15
Oh, Mist. In welche Richtung? Seine Unentschlossenheit machte Adam zu schaffen. Augenblicklich spürte er einen heftigen Druck in seinem Kopf. Er griff verzweifelt nach der kalten, nassen Metallleiter. Jeder Atemzug in diesem stinkenden, verrotteten Tunnel kostete sie Zeit, die sie nicht hatten.
Er blickte zu Talia – ihr Gesicht war grau, und wenn sich ihre Brust hob, rasselten ihre Lungen. Sie hatte ihn gebraucht, und er hatte versagt. Schon wieder. Jedes Mal, wenn er versagte, starb jemand.
Nur ein Beispiel: Das Kollektiv hatte Segue nicht herausgefordert, und er hatte sich in falscher Sicherheit gewiegt. Zwar war es ihm gelungen, seine Leute aus dem Institut in West Virginia herauszuholen, aber es gab keinen Kontakt zu den anderen Büros. Vermutlich waren die Mitarbeiter dort tot. Seine Schuld. Törichterweise hatte er geglaubt, das Loft in New York wäre sicher, doch es war angegriffen worden. Talia, ihre einzige Waffe im Krieg gegen die Geister, war verletzt. Ebenfalls seine Schuld.
Jetzt lief alles auf eine Entweder-oder-Entscheidung hinaus. Oben aussteigen oder im Tunnel bleiben. Eigentlich ganz einfach.
Aber er hatte keine Ahnung.
Talia brauchte medizinische Hilfe. Die konnten sie nur dort oben finden, andererseits war keine medizinische Hilfe immer noch besser, als geschnappt zu werden und endgültig aufzugeben.
Ach zum Teufel, was sollte er nur tun?
»Pssst.«
Adam fuhr herum, zog seine Waffe und zielte in die Richtung, aus der das Geräusch kam.
Er hatte zu lange überlegt. Man hatte sie gefunden.
Sein Herz hämmerte in Erwartung eines Angriffs. Sehr wahrscheinlich handelte es sich um Soldaten – Geister hätten ihn längst überwältigt. Er konzentrierte sich und zielte. Finstere Dunkelheit waberte durch den Tunnel. Er konnte überhaupt nichts erkennen.
Als er Talias Hand auf seinem Arm spürte, erschrak er. Er sah kurz zu ihr hinüber, woraufhin sie den Kopf schüttelte. Nein. Nicht schießen.
Er starrte zurück in die Dunkelheit. Was auch immer sich dort hinten verbarg, machte Talia keine Angst, aber er würde nicht noch einen weiteren Fehler begehen. Er packte die Waffe fester.
Talia drückte sein Handgelenk so, dass ihre Hand warm wurde. In die Schatten um ihn herum kam Bewegung, wie bei sich übereinanderschiebenden Gewitterwolken in einer mondlosen Nacht waren ihre Konturen deutlich zu erkennen. Der Gestank wurde intensiver. Er nahm unterschiedliche Fäulnisgerüche wahr, die alle ihren ganz eigenen übel riechenden Charakter hatten. In einem seltsamen Glockenspiel schlugen Wassertropfen vereinzelte Töne an.
Und in der Tiefe des Tunnels tauchte ein weißes Gesicht auf.
Ein Gespenst.
Nein. Ein junges Mädchen, das seine Augen schwarz geschminkt hatte und ihnen dadurch einen dramatischen Ausdruck verlieh. Sie musste um die – ja was sein? Sechzehn? Siebzehn?
Was zum Teufel tat sie hier unten?
Adam wollte schon auf sie zugehen – vielleicht kannte sie einen sicheren Weg aus dieser Hölle, wusste einen Ort, an dem sie sich verstecken konnten.
Aber er hielt sich zurück. Er würde nicht noch einen Fehler begehen und das junge Mädchen töten. Er konnte unmöglich das Leben eines Kindes für seinen Wunsch nach Sicherheit aufs Spiel setzen. Hier war Schluss.
Also die Leiter hinauf.
Er wandte dem Mädchen den Rücken zu und zog sich an einer Sprosse nach oben. Er musste erst den Kanaldeckel lösen, bevor er Talia die Leiter hinaufhalf. Durch die Bewegung löste sich ihre Hand von seinem Handgelenk. Es wurde heller, und die Gerüche verschmolzen wieder zu einem Einheitsbrei.
Ein leises Platschen lenkte seinen Blick nach unten. Talia ging von der Leiter weg auf das Mädchen zu.
