16

»Es ist Custo«, wiederholte Talia, während sie in den dichten Schleier aus Schatten starrte, der Abigail umgab. Dann verschwand das Bild.

»Er wollte mich im Loft treffen.« Adam bemühte sich, seine Gefühle zu kontrollieren, aber man hörte ihm deutlich an, wie aufgewühlt er war.

Talia blickte sich hektisch nach den überlappenden Schattenwellen um und suchte nach dem Bild von Custo. Sie entspannte ihre Augen, atmete die verführerischen dunklen Rauchfahnen ein, gegen die sie sich ihr Leben lang gewehrt hatte, und ließ sich von ihnen erfüllen.

Zukunftsvisionen blitzten vor ihr auf und vermehrten sich rapide, bis so viele Varianten erstrahlten wie Sterne an einem klaren Nachthimmel. Sie begriff, dass jede noch so unbedeutende Entscheidung eine weitere nach sich zog, und diese wiederum eine weitere, bis sich aus den Entscheidungen mögliche Konstellationen ergaben, die nichts über ihre Wahrscheinlichkeit aussagten. Es war schwierig, eine Person zu isolieren, nur ein Ereignis oder auch nur ein Segment für sich zu verfolgen. Schließlich entdeckte sie etwas von Custo, seine ehrlichen Augen blitzten auf.

Aufgeregt und mit pochendem Herzen bemühte sie sich, seinen Aufenthaltsort auszumachen und herauszufinden, was er tat. Aber es blitzten nur einzelne Bewegungen auf und gelegentlich ein etwas verzögertes Abbild seiner Umgebung. Glänzender Stahl. Beton. Die Strahlen der aufgehenden Sonne hinter einem hohen, breiten Fenster, das jetzt von faustgroßen Löchern übersät war.

Talia ließ die Schatten über ihre Haut gleiten, ihr Gesicht und ihren Körper von ihnen streicheln. Wenn sie sich nicht gegen die Schatten wehrte und zuließ, dass einzelne Bahnen ihre Glieder umschmeichelten, sie umarmten, und sie sich von der Dunkelheit umhüllen ließ, konnte sie klarer sehen.

Zunächst verdoppelte sich ihre Vision, dann verdreifachte sie sich. Ein weiterer Custo näherte sich dem Gebäude mit dem Loft und musterte die Tastatur an der Tür. Wieder ein anderer Custo folgte ihm auf den Fersen und rannte über den Bürgersteig. Auf der schräg gegenüberliegenden Straßenseite lief ein weiterer Custo auf den Fußgängerüberweg an der Ecke zu, als gerade ein Wagen, in dem ein Custo am Steuer saß, um das Gebäude herumfuhr.

»Ich begreife das nicht. Welcher von denen ist Custo? Welcher ist der richtige?« Hilfe suchend blickte Talia zu Abigail.

»Bis sie anfangen zu handeln, ist keiner von ihnen real«, erwiderte Abigail. »Du siehst lediglich Möglichkeiten, verschiedene Varianten, wie er auf das Gebäude zugehen könnte. Wahrscheinlich gibt es noch viel mehr, die sich entschieden haben, sich nicht zu zeigen, und aus dem Kampf ausgestiegen sind.«

»Nein«, sagte Adam voller Überzeugung. »Es gibt keine anderen Versionen von Custo. Er ist ein Mann, der zu seinem Wort steht. Custo geht zum Loft.«

Adam hatte recht. Nachdem sie sich auf unterschiedliche Weise dem Eingang genähert hatten, musterten am Ende alle Custos die Tastatur neben der Tür.

»Aber er geht nicht hinein«, fuhr Adam fort, als könnte er Custo durch seinen Willen beeinflussen. »Durch unsere Flucht haben sich die Eingangscodes geändert. Er wird merken, dass etwas nicht stimmt. Wenn er schlau ist, geht er.«

Talia sah, wie sich der Ausdruck in den vielen Custogesichtern wandelte, als der Zugangscode tatsächlich abgewiesen wurde. Ein Custo fluchte. Ein anderer raufte sich die Haare. Ein weiterer trat zurück auf den Bürgersteig, sah an dem Gebäude nach oben und ging dann erneut zu der Tastatur.

