schien sich etwas zu entspannen, nickte knapp und kroch vorweg durch die Küche. Am Fahrstuhl vorbei manövrierte er sie zu einer nicht weiter gekennzeichneten Tür daneben. Zischend öffnete sie sich und führte in ein Treppenhaus.

Auf der anderen Seite stand ein Soldat, der mit erhobener Waffe an die Wand des Treppenhauses zurückwich.

Adam drehte sich um und stieß den Mann mit dem Fuß Hals über Kopf die Treppenstufen hinunter. Sie stiegen über seinen Körper hinweg und eilten nach unten, um den übrigen Soldaten in dem Loft zu entkommen. Talia versuchte, Schritte auszumachen, aber es folgte ihnen niemand. Vermutlich mussten sie sich erst um ein paar andere Dinge kümmern, nachdem Spencer tot war. Sie liefen einige Minuten ruhig, dann panisch die Stufen hinunter und verließen das Gebäude durch den Hinterausgang. Talia versuchte, ihr Keuchen zu unterdrücken.

Adam umklammerte fest ihre Hand, hielt sie dicht bei sich und hielt aufmerksam nach einem Hinweis auf mögliche Verfolger Ausschau. Er war zu still, zu ruhig, der Sturm in ihm schien völlig verstummt. Er war ganz eiserne Entschlossenheit. All seiner Mittel und jeglicher Vertrauensperson beraubt, versuchte er dennoch, die Welt mit seinen bloßen, blutverschmierten Händen zusammenzuhalten. Adam Thorne war der stärkste nein, der beste Mann, der ihr je begegnet war. Sie verstand, wieso Custo sein Leben für ihn geopfert hatte, sie würde genau dasselbe tun. Adam konnte alles von ihr verlangen. Ihren Atem, ihren Körper. Ihr Herz besaß er bereits.

Am Ende einer kleinen verlassenen Gasse wartete ein Wagen. Am Steuer saß Zoe. Offenbar war Abigail wieder an der Arbeit gewesen. Als sie gerade losfuhren, schrie ein Cop Halt!, aber Zoe zuckte nicht einmal mit der Wimper. Offenbar wusste sie, dass er ihnen nicht folgte. Unsinnigerweise bog sie in die entgegengesetzte Richtung ab, fuhr am nächsten Block aber wieder in Richtung Klub.

Nachdem sie dort eingetroffen waren, teilte Adam die illustre Ansammlung von Leuten mit einer Bewegung seines Arms. »Wo ist die Ärztin?«

»Hier.« Amalia bahnte sich einen Weg durch die Menge.

»Sie hört nicht auf zu zittern. Ihre Gesichtsfarbe ist nicht in Ordnung. Und ihre Haut ist feucht«, erklärte Adam.

»Es geht mir gut«, widersprach Talia, aber ihre schwache, krächzende Stimme bewies das Gegenteil. Der erstickende Belag war kein bisschen weniger geworden.

Adam drängte sie zurück in den kleinen dunklen Raum und setzte sie auf einen Stuhl. »Du siehst nicht gut aus.«

»Du auch nicht«, erwiderte Talia.

»Wann haben Sie das letzte Mal etwas gegessen?«, fragte Amalia, während sie eine Sauerstoffmaske über Talias Gesicht befestigte.

Bei dieser Frage stutzte Talia. Und nach Adams verwirrtem Gesichtsausdruck zu urteilen, er auch. Essen hatte nicht oben auf ihrer Prioritätenliste gestanden.

»Vielleicht vor vierundzwanzig Stunden«, gab Talia zu. Adam nickte widerwillig.

»Und geschlafen?«, bohrte die Ärztin weiter.

»Ich habe im Wagen geschlafen«, erklärte Talia. Sie deutete auf Adam. »Er schläft nie.«

»Sie haben Giftgas eingeatmet. Ich hatte vor allem Ihnen Ruhe verordnet.« Sie blickte zu Adam. »Und Sie sehen furchtbar aus. Ist das Ihr Blut oder das von jemand anders?«

Adam wirkte angespannt vor Kummer.