»Nein, Talia!«
Aber sie hatte bereits ein ganzes Stück zurückgelegt. Noch ein Schritt, dann war sie in der Dunkelheit verschwunden.
Verdammt. »Talia!« Sein harsches Flüstern schlug ihm als Echo entgegen.
Keine Antwort. Ihm blieb keine andere Wahl, als ihr zu folgen und zu hoffen, dass das Kind nicht verletzt wurde oder gar Schlimmeres.
Mit drei langen Schritten war er bei ihr. So wie sie keuchte und hustete, hatte er sie leicht gefunden.
Als er sie eingeholt hatte, konnte Adam das junge Mädchen schließlich selbst sehen. Sie war wie eine Hexe gekleidet und hatte die Haare im Gothic-Stil gefärbt, schwarz mit einzelnen dunkelroten Strähnen. Ihre Haut schimmerte weiß. Obschon sie glatt war, wirkte die Frau älter, als er zunächst angenommen hatte. Mitte zwanzig vielleicht.
»Bist du die Fee?« Das Mädchen hob eine mehrfach gepiercte Braue.
Adam erschrak. Fee? Woher zum Teufel wusste sie das …?
Aus den Augenwinkeln sah er, wie Talia bestätigend nickte.
»Ansonsten würdest du nicht in diesem verdammten Loch herumschleichen. Hier entlang.« Mit dem Kopf deutete das Mädchen in eine Richtung, drehte sich um und ging den Tunnel hinunter.
Talia fasste seinen Ellenbogen und zog ihn mit sich. Als sie das Mädchen eingeholt hatten, beugte Adam sich nach vorn und fragte mit leiser Stimme: »Wer bist du? Wohin gehen wir?«
Das Gothic-Mädchen blickte über ihre Schulter zurück. »Ich bin Zoe und bringe euch zu Abigail.«
Alles klar.
Adam versuchte es noch einmal. »Woher wusstest du, dass wir hier unten sind? Und wer ist Abigail?«
Das Mädchen ging weiter und lächelte ihn dabei über ihre Schulter hinweg schief an. »Abigail ist meine Schwester. Ich wusste, ihr seid hier unten, weil sie mir gesagt hat, dass ich euch hier finde.«
Adam hätte sie am liebsten geschüttelt. Ihre Antworten erzeugten nur noch mehr Fragen, und das bereitete ihr ganz offensichtlich Vergnügen. »Woher wusste Abigail, wo man uns findet?«
»Sie hat euch gesehen«, erwiderte Zoe gedehnt und sah sich nicht einmal um.
Adam kam zu einem einzigen Schluss: Man hatte sie entdeckt. Wo? »Wie?«
Er bemerkte erst, dass er die letzte Frage laut ausgesprochen hatte, als das Mädchen antwortete: »Das weiß ich nicht. Das müsst ihr sie fragen.«
Sie trabten den Kanal entlang. Ihr Atem und ihre Schritte hallten von den Wänden wider und erzeugten gespenstische Geräusche und Bewegungen. Adam spürte, wie Talia sich stärker auf ihn stützte.
»Wie weit ist es noch? Sie braucht medizinische Hilfe.«
»Das hat Abigail auch gesehen. Es gibt eine Ärztin für euch.«
Abigail sollte sich lieber ein paar gute Antworten überlegen.
Als Talia stolperte, fing Adam sie gerade noch auf, bevor sie in den Abwasserkanal fiel. Sie stöhnte, während er sie hochhob. Am liebsten hätte er sie über eine Schulter geworfen, sodass er mit der einen Hand zumindest die Waffe halten konnte, aber er traute sich nicht, Druck auf ihr Zwerchfell auszuüben. Fluchend schob er die Waffe in den Gürtel und wiegte sie wie ein Baby in seinen Armen, wobei es ihn zur Verzweiflung brachte, dass sie ihn mit seinem Körper schützte und nicht umgekehrt.
Der Tunnel endete an einer Kreuzung aus Müll, und Zoe wählte den linken Weg, der auf einen dröhnenden Bass zuführte, in den sich ein hohes Jaulen mischte – da hatte jemand eine sehr eigenwillige Vorstellung von Musik.
Sie blieb an einer Metallleiter direkt unterhalb des Lärms stehen. »Die hier.« Adam musste die Worte von ihren Lippen ablesen, denn er konnte sie nicht hören.
