11

Adam brütete über einer Zahlenkolonne, es waren Kosten, die seine Mitarbeiter bei ihren Recherchen in allen Teilen der Erde verursacht hatten. Derartige Posten zeichnete er meist blindlings ab, insbesondere Kosten für Unterkunft und Verpflegung. Die Arbeit in Segue war aufreibend, ließ einem keine Pause und wurde aufgrund der sich stetig vermehrenden und ausbreitenden Geisterpopulation zunehmend gefährlicher. Wenn eine Suite in einem Hotel die Recherche etwas erträglicher machte, nun gut. Geld spielte wirklich keine Rolle mehr.

Auf dem Schreibtisch brummte sein Mobiltelefon und wurde von der Vibration zur Seite getrieben. Er griff danach und nahm das Gespräch an.

Eine panische, fast hysterische Frauenstimme schluchzte etwas Unverständliches in den Hörer. Adams Magen krampfte sich zusammen er hatte die markante Stimme sofort erkannt.

»Gillian?«, fragte er ganz ruhig, obwohl sein Puls augenblicklich raste. »Was ist passiert?«

»Sie sind hinter uns her kommen nach Segue.«

»Geister?« Adam löste den Hauptalarm aus und forderte die Angestellten dadurch auf, sich an dem vereinbarten Treffpunkt zu versammeln und aufeinander zu achten. Auf seinem Bildschirm tauchte eine Liste der anwesenden Mitarbeiter auf. Als Jacobs Zelle aufgrund der Sicherheitsvorkehrungen überflüssigerweise vom Rest von Segue abgeschnitten wurde, erbebte der Boden die Wachen dort unten mussten so lange ausharren. Nacheinander ging Adam die Bilder der Außenkameras durch. Es war ein typischer Vormittag auf dem Berg. Alles ruhig, nur die Blätter der Bäume rauschten leise im Wind. Ihre Schatten wirkten jetzt allerdings bedrohlich. Finster und undurchdringlich.

Er hätte die Frauen nicht ohne bewaffneten Begleitschutz gehen lassen dürfen. Nun war er in die schlimmste Falle getappt, die die Psyche einem stellen konnte, er hatte sich zu sicher gefühlt. Er hatte streng darauf geachtet, dass über sein handverlesenes Forscherteam hinaus niemand etwas von der Arbeit in Segue erfuhr, aber mit der Zeit war zwangsläufig das ein oder andere nach draußen gesickert. Irgendwann musste jemand einen Fehler machen. Hatte einen gemacht.

»Wir haben Patty verloren.« Gillian klang vorwurfsvoll. Gab sie ihm die Schuld? Er hatte es nicht anders verdient. »Sie haben Patty, Adam. Patty ist tot.«

Adam spürte, wie etwas tief in seinem Inneren zerriss. Mit Tante Pat verband ihn ein Gefühl, über das er zugleich mit seinen Eltern, seiner Kindheit und alten Träumen verbunden war. Aber er durfte jetzt nicht an Pat denken. Das wäre ein weiterer Fehler. Er würde ihrer später gedenken, wenn es überhaupt ein Später gab.

Er stellte das Telefon auf den kabellosen Kopfhörer um.

»Und Talia?«, fragte er mit rauer Stimme, während er vor den Waffenschrank an der Wand hinter ihm trat. Er wählte ein AR-15-Gewehr mit Trommelmagazin, hängte sich den Gurt über die Schulter und nahm eine Glock in die Hand. Er griff noch etwas zusätzliche Munition und verstaute sie in seinem Gürtel.

»Talia geht es gut.« Wieder dieser vorwurfsvolle Ton. »Sie fährt.«

Er blickte zu den Aufnahmen, die von den Überwachungskameras von Segue übertragen wurden. Sanft geschwungene Wiesen. Bäume. Die schmale Straße, die in die Stadt führte. Noch nichts.

»Wie lange braucht ihr noch bis hierher?« Zumindest hatten sie den Ferrari mit dem Achtzylindermotor, vorausgesetzt, Talia war in der Lage, den Wagen auf der Straße zu halten.

»Ich weiß es nicht. Wir sind gerade an den Felsen vorbeigekommen.«

Bei den Felsen handelte es sich um riesige Klippen, die den höchsten Punkt der Passstraße nach Segue markierten. Kurz darauf fingen die Bäume an. Von dort brauchten sie noch fünf Minuten. Mit dem Ferrari weniger.

»Lotse Talia zum Hintereingang. Stellt euch darauf ein, in das Gebäude zu rennen, sobald ihr es erreicht habt. Schnallt euch vorher ab. Verstanden?« Adam glitt aus der Tür und rannte über den verlassenen Flur zur Hintertreppe. Bei Hauptalarm durfte er nicht den Fahrstuhl benutzen.

»Oh, Mist«, flüsterte Gillian in sein Ohr.