»Von jemand anders«, antwortete Talia für ihn.

»Ich kann etwas zu essen bestellen«, bot Zoe an und zog sich aus dem Tumult zurück.

Adam drehte sich zu Talia um. Er hatte diesen zu ruhigen Ausdruck in den Augen; ihr Magen krampfte sich zusammen und ihre Seele schrie Nein! Nein! Nein!

Er wandte den Blick in jenem Augenblick ab, als er dem ihren begegnete, und bestätigte damit ihren Verdacht. »Wenn du in Ordnung bist, muss ich ein paar Anrufe erledigen.«

Anrufe. Klar.

»Abigail hat gesagt, dass wir hierbleiben können«, fuhr er fort. »Versuch, etwas zu schlafen. Du musst dich ausruhen, damit du gesund wirst.«

Schlafen. Unmöglich.

»Ich brauche nicht lange.«

Wieso siehst du mich dann nicht richtig an?

Aber vor all diesen Leuten konnte sie ihn das nicht fragen. Nicht, wenn sein Schmerz noch so frisch war. Und solange sie an der Sauerstoffmaske hing, konnte sie nicht bei ihm bleiben. Sie wusste auch nicht, ob sie überhaupt das Recht dazu hatte. Also ließ sie ihn gehen. Sie hoffte nur, dass er keine Heldentat beging. Oder eine dumme Aktion plante. Zumindest nicht ohne sie.

t

Vor dem Raum bat Adam einen Kerl, der einen silbernen Steg durch den Knorpel in seiner Nasescheidewand gebohrt hatte, um ein schwarzes T-Shirt. Als er das Hemd gerade überzog, kam Zoe die Treppe hinunter und öffnete den Mund, als wollte sie noch mehr von Abigails Weisheiten von sich geben.

»Lass mich in Ruhe, Zoe. Und sag Abigail, dass sie sich aus meinen Sachen heraushalten soll.«

Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern eilte aus dem rückwärtigen Ausgang des Gebäudes hinaus und zu Fuß die Gasse hinunter, Essen und Schlaf waren ihm egal. Er musste dort weg, weg von Talias verdammten Feenaugen. Ihrem verlorenen, leidenden Blick. Sie sah zu viel.

Patty war tot. Custo war tot.

Er durfte, er konnte es nicht ertragen, wenn auch noch Talia durch seine Schuld starb. Um nichts in der Welt würde er ihr erlauben, sich dem Dämon bis auf »Schreiweite« zu nähern. Nicht jetzt. Nie. Nicht einmal, wenn sie die Welt retten konnte. Er würde das nicht zulassen. Nicht, solange er atmete.

Er hämmerte eine Nummer in sein Mobiltelefon, die er zwar bereits lange kannte, aber noch nie benutzt hatte. Nach dem ersten Klingeln hob Jack ab.

Jackson Flatt handelte mit einigen äußerst illegalen exotischen Waffen und Ähnlichem. Er verfuhr nach dem Prinzip ›Wer zuerst kommt, mahlt zuerst‹, und es war ihm egal, dass durch seine Waffen Unschuldige ums Leben kamen. Im Laufe der Jahre hatte Adam ein paar ausgefallene Sachen gebraucht, aber nie, unter keinen Umständen, hätte er mit Jack Geschäfte gemacht.

Doch die Zeiten hatten sich geändert.

»Hier spricht Adam Thorne.«

»Adam Thorne.« Jack zog die Vokale genüsslich in die Länge. »Was verschafft mir die Ehre deines Anrufs? Bist du auf den Hund gekommen?«

Adam unterdrückte den Impuls, das Gespräch zu beenden, und schluckte eine böse Bemerkung hinunter. »Ich brauche etwas. Kannst du es mir besorgen?«

»Wieso fragst du nicht deinen Laufburschen Spencer?«

»Spencer ist tot, und ich arbeite nicht länger mit dem IBÜ zusammen«, erwiderte Adam.

»Hm.« Jack schwieg und verarbeitete diese neue Information. »Willkommen auf der dunklen Seite. Was brauchst du?«

»L-Pillen.« Allein, das Wort auszusprechen, trieb Adam den Schweiß in den Nacken.