Alle Custos betraten das Gebäude.

Talias Augen tränten, ihr Atem ging schneller. Sie hatte den stets zuverlässig, direkt und ehrlich wirkenden Custo immer gemocht.

Adam stöhnte verzweifelt auf. »Verdammt. Nein.«

»Er ist ein guter Freund«, stellte Abigail fest.

»Er ist ein Idiot«, brüllte Adam. Der Schmerz, der in seiner Stimme mitschwang, hallte in Talia wider.

Jeder Custo zog seine Waffe. Alle bis auf einen nahmen die Treppe; der andere wählte den Aufzug. Mit erhobener Waffe betrat Custo die Loftwohnung.

Was als Nächstes geschah, ließ sich aufgrund der schnellen Bewegungen nur unscharf erkennen, aber Talia sah, wie Custos Kopf zurückzuckte, als hätte ihn ein Schlag getroffen. Sie beobachtete, wie er einen Tritt in den Bauch bekam und sich zusammenkrümmte. Als er hinfiel und Blut spuckte, erschauderte sie.

»Was?«, fragte Adam. »Was? Was ist los?«

Talia schob die Schatten beiseite und würgte bei dem Versuch, sie aus ihrem Körper zu vertreiben. Aus ihrem Kopf. Als sie nach Luft rang, kratzte der überirdische eklige Schleim in ihrer Kehle. Sie taumelte vor Anstrengung, brannte innerlich, aber Adam stützte sie und zog sie an sich.

Ein Schaudern erfasste ihren Körper. Vor Erleichterung. Sie hatte sich gewünscht, dass Adam sie in die Arme schloss, brauchte es sogar. Sie hatte nur nicht gewusst, wie sie das erreichen konnte.

»Bist du in Ordnung?« Vor lauter Anspannung spie Adam die Worte förmlich aus.

Talias Lungen schrien, aber sie nickte ein stummes Ja an seinen Rippen. Es haftete noch ein schwacher Hauch von Abwasser an ihm, aber darunter roch er wieder ganz nach Adam.

»Kannst du eine Weile hierbleiben?« Er zog sie mit sich zum Ausgang.

Sie schüttelte den Kopf. Nein. Sie wusste, was er dachte. Um keinen Preis würde sie ihn allein gehen lassen.

»Talia, diese Leute scheinen in Ordnung zu sein. Wenn sie uns etwas antun wollten, hätten sie es längst getan. Ich komme zurück, so schnell ich kann. Ich kann nicht bleiben. Das musst du verstehen. Ich kann nicht einfach zusehen, wie Custo stirbt.«

Talia verstand durchaus. Er war wieder einmal zu überheblich. Riss einfach die Kontrolle an sich. Sie hatte ihn nicht gebeten, auf sie aufzupassen. Wenn er endlich sein machomäßiges ›Ich-muss-die-Welt-retten‹-Gehabe ablegen würde, wüsste er, dass sie ihn sehr wohl verstand. Ihr »Nein« hatte nichts damit zu tun, dass sie nicht bei diesen Leuten bleiben wollte.

Er wollte nach Custo sehen. Und sie würde ihn begleiten. Das teilte sie ihm mit, indem sie den Kopf zur Seite legte.

»Sieh mich nicht so an, Talia. Du hast mir gerade erklärt, dass die Ärztin gesagt hat, du solltest dich schonen«, widersprach er. »Du musst gesund werden. Außerdem werde ich wahrscheinlich in einen Hinterhalt geraten. Ich kann dich nicht beschützen.«

Sie deutete auf sich selbst und dann auf ihn. Ich beschütze dich. Jawohl.

Er zog die Augen zusammen. »Du kannst nicht schreien. Wie willst du mich beschützen?«

Talia legte eine Hand auf seine Brust, direkt unter das U unterhalb seines Schlüsselbeins, wo sie leise das Echo seines Herzschlags spürte, und zog die Schatten um sie.