Das Mädchen kletterte hinauf, und Adam fragte sich kurz, ob er Talia nun doch über seine Schulter werfen musste, aber Talia richtete sich auf, griff nach den Sprossen und erklomm die Leiter eine Stufe über ihm. Als sie oben ankam, griffen diverse Arme nach ihr und zogen sie durch das Loch, als hätten sie sie bereits erwartet. Adam hievte sich durch das Loch und fand sich in einer dunklen Gasse wieder, mehrstöckige feuchte Betongebäude ragten zu beiden Seiten auf. Eine Gruppe von Leuten trug Talia zu dem Hintereingang des ersten Gebäudes. Verzerrte Töne elektronischer Musik drangen aus der Tür.
Er sprang aus dem Gullyloch und folgte ihnen. Zwar juckte es ihm in den Fingern, seine Waffe zu ziehen, doch seine Vernunft siegte über diesen Impuls.
Abwarten.
Er betrat den Hintereingang von etwas, das ein Klub zu sein schien. Eine schwere Metalltür fiel hinter ihm ins Schloss. Der Geruch von abgestandenem Zigarettenrauch hing im Eingangsbereich und im Hauptraum. Die Wände hatte man schwarz gestrichen, ebenso den Betonboden. Überall hingen grelle, billige Flugblätter, was dem abgerockten Flair des Ladens eine freundliche Note verlieh.
Die Musik setzte sich aus einem düsteren Bassrhythmus und einzelnen melodischen Gitarreneffekten zusammen, die fast heiter geklungen hätten, wären sie nicht etwas dissonant gewesen. Eine Frauenstimme krönte die Melodie mit überirdischer, wenn nicht gar künstlicher Perfektion.
Eine Gruppe von Leuten, die ganz offensichtlich der Subkultur angehörten, drängte sich links um eine offen stehende Tür herum. Einige waren wie Zoe in Schwarz gehüllt, wobei sie die Kleidung mehr der Stimmung und Aussage wegen als zum Tanzen gewählt hatten. Eine Frau trug eine Kombination aus Korsett und Netzstrümpfen, während ein Kerl offenbar eine Leidenschaft für Piercings hatte und seine Ohrläppchen von einer ganzen Batterie Metallringe in die Länge ziehen ließ, was er durch Stifte in Brauen und Lippe ergänzte.
Wie die Musik wirkten auch ihre Mienen widersprüchlich und drückten eine seltsame Mischung aus Nihilismus und zugleich Sorge um Talias Zustand aus.
Adam streckte sich, um an der Gruppe vorbeizusehen und entdeckte Talias markantes weißblondes Haar in einem schwarzen Loch, das einmal eine Garderobe gewesen sein musste. Er bahnte sich einen Weg durch die Menge.
Über Talias Mund und Nase saß eine durchsichtige Sauerstoffmaske. Eine junge Frau in Jeans und T-Shirt kniete mit einem Stethoskop hinter Talia. Wie sie in diesem ohrenbetäubenden Lärm etwas hören wollte, war ihm ein Rätsel. Die Ärztin befestigte einen weißen Clip an Talias Finger; der Clip war an einen digitalen Bildschirm angeschlossen, wahrscheinlich maß er Puls und Sauerstoffgehalt des Blutes.
Obwohl ihre Haut rosig schimmerte, suchte Adam in Talias Augen nach einem Hinweis darauf, dass sie litt. »Bist du okay?«
Als Reaktion kräuselte sich beim Versuch zu lächeln die Haut um ihre Augen, und sie hob einen Daumen nach oben.
Die Anspannung in Adams Nacken und Schultern ließ etwas nach.
Er wandte sich an die Ärztin. »Wird sie wieder gesund?« Er hatte nicht so fordernd und streng klingen wollen, denn er wusste, dass etwas Dankbarkeit angezeigt war.
Die Frau blickte von Talia zu Adam. »Einen Moment bitte, ja?«
Adam trat zurück … Geduld zählte nicht zu seinen Stärken. »Was ist mit dieser Abigail? Wo ist sie?«
»Ich bringe dich hin«, zwitscherte eine Stimme hinter ihm.
Adam drehte sich um. Zoe.
»Ich lasse Talia nicht allein. Bring Abigail her.«
Zoe hob erstaunt eine dünne Braue. »Was denn? Glaubst du etwa, wir tun ihr etwas an?«
»Ihr vielleicht nicht, aber wahrscheinlich sind uns die Leute, die Talia das angetan haben, auf den Fersen.« Zumindest hatten sie inzwischen den versteckten Aufzug und den Weg in den Kanal entdeckt. Dieses Gebäude lag nicht weit von seinem Loft entfernt.