»Hat das etwas damit zu tun, dass in den Nachrichten über dich berichtet wird und die Polizei nach dir sucht?«

In den Nachrichten. Verdammt. Wenn man in den Nachrichten über ihn berichtet hatte, dann auch über Talia. Selbst wenn er das hier hinkriegte, war ihr Leben total verkorkst.

»Indirekt«, antwortete Adam.

»Kannst du bezahlen, bei dem ganzen Mist, den du an den Hacken hast?«

»Immer.«

»Ja, dann kann ich sie dir wahrscheinlich besorgen. Ich kenne einen Kerl. Falsch, ich kenne die Witwe von einem Kerl, der vermutlich hat, wonach du suchst. Kapiert?«

Jack war nicht gerade subtil. L-Pillen oder letale Pillen waren für einen schnellen und wirksamen Selbstmord gedacht. Die Aufnahme von Kaliumzyanid führte innerhalb von wenigen Minuten zum Gehirntod und kurz darauf zum Herzstillstand.

»Wie schnell kannst du sie mir besorgen?«

»Sagen wir in einer Stunde. Vielleicht in zwei. Wir treffen uns an der Grand Central Station. Kauf dir eine Zeitung, um dir die Zeit zu vertreiben. Ich finde dich.« Die Leitung war tot.

Adam wusste nicht, wie viel Jack für die Pillen verlangte, aber das war ihm egal. Tausend. Hunderttausend. Eine Million. Das spielte wirklich keine Rolle.

Adam kaufte eine Tageszeitung, las sie jedoch nicht, sondern steckte sie ein. Einem ahnungslosen Studenten am Bahnhof klaute er den Laptop und arbeitete. In ein paar Stunden hätte er einen Plan entworfen, wie er Talia in Sicherheit bringen konnte. In einer Datei auf seinem USB-Stick hielt er für sie fest, wie sie das Land verlassen sollte.

Als Jack sich drei Stunden später neben ihn auf die Bank fallen ließ, wimmelte es im zweiten Stock des Bahnhofs nur so von geschäftigen, schillernden, energiegeladenen Menschen, die nichts von der bevorstehenden Krise ahnten.

Adam klappte den Laptop zu und ließ den USB-Stick in seine Tasche gleiten, während Jack ihn unverhohlen von oben bis unten musterte. »Auf was bist du? Kokain? LSD? Etwas Exotischeres?«

»Ich bin high vom Leben«, antwortete Adam mit bitterer Ironie. »Hast du, was ich brauche?«

»Der Mist bringt dich um.« Jack hob eine zerknitterte braune Imbisstüte aus Papier.

»Genau darum geht es. Wieso interessiert dich das überhaupt?«

»Es interessiert mich nicht«, sagte Jack. »Ich verstehe nur nicht, wozu du es brauchst. Die verdammte Welt gerät aus den Fugen. In letzter Zeit sind ein paar ziemlich gruselige Sachen passiert. Mein Geschäft hat sich verdoppelt, aber die Kerle, die vorbeikommen, um ihr Zeug abzuholen, sehen sich ängstlich um, als wäre der Schwarze Mann hinter ihnen her. Und jetzt steigt auch noch Adam Thorne von seinem hohen Ross und bestellt eine Ladung L-Pillen. Das löst in mir den Wunsch aus, früh in Rente zu gehen und mich auf eine nette tropische Insel zurückzuziehen.«

»Wie viel willst du?« Adam nahm die Tüte und ertastete darin ein Röhrchen mit Pillen. Er war zu müde, um Jack über das Kollektiv aufzuklären.

»Die sind umsonst. Ich habe in den Nachrichten einen Beitrag gesehen, in dem du in Arizona ein Monster zusammengeschlagen hast, bevor der Sender ein paar hübsche Standbilder von dir und deiner Freundin eingeblendet hat, als sollte etwas verschleiert werden. Keine Ahnung, wieso sie sich die Mühe machen. Man kann das ohnehin überall im Internet sehen. Sagst du mir, was zum Teufel das war?«

»Ein Geist.« Allein das Wort auszusprechen, verdoppelte Adams Herzschlag, ein Adrenalinstoß versorgte ihn mit der nötigen Energie. Nur noch ein paar Stunden, dann war alles vorbei. Dann durfte er für immer schlafen.