Adam schüttelte ihre Hand ab, und die Schatten schnellten zurück. »Nein. Das ist zu riskant.«

Er hätte sie genauso gut ohrfeigen können. Sie biss die Zähne zusammen und starrte ihn aus den Schatten heraus an. Idiot. Ob es ihm gefiel oder nicht, sie kam mit.

Abigail lachte. »Armer Adam. Er hat wohl gedacht, er hätte eine Frau gefunden, die ihm gehorcht und alles tut, was er sagt. Stattdessen hat er eine Banshee bekommen. Ich brauche eines von diesen großen Fenstern, damit ihr zwei euch wieder vertragt. Zoe, haben wir irgendwo ein großes Fenster? Adam kann es ziemlich gut mit Fenstern. Vielleicht kann er sie so überzeugen.«

Talia errötete, aber sie ignorierte Abigail, verschränkte stur die Arme und versperrte die Tür.

Adam drehte sich zu Abigail um. »Können Sie eine Minute aufhören, sich über mich lustig zu machen, und sie stattdessen davon überzeugen, dass sie hierbleibt?«

Abigail zuckte mit den Schultern. »Wieso sollte ich meine Zeit verschwenden, wenn ich genau weiß, dass sie mit Ihnen geht?«

Talia unterdrückte ein süffisantes Lächeln.

»Sie ? Was ?«, stammelte Adam. Dann drehte er sich zu Talia um. »Ach, verdammt. Komm schon.«

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Zoe folgte ihnen die Treppe hinunter und schrie, als sie sich dem Eingangsbereich des Gebäudes näherten, über das Jaulen einer traurigen Melodie hinweg: »Ihr könnt meinen Wagen nehmen, wenn ihr wollt.«

»Gut.« Adam blickte über seine Schulter an Talia vorbei. Er verspürte keine Lust, durch den Abwasserkanal zurückzulaufen, er hatte aber auch kein gutes Gefühl dabei, die fünf Blocks bis zu dem Loft zu laufen, insbesondere, da Talia so merkwürdig aussah.

Zoe reichte ihm die Schlüssel und dirigierte sie die Gasse hinauf. Während sie auf den Wagen zuliefen, blickte Adam zu Talia hinüber. »Du tust, was ich sage und zwar, wenn ich es sage, oder ich gehe nirgendwohin. Kapiert?«

»Ja, Chef«, krächzte sie.

Es war eine schlechte Idee, sie mit zurück zu einem Gebäude zu nehmen, das entweder von Geistern oder von IBÜ-Agenten besetzt war, oder von beiden. Sie sollte gesund werden, damit sie ihren Vater rufen und den Krieg beenden konnte. Es war absolut unverantwortlich von ihm, sie zu dieser sinnlosen Aktion mitzunehmen.

Als Realist war ihm klar, dass er Custo, seinen Ersatzbruder, wahrscheinlich verloren hatte. Er wollte nicht auch noch Talia verlieren. Er durfte aber auch nicht riskieren, dass sie ihm auf eigene Faust folgte.

Bei Zoes Fahrzeug handelte es sich um einen heruntergekommenen blauen Kleinwagen. Einen Accord, Baujahr irgendwann Mitte der Neunzigerjahre. Adam ging zur Fahrerseite und machte sich klein, um in den Wagen zu steigen. Seine Knie stießen gegen das Steuerrad. Talia saß bereits im Auto und hatte sich angeschnallt, bevor er es überhaupt geschafft hatte, sich in eine Position zu manövrieren, in der er den Wagen bedienen konnte.

Trotz der parfümierten Comicfigur, die am Rückspiegel baumelte, roch es in dem Auto nach verbranntem Plastik. Auf der Rückbank lagen einzelne Papiere und Abfall herum. Wenigstens hatte der Wagen eine Handschaltung.

Adam sehnte sich nach seinem Diablo, legte den ersten Gang ein und beschleunigte die Gasse hinunter auf lächerliche sieben Meilen pro Stunde. Als er das Gaspedal durchtrat, kreischte der Wagen, war am Ende der Gasse aber gerade bei zwanzig Meilen pro Stunde angelangt. Wenn er das Auto zu Schrott fuhr, würde er Zoe ein neues kaufen. Verdammt, er würde ihr einen neuen Wagen kaufen, wenn er diesen Tag überlebte.