Mit einer Handbewegung wischte Zoe seine Sorgen beiseite. »Nein. Das hätte Abigail gesehen.«
»Wer ist sie? Hat sie den Kanal verkabelt oder so etwas?«
Zoe schnaubte. »Sie hat die gesamte Welt verkabelt. Komm mit mir, und lerne sie kennen.«
Adam blickte hinunter zu Talia. Er konnte sie nicht einfach hierlassen.
Talia hob eine Hand und bedeutete ihm zu gehen. Als er dennoch zögerte, scheuchte sie ihn mit einer Geste davon. »Ach, geh schon«, krächzte sie und hustete.
»Bitte«, fügte die Ärztin hinzu und rollte mit den Augen.
Verdammt. Adam beugte sich zu Talias Ohr hinunter. »Sei vorsichtig. Nutze notfalls die Schatten.« Und weil sie sich trotz des fauligen Gestanks in dem Abwasserkanal einen zarten Duft in den Haaren bewahrt hatte, gab er ihr einen Kuss auf die Wange.
Zoe führte ihn durch den Flur zum Treppenhaus. Von dem Treppenabsatz, der leicht von der Musik vibrierte, gingen auf beiden Seiten Räume ab. Sie betraten den zweiten auf der rechten Seite und bewegten sich auf einen Sternenvorhang zu, den Zoe beiseitezog.
In einem Schaukelstuhl saß ein vertrocknetes altes Weib mit strähnigen grauen Haaren in einem zeltartigen geblümten Hauskleid, vermutlich Abigail, obwohl sie deutlich zu alt war, um Zoes Schwester zu sein. Ihre Augäpfel waren von einem dunklen, milchigen Film überzogen, der nicht verschwand, wenn sie blinzelte. Der Raum roch streng und abgestanden, nach Krankheit.
Adam blickte sich um. Krankenbett, Waschbecken, Bücherstapel – den Buchdeckeln nach zu urteilen, handelte es sich um leidenschaftliche Liebesromane – und auf dem Bett eine offene Packung mit billigen Schokoladenkeksen, bei deren Anblick sein Magen zu knurren begann. Allerdings gab es in dem Raum kein Überwachungssystem; das Technikzentrum musste sich an anderer Stelle befinden.
»Sie sind attraktiver, als ich dachte.« Abigails Stimme klang klar, jung, ausgeglichen und stand im Widerspruch zu ihrem Aussehen.
Was Adam bewog, etwas genauer hinzusehen. »Wer sind Sie? Woher wussten Sie, wo Sie uns finden?«
»Ich bin Abigail. Und ich wusste, wo ich Sie finde, weil ich Sie dort gesehen habe.«
Jetzt bemerkte Adam die Verwandtschaft, denn sie drückte sich genauso kryptisch aus wie ihre »Schwester«. Dazu fehlte ihm die Geduld. Er musste Talia holen und in Sicherheit bringen.
»Ach, nehmen Sie sich schon einen Keks, und setzen Sie sich. Hier sind Sie in Sicherheit.«
Adam zögerte und nahm dann am Fußende des Bettes Platz. Er zwang sich, höflich und beherrscht zu sprechen. »Danke für Ihre Hilfe und für die medizinische Versorgung meiner …« Ja, was war Talia überhaupt für ihn? Angestellte? Geliebte? »… Freundin. Wenn Sie wussten, wo Sie mich finden, wissen Sie ja vielleicht auch, welche Umstände uns hergebracht haben. Ich würde es deshalb sehr schätzen, wenn Sie oder Ihre Schwester etwas entgegenkommender mit Ihren Antworten wären.«
Missbilligend presste Abigail die Lippen zusammen. »Das Leben ist kurz. Sie sollten versuchen, etwas mehr Spaß zu haben.«
Adam lachte bitter. »Das ist momentan nicht möglich.«
»Dann entspannen Sie sich wenigstens. Ich konnte Sie in dem Tunnel sehen, weil ich die Gabe habe, Ereignisse vorherzusehen. Mein Auge wird jetzt bereits seit einer Weile zu Ihnen hingezogen.« Sie zog einen Mundwinkel nach oben. »Übrigens, das war gute Arbeit vorhin. So vor dem Fenster. Sehr nett.« Sie wedelte sich mit der Hand etwas Luft zu.