»Gibt es noch mehr von diesen Monstern?«

Adam nickte und wollte aufstehen. »Viel mehr.«

»Mist.«

Kein Witz. Adam erhob sich, öffnete die Tasche und verstaute die Pillen. Ohne sich noch einmal umzusehen, eilte er auf den Ausgang zu und ließ Jack über die Zukunft sinnieren.

Was ihn anging, so konnte er die Sachen, die er in seinem Leben noch zu erledigen hatte, an einer Hand abzählen. Er musste zurück zum Klub, Talia den USB-Stick geben, irgendwie dort wegkommen, ohne dass sie ihm folgte, die Styx finden und mithilfe der kleinen Pille den Weg für den Schattenmann freimachen, damit er den Dämon töten konnte. Das war ziemlich überschaubar.

Er fuhr mit einem Taxi zurück zum Klub, dem AMARANTH, wie das schäbige Schild über dem Haupteingang verkündete, aber er ging durch den Hintereingang hinein. Der Laden war ruhig, was Adam misstrauisch machte. Wo war die Musik?

Adam stieß die Tür zu der Garderobe auf. Leer.

Ein Jugendlicher, der trotz der Tätowierungen, die sich seinen Hals hinaufschlängelten, in Jeans und T-Shirt beinahe normal aussah, schleppte irgendwelche Geräte durch den Hintereingang.

Adam hielt ihn auf. »Was ist hier los? Wieso ist es so ruhig?«

Der Kerl sah ihn finster an. »Alle bereiten sich auf die Party vor. Ich versuche herauszufinden, wie man diese verdammte Nebelmaschine in Gang setzt. Zoe sagt, dass Abigail Nebel sieht, also muss ich innerhalb der nächsten Stunde herausfinden, wie diese Nebelmaschine angeht, ansonsten habe ich keine Zeit mehr, mich fertigzumachen.«

Der Junge lief im Kreis umher. Adam schnitt ihm den Weg ab. »Und Talia?«

»Gräfin Schatten?«

Wie? Okay Adam nickte.

»Sie ist oben und schläft. Zoe hat gesagt, dass wir sie nicht stören sollen.«

Sie war eingeschlafen. Die perfekte Gelegenheit, ihr eine Nachricht und den Stick zu hinterlassen, auf dem sie alles fand, was sie zum Überleben brauchte, und sich anschließend davonzumachen, solange sie noch schlief.

»Danke.« Adam ging auf die Treppe zu.

»He!«, rief der Junge hinter ihm her.

Adam blieb stehen und blickte sich um.

Der Kerl trat von einem Fuß auf den anderen, als wäre er nervös. »Sind Sie Ihr Mann?«

Adams Stimmung verfinsterte sich. Was für eine Frage. Ihr Mann?

Er hatte sein Leben Talias Aufgabe verschrieben, und das noch bevor sie selbst überhaupt wusste, was ihre Aufgabe war. Er hatte sein gesamtes Netzwerk im Grunde für ihre Zwecke aufgebaut, für ihr Ziel. Die Leute, die dabei ihr Leben verloren hatten, hatten es geopfert, um sie zu schützen, damit sie den Geisterkrieg beenden konnte. Und all das war freiwillig geschehen.

Das hatte der Junge allerdings nicht gemeint, so, wie er mit angehaltenem Atem auf Adams Antwort wartete. Der Junge meinte es wörtlich und fragte nicht ohne Hoffnung. Als wenn er es einfach so mit einer Fee treiben könnte. Armer Junge.

Vielleicht hatte Abigail wieder etwas von dem Fenster geplappert.