Mit der morgendlichen Rushhour verdichtete sich der Verkehr. Diverse Taxis rangelten um die beste Position und blockierten die Kreuzung. Adam fuhr den Wagen mit einem ohrenbetäubenden Kreischen auf den Bürgersteig, manövrierte ihn unter wüsten Beschimpfungen der anderen Fahrer um die Taxis herum und überquerte die Ampel, um in die Straße einzubiegen, in der das Gebäude lag.

»Dort«, sagte Talia. Er erschrak und trat auf die Bremse.

»Was?« Es waren keine Fußgänger auf der Straße, er sah nur eine Reihe parkender Wagen.

»Der rote Sedan. In so einem ist Custo gefahren.« Der rote Sedan stand im Parkverbot direkt gegenüber von Adams Haus. Adam hielt mitten auf der Straße neben dem Wagen an und sprang heraus.

»Steig aus«, bellte er. Er erwartete sie am Heck des Fahrzeugs, griff ihre Hand und zog sie über die Straße.

»Wir müssen davon ausgehen, dass der, der das Loft angegriffen hat, weiß, dass wir hier sind. Vermutlich beobachten sie die Straße und warten auf uns.«

Talia nickte. Ihr Gesicht war kreidebleich. Verängstigt, aber nicht verschreckt. Sie zog sich nicht in ihre Schatten zurück. Seit der Gasse in Arizona war viel passiert.

»Das ist deine letzte Chance, Talia. Du kannst zurück zum Klub gehen. Dort versteckt man dich. Da wärst du in Sicherheit.« Wieso hatte er sich bloß auf Abigails Worte verlassen? Nur weil es so aussah, als wisse sie alles, hieß das nicht, dass dem wirklich so war.

Talia schüttelte energisch den Kopf. Nein.

Adam führte die Hand zu der kleinen Tastatur, doch in seiner Brust bildete sich ein enormer Druck. Er drehte sich zu ihr um, packte ihre Schultern und flehte, jeglichen Stolz über Bord werfend: »Bitte, geh zurück. Ich darf nicht zulassen, dass du da hineingehst. Nicht einmal für Custo. Ich kann das einfach nicht. Ich werde dich denen nicht ausliefern. Gehst du zurück zum Klub? Tust du das für mich

»Ich gehe deinetwegen in dieses Gebäude«, flüsterte sie mit gebrochener Stimme. Er wusste nicht, ob das ihren Gefühlen oder ihrer Verletzung geschuldet war.

»Verdammt, Talia. Ich hätte niemals mit dir schlafen dürfen. Ich habe dir gesagt, dass es jetzt kein ›Du-und-ich‹ geben kann.« Abrupt ließ er von ihr ab und schob sie von der Tür weg. »Du darfst den Krieg nicht verlieren, nur weil du in einer schwierigen Situation romantische Gefühle entwickelt hast.«

Talia trat wieder nach vorn. Ihre schwarzen Augen funkelten gefährlich. »Ich entscheide, welche Schlachten ich schlage, nicht du. Zwing mich nicht, mir selbst einen Weg in das Gebäude zu suchen. Das kostet Custo lediglich Zeit.«

Sie bedeutete ihm, zurück zu der Tastatur zu gehen.

Verdammt. Abigail hatte recht: Talia war entschlossen, ihn zu begleiten. Er hätte sie irgendwo anbinden sollen. Jetzt war es zu spät. Zu spät für alles.

Mithilfe des Codes öffnete er die Tür. Die kleine Halle war leer. »Treppe oder Aufzug?«

»Mit dem Aufzug sind wir schneller«, erwiderte Talia.

Na schön. Während er die Zahlen in die Tastatur neben dem Fahrstuhl hämmerte, stellte er sich schützend vor sie. Die Metalltüren glitten auseinander.

Leer.

Talia trat um ihn herum in den Fahrstuhl. »Ich glaube, wir sollten ihn im Dunkeln benutzen.« Sie hob eine Braue und wartete auf seine Antwort.