Adam runzelte die Stirn, seine Laune verfinsterte sich, aber die Frau fuhr fort. »Gönnen Sie mir doch das bisschen Spaß – ich bin einunddreißig Jahre alt, aber was mein Auge mir gezeigt hat, hat mich zu einer alten Frau gemacht.«
Adam schluckte schwer. »Können Sie in die Zukunft sehen?«
»In viele verschiedene.«
»Viele?«
»So viele, wie es Möglichkeiten gibt.«
»Bezwinge ich in irgendeiner Zukunft den Todessammler?«
»Nein.«
Eine Welle der Hilflosigkeit schwappte über ihn hinweg. Dann war alles umsonst. Am Ende würde das Kollektiv siegen. Er bekam keine Luft. Ein verheerendes Brüllen erfüllte seinen Kopf, und Adam stützte sich mit den Händen auf den Knien ab.
Abigail schnalzte mit der Zunge. »Sehen Sie sich nur an. Sie sind arrogant. Selbstgefällig. Sie haben sich selbst zum Helden erkoren. Glauben Sie wirklich, in diesem Krieg ginge es um Sie?«
Adams Kopf fuhr hoch.
»Na, jetzt hören Sie mir endlich zu. Der Dämon stirbt nicht durch Ihre Hände. Ich sehe nur ein Ende für Sie, dasselbe Ende, dem sich jeder auf dieser Welt stellen muss.«
Den Tod. Er brauchte einen Augenblick voller Verzweiflung, um die Nachricht zu verarbeiten, aber tief in seinem Inneren hatte er immer gewusst, dass er diesen Krieg nicht überleben würde. Er dachte an Talia, die Tochter des Todes, und der Schmerz ließ nach. Wenn der Tod nur annähernd war wie sie, konnte das Ende nicht so schlecht sein. Bei der Erinnerung daran, wie ihre weichen Schatten über ihm schwebten, wurde ihm warm. Das war alles andere als schlecht.
Aber was geschah mit dem Rest der Welt? Was war mit dem Geisterkrieg? »Wird irgendjemand anders den Dämon bezwingen?«
»Vielleicht.«
»Wer?« Aber er kannte die Antwort bereits.
Als Abigail lächelte, bildeten sich um ihre Augen Lachfältchen. »Klatschen Sie, wenn Sie an Todesboten glauben.«
Der Schattenmann. »Dann muss Talias Stimme heilen, damit sie den Tod rufen kann.«
»Um das klarzustellen«, erwiderte Abigail. »Meine Gabe versetzt mich nicht in die Lage, eine Todesfee zu sehen. Und auch nicht denjenigen, von dem Sie als Schattenmann sprechen…«
Adam hielt die Luft an, als er begriff, wie genau Abigail Bescheid wusste. Jemand kannte die ganze Zeit bereits die Lösung seiner Rätsel.
»… noch die Frau da unten. Das Leben der Todesfeen gehört ihnen nicht, ihr Schicksal ist vorherbestimmt. Ihre Existenz wird von der Aufgabe geprägt, für die sie geboren werden. Deshalb ist es mir nicht möglich, ihre Wege vorherzusehen. Mit meiner Gabe kann ich sie erst in der Welt der Sterblichen verfolgen. Sie und mich und Zoe und den armen Mann, dessen Körper dem Dämon als Wirt dient. Den Dämon selbst kann ich nicht sehen.«
Adams Herz setzte aus. Er beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt. »Was meinen Sie mit ›der arme Mann, dessen Körper dem Dämon als Wirt dient‹?«
»Ein Dämon besitzt nur so viel Kraft, wie ein Sterblicher ihm verleiht. Diese arme Seele hat dem Dämon seinen freien Willen im Tausch für …«
»Macht gegeben«, beendete Adam.
Schmollend verzog Abigail den Mund. »Nein. Macht ist Ihre Schwäche. Sie behalten gern die Kontrolle, sind gern derjenige, der die Entscheidungen trifft. Der Mann, der den Dämon in sich aufgenommen hat, wurde von Angst gequält. Er hatte Angst zu leben, Angst zu sterben, Angst vor Menschen. Er wollte ohne diese Angst leben. Seinen Frieden haben.«
Adam war angewidert. Das alles aus Angst. Unglaublich.
Abigail hob eine Braue. »Wissen Sie, wie es ist, wenn man Angst hat? Richtige Angst?«
»Natürlich.« Jeder hat Angst. Aber sich deshalb einem Dämon überlassen? Nein.
Sie kicherte und machte sich über ihn lustig.
»Ich habe Angst gehabt«, beharrte er. »Haben Sie meinen Bruder gesehen? Ich habe in seinen Schlund gestarrt, als er das Leben aus mir heraussaugen wollte. Das war verdammt schrecklich.« Bei der Erinnerung schlug sein Herz schneller, sein Magen krampfte sich zusammen. Ja, er wusste, was Angst war.