Die Erinnerung erregte Adam. Die Art, wie er in Talia eingedrungen war, während sie über der Stadt geschwebt hatten, ihre unglaublich seidige, vollkommene Haut unter seinen Händen. Wie sie ihn mit ihrer Lust überwältigt und mit ihren Schatten den Raum erfüllt hatte. Er hatte den Glanz ihrer Schönheit nicht mit seinen normalen Sinnen wahrgenommen, sondern mit etwas, das tiefer in ihm war. Vielleicht mit seiner Seele, wenn er noch eine besaß. Er dachte an die Pillen in seiner Tasche, die Tatsache, dass er sein Leben gab, damit ihres in Sicherheit war, damit diese seltsame Schönheit unversehrt blieb.

»Ja«, erwiderte Adam. Er war ihr Mann. In jeder Beziehung.

»Ach.« Der Junge stieß einen tiefen Seufzer aus. »Okay, na dann.«

Adam ließ den Jungen mit seinen zerstörten Träumen zurück und lief die Treppe hinauf.

Von dem schmalen Flur am Treppenabsatz gingen auf beiden Seiten Türen ab, aber Adam war sicher, dass jene mit dem handgeschriebenen Schild BITTE NICHT STÖREN!!! Talias war. Die drei Ausrufezeichen sahen nach Zoe aus.

Leise schlüpfte er hinein, schloss die Tür hinter sich, drehte sich um und blieb vor Schreck wie angewurzelt stehen.

Er fand sich der Szenerie aus dem Bild Die Schlafende Schöne gegenüber. Wie Abigail musste der Künstler ein Hellseher gewesen sein, allerdings mit dem Talent gesegnet, seine Vision auf eine Leinwand zu bannen.

Talia lag auf einem altmodischen Diwan. Sie trug einen schwarzen Satinmorgenrock, der sich am Oberschenkel teilte und bis zur Hüfte hinauf ein langes, schlankes Bein freigab. Ihr weißgoldenes Haar fiel in dicken glänzenden Locken über das rote Samtkissen, auf dem ihr Kopf ruhte. Ein friedlicher Gesichtsausdruck, die Lippen leicht geöffnet.

Talia. Die schlafende Schöne.

Damit die Szene völlig dem Bild entsprach, müsste der Morgenrock ganz aufklaffen und ihren Körper vollkommen entblößen. Ihre Augen müssten geöffnet sein, aber noch schläfrig wirken. Und sie müsste ihn sehnsuchtsvoll ansehen.

Natürlich müsste er sie küssen, um die Fantasie wahr werden zu lassen. Sie wie die Prinzessin in einem Märchen wecken.

Aber das konnte Adam nicht. Er hatte keine Zeit für Fantasien und Träumereien. Alle für immer und ewig Glücklichen der Welt waren am Ende.

Lautlos ging er durch den Raum zu einem Beistelltisch, holte den USB-Stick aus der Tasche und legte ihn auf ein Papier. Er stand über den Zettel gebeugt, hatte aber keine Ahnung, was er schreiben sollte. Es gab keine Worte, die seine Gefühle ausdrückten. Alles, was ihm einfiel, erschien ihm zu kurz oder zu einfach oder zu abgenutzt, um den Knoten in seiner Brust zu beschreiben.

Für Talia Das ist alles, was ich besitze. Adam

Das war Mist, musste aber reichen.

Er richtete sich auf, ließ noch ein letztes Mal den Blick zu ihr gleiten und holte tief Luft, um den Augenblick in sich aufzunehmen. Um ihn dorthin mitzunehmen, wo er hinging.

Ihre Lider flackerten, und sie schlug die Augen auf, verschlafen und sinnlich.

Adam erstarrte und blieb wie angewurzelt stehen.

Er blickte in ihre Augen, als sie langsam zu sich kam. Ihre Umgebung wahrnahm, ihn wahrnahm. Und als zugleich ihr Verlangen erwachte. Verlangen war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, aber das Einzige, was er wollte.

Lust flammte in seinem erschöpften Körper auf; der Raum schwankte leicht vor seinen Augen.

Sie ließ einen Finger zu dem Knoten an ihrer Taille gleiten und löste das Satinband. Der Mantel teilte sich, und der Anblick glich nun vollkommen dem Gemälde.