Er folgte ihr in den Aufzug, verschränkte seine Finger mit ihren und zog sie an die Wand. »Dunkel hört sich gut an.«

Schatten streichelten ihn und strichen federleicht über seinen Körper, als wären sie eine Verlängerung von Talia. Seine Sicht veränderte sich, seine Sinne schärften sich, die Welt um ihn herum gewann an Tiefe, und die Konturen traten deutlicher hervor. Er nahm seine Umwelt überdeutlich wahr. Und Talias schlanke warme Hand in seiner.

Die metallene Kiste beförderte sie innerhalb von fünf Sekunden nach oben.

Adam drückte Talias Hand. »Los geht’s.«

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Die Fahrstuhltüren glitten auseinander, und Talia trieb eine Welle wild durcheinander wirbelnder Schatten hinaus. Die Dunkelheit strömte aus ihr heraus und füllte das komplette riesige Loft, glitt über den Fußboden und erklomm die Wände, bis der gesamte Raum von Schatten erfüllt war, die mit ihren dunklen Schleiern das Jenseits von der irdischen Welt trennten.

Bewaffnete Männer knieten in Angriffshaltung auf dem Boden und zielten auf den Aufzug, als die Schatten über sie hinwegschwappten und sie erblinden ließen. Sie waren ganz in Schwarz gekleidet als wenn man mit dieser Farbe irgendetwas vor ihr verbergen könnte und trugen Gasmasken. Hinter den Männern schlichen langsam und einem Raubtier gleich zwei Geister am Rand des Raumes entlang.

Vorsichtig atmete Talia ein. Es hing noch ein Hauch von dem widerlichen chemischen Gestank in der Luft. Für sie stand zu viel auf dem Spiel, als dass sie sich dem noch einmal aussetzen durfte.

Das Loft musste gelüftet werden.

Talia streckte die Schattenfinger nach dem Fenster aus und fuhr an den Rissen entlang, die die Einschläge von vorhin in der Scheibe hinterlassen hatten. Mit sanftem, aber stetig zunehmendem Druck ließ sie die dunklen Schatten in die dicken Scheiben fließen. Ein Sprung vergrößerte sich und schoss mit einem Zischen quer über die Scheibe. Das schwere Glas gab nach und fiel krachend teils auf den Fußboden der Wohnung, teils auf den Bürgersteig viele Stockwerke darunter. Talia ließ jedoch nicht zu, dass Sonne in die Wohnung drang, während die vergiftete Luft von frischer vertrieben wurde.

»Wow«, murmelte Adam und blickte zu ihr hinunter. Sah sie da etwa Respekt in seinen Augen?

Er zerrte an ihrer Hand, schleppte Talia mit sich in die Küche und bedeutete ihr, sich mit ihm hinter den Küchentresen zu knien. Leise zog er eine Schublade heraus und holte ein Messer hervor, das er in seinen Gürtel steckte. Er nahm ein weiteres heraus, ein kurzes Teppichmesser, und hielt es Talia entgegen.

Nein. Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte ihn beschützen, aber sie würde niemanden umbringen.

Er drückte ihr das Werkzeug in die Hand. »Du wolltest mitkommen«, erinnerte er sie. »Jetzt nimm das verdammte Messer, und benutze es, wenn es nötig ist.«

Ihre Finger schlossen sich um den Holzgriff. Sie wusste keinen praktischen Ort, an dem sie es verstauen konnte der Gummibund von Adams Jogginghose saß zu lose um ihre Taille.

Adam duckte sich zu ihr und murmelte. »Kannst du Custo sehen?«

Sie schüttelte den Kopf. Nein. Aber an der Wand befanden sich Blutspritzer, die es durchaus mit Adams abstrakten Bildern aufnehmen konnten. Sie bildeten ein aggressives rotes Muster, das an Jackson Pollock erinnerte.

Custo war hier. Und er war brutaler Gewalt begegnet.

»Wahrscheinlich im Schlafzimmer«, sagte Adam mit zusammengebissenen Zähnen.

Aber er rührte sich nicht. Heftige Angst schwappte über die Verbindung zwischen ihren Händen.