Abigail schien unbeeindruckt. »Es gibt Schlimmeres.«
Adam konnte sich unmöglich Schlimmeres vorstellen, aber das Thema war ohnehin irrelevant. Er kehrte zu seiner ursprünglichen Frage zurück: »Kann ich den Wirt töten und somit den Dämon?«
»Ein praktischer kleiner Trick, um mit der Unsterblichkeit des Dämons fertig zu werden?«
»Ja, genau«, sagte er, obwohl ihm der sarkastische Ton, mit dem sie seine Frage wiederholte, nicht gefiel.
»Sie würden den Mann töten, aber nicht den Dämon. Früher oder später – wahrscheinlich eher früher – würde der Dämon sich einfach einen anderen Wirt suchen.«
»Somit wären wir wieder am Anfang: Talia muss schreien, um ihren Vater zu rufen, und dann bringt der Schattenmann die Sache zu Ende.« Adam stand auf. Wenn er hier keine neuen Antworten fand, musste er Talia fortbringen, bevor jemand sie entdeckte.
Abigail zuckte mit den Schultern. »Das ist eine Variante«, murmelte sie. Sie kauerte sich in ihren Stuhl und ließ keine weiteren Erläuterungen folgen.
Adam biss nicht darauf an. Er hatte genug von ihren Spielchen. »Können Sie mir sagen, wo ich den Dämon finde?«
»Wollen Sie dem Kollektiv beitreten?«
Vor Wut verhärteten sich die Muskeln in seinem Nacken. Jetzt hatte er aber genug. Er schluckte die Antwort hinunter, die ihm auf der Zunge lag, und sagte stattdessen: »Nein. Ich muss wissen, wo ich ihn finde, damit ich Talia sicher in Position bringen kann.«
»Ich glaube, Sie unterschätzen sie.«
»Können Sie es mir sagen oder nicht?«
Sie seufzte vollkommen erschöpft. »Ich sehe Wasser. Ich sehe die Styx.«
»Müssen Sie sich wieder unnötig kryptisch ausdrücken?« Sie faselte etwas von griechischer Mythologie, er brauchte eine aktuelle Adresse.
»Ich meine das wörtlich«, schoss sie zurück. »Die Styx ist ein Schiff, einfach ein Schiff mit einem passenden Namen. Wenn Sie eine Fahrkarte für die Styx erwerben, kaufen Sie eine Fahrkarte in die Unterwelt.«
»Sehen Sie noch etwas anderes? Irgendetwas, das Talia oder mir helfen könnte?«
»Nein, das ist alles …« Abigail sprach nicht weiter, ihr Blick glitt an Adams Schulter vorbei.
Er drehte sich um und fand dort Talia umrahmt von dem Sternenvorhang, der den Raum teilte.
»Willkommen«, sagte Abigail hinter ihm. »Ich warte schon sehr lange auf dich.«
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Talia blickte zu der alten Frau in dem Stuhl. Das Licht auf ihrem Haar ließ einzelne Strähnen silbrig schimmern. Ihre Haut war faltig und hing schlaff herunter. Es war etwas … Seltsames an ihr, jenseits des dunklen Schleiers, der über ihren Augen lag.
Adam fasste Talias Schultern und suchte ihren Blick. »Geht es dir wieder gut?«
»Ich bin …« Talias bereits dürre Stimme brach. Sie räusperte sich vorsichtig, sodass der brennende Schmerz in der Brust nicht wieder aufbrach. Sie versuchte, leise zu flüstern, doch es klang trotzdem rau und holperig. »Es geht mir gut. Amalia, die Ärztin, sagt, ich hätte Glück gehabt. Ich muss mich schonen, mich ausruhen, und nach einer Weile bin ich wieder normal.«
Normal. Nicht annähernd. Die irdische Komponente des Gases würde sich vielleicht langsam verflüchtigen, aber der überirdische Teil klebte in ihrem Hals und in den Lungen wie widerliches Öl. Sie wurde es weder durch Wasser noch durch Husten los.
»Das bestätigt nur meinen Verdacht«, stellte Adam fest. »Wenn sie dich umbringen wollten, hätten sie diverse Gelegenheiten gehabt. Sie wollen dich lebendig. Das Gas sollte uns so lange unschädlich machen, bis sie dich haben. Hast du erfahren, wie lange die Stimme braucht, um sich zu erholen?«
»Ich weiß es nicht …« Talia zuckte mit den Schultern. Das Vibrieren ihrer Stimmbänder schmerzte in ihrem Hals. Das Atmen brannte sowohl in ihrer Nase als auch in ihrem Mund. Und dieses dunkle Zeug würgte sie und ließ ihre Lungen nach reiner Luft schreien. Aber mit Letzterem würde sie Adam nicht belasten. Der Mann musste sich schon genug sorgen.
