Epilog
Der Schattenmann steht in einem verdunkelten Raum an dem Bett eines Großvaters. Die Luft riecht süß nach Tabak. Abgesehen vom Ticken einer Uhr ist es still im Haus, vor dem Fenster fällt weicher Schnee und hält Geräusche fern. Den Gang hinunter schläft eine Frau im Arm ihres Mannes. Ein Stück weiter befindet sich ein Kinderzimmer. Drei Generationen unter einem Dach. Bald sind es nur noch zwei.
Das Herz des alten Mannes schlägt unruhig. Der Schleier wird durchlässiger, damit er hinübertreten kann. Das ist der Gang der drei Welten: Jede hat ihren Platz – die Erde, die Zwielichtlande und der Himmel.
Es ist eine schmerzhafte Torheit, die Grenzen zu missachten. Das hat der Schattenmann selbst erlebt, ebenso wird es seiner Tochter ergehen. Die Zeit ist geizig mit den Todesboten, und das Stehlen wird streng bestraft.
Das Herz hört auf zu schlagen. Die Schleier teilen sich.
Eine Familie in diesem Haus. Das leuchtende Band, das ihre Herzen miteinander verbindet, kann nicht durchtrennt werden, nicht einmal von seiner Klinge, nicht einmal durch die große Entfernung zwischen diesem Haus und dem Ufer des Himmels. Obwohl das Familienoberhaupt hinübergeht, wird es weiter mit den Generationen verbunden sein. Und so entsteht über die Zeit eine Kette, deren Glieder durch Liebe verbunden sind.
Liebe.
Kathleen. Talia. Und Talias starker, törichter Mann, Adam. Er wagt es, die Gesetze zu verhöhnen, die die Grenzen zwischen den Welten regeln. Wie stur. Wie ignorant. Wie sterblich. Talia hat sich einen Träumer ausgesucht.
Sie werden es schon noch lernen.
Die Liebe ist keine Zauberei, die sich von einer Fee beherrschen lässt. Die Liebe gehorcht nicht dem Herzen einer Fee.
Außer vielleicht in dem Augenblick, als Talia in die Zwielichtlande gegriffen und die Waffe gefunden hatte, die sie am besten gebrauchen konnte. Dieses eine Mal hatte die Liebe die Oberhand behalten.
Der Schaft der Sense liegt kühl in der Hand des Schattenmannes. Eine große Seele steigt aus dem Leichnam des alten Mannes auf. Der Schattenmann dreht sich um, um ihn durch den Märchenwald der Zwielichtlande zu führen. Der alte Mann bleibt stehen, seine Aufmerksamkeit wird von den schlummernden Gestalten in den Räumen dahinter gefangen genommen.
»Sie sind so wunderschön«, sagt der alte Mann, und seine alterslosen Augen strahlen ehrfürchtig.
»Ja.« Aber mit den Gedanken ist der Schattenmann bei Talia und Kathleen.
»Ich werde sie wiedersehen.« Aus den Worten des Mannes spricht Überzeugung, und der Seelenring um sein Herz leuchtet.
Ja. Der Schattenmann schenkt dem alten Mann Zuversicht.
Wenn Talia Adams wegen in die Zwielichtlande eindringen konnte, konnte der Tod vielleicht auch in den Himmel eindringen.
Der alte Mann steigt in das schmale Boot. »Ich bin bereit.«
Durch den dunklen Wald und über das Wasser. Ein Gedanke bringt den Schattenmann an das Ufer des Himmels. Er hat diese Reise schon unzählige Male getan. Die Insel ist von einer schimmernden Mauer aus Licht umgeben. Ihre durchscheinenden Farben verbrennen seinen Umhang aus Schleiern und treffen auf seine nackte Haut. So ist es immer gewesen.
Der alte Mann steigt aus dem Boot. »Danke«, sagt er, aber sein Blick ist bereits auf den Himmel gerichtet, seine Freude hinterlässt eine Spur aus goldenem Licht, während er sich der Mauer nähert. Er hebt eine Hand, um die Oberfläche zu berühren. Ein Schritt, ein Funken, und er wird hineingezogen. Von einem Zuhause in das nächste.
Auf der anderen Seite – was? Kathleen.
Dunkle Winde heben den Schattenmann von dem Wasser, das an die Küste schwappt.
»Kathleen«, ächzt er.
Namen wohnt ein Zauber inne. Konnte sie ihn hören?
»Kathleen«, ruft er noch einmal. Lauter diesmal.
Hinter ihm murmeln die Einwohner der Zwielichtlande.
»KATHLEEN«, schreit er. Seine Angst stößt gegen die leuchtende Mauer, wandelt die strahlenden Farben von Rosa und Lapislazuli in tiefes Purpur und blutiges Magenta, aber sie bleibt unverwundbar.
Der Schattenmann lässt die Sense in das Wasser sinken. Er wird immer schreien – wenn es sein muss, bis zu dem Tag, an dem die Mauer ins Meer fällt.
»He, du.«
Der Schattenmann blickt ein Stück links die Küste hinunter. Oben auf dem Rand der Mauer sitzt ein Engel – Feenhaare – Feenaugen, Haut wie heller Kaffee. Ein kürzlich Verstorbener.
»Ich tausche mit dir«, sagt Custo.
Dem Schattenmann fehlen die Worte.
»Willst du hinein oder nicht? Ich gehöre nicht in den Himmel und habe keine Lust, hier herumzuhängen, bis sie das herausfinden.« Der Engel blickt über seine Schulter.
Das Murmeln aus den Zwielichtlanden wird lauter, durchdringender, aber der Schattenmann achtet nicht darauf. Nicht mehr. Sie haben ihm bereits das Schlimmste angetan.
»Ja, ich will«, sagt der Schattenmann.
Custo grinst. »Komm zur Mauer.«
Der Schattenmann setzt einen Fuß auf die sandige Küste, jedes Sandkorn funkelt wie ein weißer Diamant. Er starrt auf die vielfarbige Mauer, und ein Gesicht erscheint. Custo. Custo hebt eine Hand, und der Schattenmann tut es ihm gleich. Sie strecken die Hände über den Rand. Eine Berührung, ein Funken …
Kathleen, ich komme.