Talia verstand, wieso. Wenn sie beide zum Schlafzimmer schlichen, lösten sich die Schatten in dem großen Raum auf, und die Männer und Geister waren in der Lage, sie in die Ecke zu treiben. Adam wollte sie aber auch nicht allein zurücklassen, damit sie den Raum in Schatten tauchte, nicht, solange er voller Waffen und Geister war. Seine oberste Priorität galt dem Krieg, also musste er eher sie schützen als seinen Freund retten.

»Du musst mir vertrauen«, flüsterte Talia. Sie hatte keine Angst. Verstecken war das, was sie am besten beherrschte.

Er bedachte sie mit einem gequälten Blick.

Talia drückte seine Hand und wünschte, dass er ausnahmsweise ihre Gefühle spüren konnte. So musste sie auf Worte zurückgreifen. »Ich habe mich monatelang in den Schatten versteckt, ohne entdeckt zu werden. Dann werde ich es wohl auch ein paar Minuten schaffen, solange du Custo holst.«

»Aber «

»Wir haben keine Zeit für ›aber‹. Ich halte die Männer hier in der Dunkelheit fest. Angst habe ich keine das hier ist mein Gebiet. Ich bin sicher. Glaub mir, ich kann auf mich aufpassen.«

Adam zögerte. In seine Sorge mischte sich Unentschiedenheit.

»Mach schon.« Sie ließ seine Hand los und wartete darauf, dass er dasselbe tat.

Seine Unruhe wuchs. Er zog sie dicht an sich, streichelte ihr Gesicht, liebkoste sanft ihre Wange und murmelte: »Ich bin gleich zurück.«

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Adam tastete sich rechts am Kühlschrank entlang und schlich um die Ecke zu der Nische, in der sich sein Arbeitsplatz befand. Als er den Schreibtischfuß spürte, wusste er, dass er die Abbiegung zum Flur erreicht hatte, der Schreibtischstuhl fehlte. Adam kroch vorsichtig voran, bis die Schatten durchlässiger wurden und er den Umriss seiner Hand auf dem Fußboden erkennen konnte.

Mit gezückter Waffe stand er auf und näherte sich dem schwachen Lichtschein, der aus der Schlafzimmertür fiel.

Die Tür schwang auf, und ein weiblicher Geist glitt auf unheimliche Weise aus dem Raum.

Adam schoss ihm in den Kopf und beförderte seinen Körper mit dem Fuß zurück in den Raum, wo die Schatten transparenter waren, weil Talias Einfluss nachließ. Die Geisterfrau krachte gegen eine Ecke am Fußende des Bettes und sackte auf dem Boden zusammen, um zu regenerieren, während sie die Luft verpestete.

»Hallo, Adam.«

In der Mitte des Raumes stand Spencer. Wie sein Team trug er eine schwarze Uniform und hatte seine Waffe auf Adam gerichtet. Er verstellte ihm den Blick auf eine Person, die hinter ihm auf einen Stuhl gefesselt war.

Lebend. Bitte lass ihn leben.

Adam hielt inne und beruhigte sein pochendes Herz, was ihn so sehr anstrengte, dass ihm der Schweiß ausbrach, während er sich zur Seite beugte, um besser sehen zu können.

Custo saß auf dem Schreibtischstuhl und war mit den Händen an die Armlehnen und mit den Füßen an die Stuhlbeine gefesselt, wobei ein Fußgelenk brutal verdreht war. Sein Kopf hing schlaff auf seiner Brust, sein Hemd und seine Hose waren voller Blut. Als Adam schwach den beißenden Geruch von Urin wahrnahm, biss er die Zähne zusammen.

Halt durch, Custo. Bleib am Leben.