»Du solltest nicht sprechen.« Er umfasste fester ihre Schultern und biss verzweifelt die Zähne zusammen. Dann lehnte er seine Stirn gegen die ihre und hielt dort einen Augenblick inne, sein Kopf an ihrem Kopf. Seine Sorgen sickerten in ihr Bewusstsein. »Okay. Wir müssen einen sicheren Ort finden, an dem wir uns aufhalten können, bis du wieder ganz gesund bist. Etwas Einsames und Unauffälliges. In der Zwischenzeit können wir Pläne machen.«
Talia nickte vorsichtig, wollte den intimen Moment nicht zerstören. Sie hätte sich gern in seine Arme und an seine Brust geschmiegt, aber seine Worte aus dem Loft, »in einer anderen Welt, zu einer anderen Zeit«, hielten sie zurück. Sie wusste, dass Adam etwas für sie empfand, aber seine Prioritäten hatten sich nicht geändert: Zuallererst kam der Krieg. Diese Tatsache schmerzte sie mehr als die chemischen Gase, auch wenn er recht hatte. Sie war auf die Welt gekommen, um diesen Krieg zu beenden.
»Ihr könnt eine Weile hierbleiben«, erklärte Abigail. »Hier seid ihr sicher. Ich sehe keine Zukunft, in der das Kollektiv das Gebäude durchsucht.«
Wie bitte? Talia wiederholte die Worte der alten Frau in ihrem Kopf. Sie ergaben keinen Sinn.
»Was …« meint sie?, wollte Talia fragen und blickte zu Adam auf, denn ihr Hals schmerzte und erstickte ihre Worte.
Adam löste sich von ihr und drehte sich um. »Das ist Abigail. Sie kann in die Zukunft sehen. Oder in viele verschiedene Arten der Zukunft, je nachdem, welche Entscheidung die Leute treffen.«
»Kann sie …« meine sehen? Talia legte eine Hand auf ihre Brust.
Adam schüttelte den Kopf. Nein. »Die Zukunft von Feen kann sie nicht sehen.«
Aber … Talia machte eine Geste mit der Hand an ihrem Körper hinunter, als würde sie sich zweiteilen.
»Ich weiß«, erwiderte Adam. »Du bist zur Hälfte ein Mensch. Abigail sagt, dass sie deine Zukunft dennoch nicht sehen kann. Anscheinend ist das Blut von deinem Vater ein bisschen dicker als das deiner Mutter.«
Kann sie deine sehen? Talia deutete auf Adam.
»Zum Teil«, antwortete er und wandte den Blick ab.
Welchen »Teil«? Talia hätte ihn am liebsten geschüttelt.
Talias Blick glitt zu Abigail, die amüsiert eine Braue hob.
Wenn die Frau Adams Zukunft voraussehen konnte, musste sie auch in der Lage sein, etwas von Talias Zukunft zu sehen. Adam musste bei ihr sein, wenn sie schrie, wenn der Schattenmann den Krieg beendete. Und danach? Was geschah dann? War sie ein Teil von Adams Zukunft?
»Ihr könnt vorläufig hierbleiben. Den Flur hinunter haben wir ein Zimmer für euch hergerichtet. An den Lärm von unten werdet ihr euch gewöhnen. Wenn ihr euch ausgeruht und …«, Abigail rümpfte die Nase, »… gewaschen habt, wäre es nett, wenn ihr herunterkämt und euch vorstellt.«
»Ich glaube kaum, dass es eine gute Idee ist, wenn wir uns in der Öffentlichkeit blicken lassen«, sagte Adam. »Ich will das Schicksal nicht herausfordern, indem ich mich in einem vollen Klub aufhalte.«
Talia war seiner Meinung.
»Aber sie sind alle euretwegen hier.« Abigail blickte Talia direkt in die Augen, während sie sprach. Die Wucht ihrer Äußerung ließ Talia zurückweichen.
»Was …« meinen Sie? Talia ahnte Schlimmes, und ihr angegriffenes Zwerchfell spannte sich schmerzhaft.