Er blickte an dem Gewehrlauf vorbei auf Spencers Kopf, konnte es kaum erwarten, endlich abzudrücken, und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Spencer würde sterben, er musste sterben. Jetzt. »Warum? Du Mistkerl. Warum?«

Spencer hielt seine Waffe fest in der Hand. »Ich war mir sicher, dass er wie immer wusste, wo du bist. Aber so ist es ja noch viel leichter. Er bringt dich und das Mädchen zu mir. Das ist wirklich ziemlich praktisch.«

»Wie konntest du das tun?«

Spencer zuckte mit den Schultern. »Ich musste irgendwie herausfinden, wo du bist. Custo hat nichts verraten, das muss man ihm lassen. Aber das Kollektiv ist nicht zu schlagen.«

»Ich habe eine Möglichkeit gefunden«, erklärte Adam. Sie ist direkt vor der Tür.

»Es ist zu spät. Die Welt hat sich verändert. Die Geisterpopulation ist unter der Leitung eines unsterblichen Dämons auf über zehntausend angewachsen. Eine Zusammenarbeit ist nur zu unserem Vorteil. Der Aufstand der Geister ist vorbei. Das Kollektiv hat gewonnen.«

Zum Teufel, das hatte es nicht. Adam schloss den Finger fester um den Abzug.

»Aber, wenn du mich hier herauskommen lässt, mache ich dir, äh, einen Vorschlag«, sagte Spencer mit einem breiten Grinsen.

»Du wirst diesen Raum nicht lebend verlassen.« Ruhig Blut, Custo.

»Ach wirklich?«, fragte Spencer. »Ich kann dir zeigen, wie man einen Geist ohne einen Schrei umbringt. Es ist eigentlich ziemlich einfach. Du warst schlichtweg zu kurzsichtig, deshalb hast du es nicht gesehen.«

Adam dachte an Talia. Wie ihre kleine, zerbrechliche Gestalt nach Luft rang. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sie einen Dämon bezwang. Mochte sich nicht ausmalen, wie es war, wenn sie bei dem Versuch starb.

»Was soll das sein?«

»Geister können den Tod nicht ertragen.«

»Was zum Teufel soll das heißen?« Können den Tod nicht ertragen.

Spencer blickte bedeutungsvoll zu Custo, der auf seinem Stuhl hing. Seine kräftigen Schultern waren zu ruhig.

Nein! Das durfte nicht sein. Nicht Custo.

Ein Leben für einen Tod. Philips Druidenritual, seine Theorie über Symmetrie, nach der eine Person ihr Leben opfern musste, damit ein Monster starb. Der Geist war Custo nicht wert. Seinen einzigen Freund. Seinen Bruder.

»Raus«, befahl Adam. Er musste zu Custo, musste Custo retten.

Spencers Augen blitzten zufrieden. Als Spencer aus der Tür ging, hielt Adam die Waffe auf ihn gerichtet.

»Ich bin draußen, wenn du fertig bist«, sagte Spencer. Er, sein IBÜ-Team und ein paar Geister. Und dennoch würde Spencer sterben, wenn Adam hier fertig war. Seine Todesfee war Spencers Mannschaft locker überlegen.

Adam eilte zu Custo und tastete an seinem blutverschmierten Hals vorsichtig nach dem Puls, während sein eigenes Herz tobte. Aber er fand ihn nicht.

Nein, Moment. Die Ader an Custos Hals pochte. Er hatte noch einen Puls, nur war er kaum zu spüren. War ganz schwach.

Halt durch. Halt durch.

Adam kniete neben dem Stuhl auf dem Boden nieder und zwang sich, mit zitternden Händen vorsichtig Custos Kinn anzuheben. Sein Gesicht glich einem Albtraum, obwohl der Anblick durch Talias Schatten sogar noch etwas geschönt war. Die Augen blutunterlaufen, seine Nase schief und sein Kiefer hing seltsam herunter. »Oh Gott. Custo, es tut mir so leid.«

Nicht, dass Custo ihn hörte. Er war weit weg.

Die Hilflosigkeit machte Adam wütend. Er schluckte Galle, und sein Blick verschwamm. Custo durfte nicht einfach so an einen Stuhl gefesselt sterben. Adam zog das Messer aus seinem Gürtel und durchtrennte behutsam, um Custos Haut nicht zu verletzen, die Stricke, mit denen sein Freund angebunden war.

Als Adam seine Arme befreite, sackte Custos Körper nach vorn.