»Das hier ist kein Klub«, erklärte Abigail. »Es ist ein Fest. Eine Todesparty. Wir haben uns hier versammelt, um dich, Banshee, und deinen Vater, den Schattenmann, zu feiern. Wir haben längst begriffen, dass der Dämon, der sich selbst als der Todessammler bezeichnet, ein Versehen ist, eine Plage, die eine Bedrohung für die Welt darstellt. Endlich gibt es eine Fee, die sich um die untoten Wesen in New Yorks Straßen kümmert und etwas gegen sie ausrichten kann. Wir feiern, dass ein Ende in Sicht ist. Denn wir haben viele Jahre auf diesen Tag gewartet.«
Talia legte die Hände auf ihre erhitzten Wangen. »Ich … ich …« Alle hatten auf sie gewartet? Sie sollte einen vollen Raum betreten, in dem alle über sie Bescheid wussten? In dem alle wussten, wer ihr Vater war?
Adam legte einen Arm um ihre Taille, während er sprach. »Wenn Sie so viel wissen, so viel sehen, wieso haben Sie dann nicht früher nach mir oder Talia gesucht?« Seine Stimme klang gleichgültig, aber Talia spürte seine unterdrückte Wut. »Sie hätten die Bedrohung abwenden können, bevor so viel passiert ist. Bevor so viele sterben mussten.«
»Das hätten wir tun können, aber durch meine Gabe wusste ich, dass dieser Weg nicht zum Erfolg führt. Sie mussten Talia finden, nur so können wir den Dämon besiegen.« Ein Lächeln umspielte Abigails Lippen.
»Warum?«, stieß Adam hervor.
Talia konnte es sich denken. Sie bemerkte, wie Abigail sie mit ihrem Blick durchbohrte. Sie musste Talia nur für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen sehen und wusste Bescheid. Mit selbstzufriedener Miene lehnte Abigail sich in ihrem Schaukelstuhl zurück.
Die alte Talia hätte sich nie auch nur einem einzigen Geist entgegengestellt, ganz zu schweigen ihrem Anführer. Aber sie hatte sich verändert. Die Monate, die sie vor den Geistern auf der Flucht gewesen war, jener Moment in der glühendheißen Gasse in Arizona, ihr Aufenthalt in Segue, Adams Verständnis – all das hatte sie verändert. Sie funktionierte mit ihrer Angst. Sie ließ sich von ihrer Angst nicht davon abhalten, nach Antworten zu suchen. Schaffte es, sich und ihre dunkle Gabe zu akzeptieren. Und in Gedenken an Patty hatte sie gelernt, ihre Angst für etwas zu überwinden, das wichtiger war als sie selbst.
Wenn es sein musste, konnte sie jetzt einem unsterblichen Dämon ins Gesicht schreien.
Anscheinend konnte Abigail doch in die Zukunft von Feen sehen.
Adam öffnete den Mund, um seine Frage zu wiederholen, kam jedoch nicht mehr dazu, weil Abigail auf einmal keuchte. Mit flackernden Augen ließ sie den Kopf gegen die Lehne des Schaukelstuhls sinken. Sie stöhnte laut und tief.
Adam blickte zu Zoe. »Was hat sie?«
»Eine Vision«, erwiderte Zoe.
Soweit das überhaupt möglich war, schien Abigail vor Talias Augen noch stärker zu altern.
Angespannt griff Talia nach den Schatten. Die Schleier glitten um ihre Schultern, ihre Sinne verschärften sich. Sie kämpfte nicht gegen die Dunkelheit, sondern ließ die Verbindung zum Jenseits um sich herumfließen. Dazu war sie schließlich auf der Welt.
»Ich sehe einen Mann«, wimmerte Abigail.
Talia beobachtete Adam, der vor Abigails Stuhl kauerte, um keinen Hinweis aus ihrer Vision zu verpassen. Die Schatten umwaberten ihn, sammelten sich und wälzten sich wie ein Gewittersturm von seinen breiten Schultern.
»Einen Mann, der auf der Suche nach etwas ist …«, wiederholte Abigail.
Sie war anders. Bei Abigail sickerten kleine schwarze Rauchfähnchen in den Körper, sammelten sich in ihren Augen und teilten sich den Platz mit ihrer Seele.
Die Frau musste vollkommen irre sein. Vielleicht war sie es ja tatsächlich ein bisschen.
Am Rand von Abigails Schatten erhaschte Talia einen Blick auf ihre Vision.
Ja, es tauchten Gesicht und Körper eines Mannes auf, der auf der Suche nach etwas war. Er betrat das Erdgeschoss des Gebäudes, das Adam einst für sicher gehalten und das sich jedoch als Falle entpuppt hatte.
»Wer ist es?«, fragte Adam.
»Custo«, erwiderte Talia. Und er lief geradewegs hinein. Direkt in die Falle.