»Ruhig«, sagte Adam und stützte ihn. Nasse, warme Flüssigkeit sickerte durch sein Hemd, Custo blutete stark. Adam schleppte ihn zum Bett. Er konnte ihn nirgendwo anders hinbringen. Er konnte niemanden mehr holen, um ihn zu retten.

Wieder einmal war er zu spät gekommen.

Adams Arme zitterten, als er seinen Freund hinlegte. Er konnte Custo beim Sterben noch nicht einmal die Hand halten, denn seine Finger waren gebrochen und grausam verdreht. Stattdessen fasste er Custos Handgelenk und wartete, dass die Herztöne schwächer wurden.

Ein Schlag.

Custo, der arme Junge ohne Familie, der neu an die Schule für Jungen gekommen war, zersaust und angriffslustig.

Ein zweiter Schlag.

Als Custo Jacob zum ersten Mal begegnet war, hatte er keine Angst gezeigt. Er hatte Seite an Seite mit ihm gearbeitet, um das Monster unter Kontrolle zu bringen. Er half in Segue, anstatt sein eigenes Leben zu leben. Custo hätte sein eigenes Leben haben müssen. Eine Frau. Eine Familie. Vor allem das, Custo hätte eine eigene Familie gründen sollen.

Die Dunkelheit im Raum wurde dichter.

Adam spürte keinen dritten Schlag unter seinen Fingern. Er schluchzte erstickt auf, als ihn eine warme vorübereilende Gestalt streifte Custo! Adam wusste, dass er das nur in Talias Schatten spüren konnte.

Es bildete sich eine Mulde. Wie von einem Wind getrieben, wirbelten dunkle Schatten umeinander.

Adam erhob sich langsam und suchte mit den Augen in den Schattenbahnen nach einem Hinweis auf Custos Tod. Der Verlust hinterließ eine Leere in ihm, zerriss ihm das Herz und schnürte ihm die Luft ab, die er so dringend brauchte, um ›Auf Wiedersehen‹ zu sagen und ›Danke‹ und ›Es tut mir verdammt leid‹.

Aber er sah nur Dunkelheit. Dunkelheit und den Schattenmann.

Der Schattenmann stand gefangen in einem Strudel aus dichten, wirbelnden Schatten. Der Wind ließ nach und erstarb. Der Umhang legte sich in Falten um seinen Körper. Der Schattenmann schlug das Cape zur Seite, und Adam sah in der Tiefe etwas aufblitzen, eine funkelnde Verheißung.

Ein Schimmer bewegte sich durch die Dunkelheit. Custo. Er war gegangen. Adam fühlte sich, als hätte man ihm einen Teil seines Körpers herausgerissen.

Der Wind frischte auf und fing den Schattenmann wieder ein.

Aber die Sense des Todes verfügte über eine große Reichweite. Der Schattenmann schwang die gebogene Klinge, zerteilte den Körper der Geisterfrau, die sich gerade wieder erholte, und riss sie aus der Welt. Die »Glühwürmchen«, die in ihr gefangen waren, entschwebten in die ewige Freiheit. Wenigstens wurden die Seelen, die sie verspeist hatte, im Jenseits erlöst.

Als der Schattenmann erneut von der Dunkelheit verschlungen wurde, hob er seinen Blick und sah Adam aus blutrünstigen Augen an.

Adam verstand. Spencer hatte recht. Die Antwort war ganz einfach. Niemand anders, den Adam liebte, musste das Kollektiv fürchten.

Ja, Talia konnte den Tod durch ihren Schrei befreien. Aber das konnte jeder andere genauso. Die anderen mussten lediglich dafür sterben.

Als Adam von Custos Leiche zurücktrat, fasste er einen Entschluss. Dies war kein Abschied. Nein. Er würde Custos Beispiel folgen. Wenn Custo sein Leben gegeben hatte, um dadurch das Leben seines Freundes zu schützen, um Spencer auszutricksen und einen Geist zu töten, konnte Adam das auch.

Aber Adam würde sein Leben auf gar keinen Fall für seinen selbstsüchtigen Bruder Jacob opfern. Nein, wenn er um den Tod buhlte, dann nur für den Dämon persönlich.