»Was ist?« Ganz ruhig, ermahnte er sich.

»Hubschrauber.«

»Ihr werdet von Hubschraubern gejagt?« Ein eiskalter Schreckensschauer überlief Adams Rücken. Es musste sich um einen organisierten Angriff handeln. Vor sechs Tagen war Talia hergekommen. Das Kollektiv hatte die Woche genutzt, um ihre Entführung zu planen. Er hatte geglaubt, sie sei hier in Sicherheit. Sie seien hier alle sicher. Tante Pat Er hatte allen Sicherheit garantiert.

»Nein, er ist vor uns und dreht. Wir werden sterben

»Beruhige dich, Gillian. Ich helfe euch da durch« noch ein falsches Versprechen? –, »aber nur, wenn ihr die Ruhe bewahrt. Ist Talia okay? Ist sie sehr nervös?«

»Nein. Talia ist ein verdammter Eisblock. Sie hat Patty Patty! diesen Monstern überlassen.«

So war es. Patty war tot, aber Talia wusste, wie man sich in Sicherheit brachte. Damit hatte sie ausreichend Erfahrung. Sie kämpfte selbst in einer ausweglosen Situation noch um ihr Leben.

Wie im Fall eines solchen Angriffs vorgesehen, fand Adam Custo, ebenfalls mit einer Automatikwaffe ausgerüstet, vor der Tür zum Treppenhaus, wo er gerade dabei war, das Schloss mit seinem Generalcode zu entsichern.

»Nicht die Nerven verlieren, Gillian«, befahl Adam. »Tue, was ich dir sage. Ich warte auf euch. Bleib in der Leitung.«

Gefolgt von Adam, der ihn auf den neuesten Stand brachte, polterte Custo die Stufen hinauf. »Gillian, Talia und Pat sind heute Morgen mit dem Wagen nach Middleton gefahren. Vor drei Minuten hat Gillian angerufen und berichtet, dass sie und Talia auf dem Rückweg nach Segue von Geistern verfolgt werden. Auch ein Hubschrauber ist hinter ihnen her. Die Geister haben Pat «

Custo drehte sich abrupt zu Adam herum, seine Miene drückte Unglauben und Schmerz aus.

Dafür hatte Adam jetzt keine Zeit. »Hat Spencer sich angemeldet?«

»Noch nicht.« Custo gab den Code für den Ausgang ein und stieß die schwere Stahltür auf.

Adam duckte sich und trat ins Freie. Das typische Dröhnen eines Hubschraubers tönte vom Himmel. Adam streckte sich, um besser sehen zu können. Es handelte sich um einen schmalen Kampfhubschrauber in graugrüner Tarnfarbe, der gerade zur Landung ansetzte, um eine Gruppe Männer auf dem westlichen Rasen abzusetzen. Zwischen den Bäumen blitzte ein Licht auf, die Spiegelung zog Adams Aufmerksamkeit auf sich. Auch von der Straße her drang jemand auf das Gelände vor.

Sie blockierten die Straße, riegelten Segue ab.

»Fahr langsamer, Talia!«, schrie Gillian in Adams Ohr. »Du fährst sie um!«

»Fahr sie um!«, schrie Adam in das Telefon. Solange Talia und Gillian es zurück nach Segue schafften, war ihm egal, wen sie überrollten.

Der Lärm des Hubschraubers übertönte die Stimmen in Adams Ohr.

»Wiederhole«, schrie er in das Telefon.

Der Ferrari schoss zwischen den Bäumen hervor, ein purpurner Streifen vor dichtem Grün. Die Windschutzscheibe gesprungen und von netzartigen Linien durchzogen. Ein Mann klammerte sich an die Motorhaube. Sein Körper schwang und schleuderte hin und her, während er sich mit den Fingern an den Wagen krallte. Zu so etwas waren vielleicht Filmhelden in der Lage, aber in der realen Welt besaß nur ein Geist die dafür nötige Kraft.

»Zum Gebäude! Zum Hintereingang!«, schrie Gillian in Adams Ohr. Jetzt konnte er die Umrisse der Frauen auf den Vordersitzen des Wagens erkennen.

Custo hockte sich auf dem Treppenabsatz neben ihn. »Ich übernehme den Geist auf der Motorhaube.«

»Lass sie näher herankommen. Wir haben auch Besuch aus Westen.«

Plötzlich drehte Custo sich um seine Achse und schoss in schrägem Winkel auf die westliche Gebäudeseite. Der laute Warnschuss sollte die Soldaten aus dem Hubschrauber in Schach halten.

Adam bemerkte irritiert, wie die Männer sich bewegten. Bewaffnet und in grüner Tarnkleidung marschierten sie mit zackigen Bewegungen über die Wiese. Das waren Menschen. Wieso griff eine menschliche Militäreinheit Segue an? Es musste sich um einen schrecklichen Irrtum handeln.

»Wo zum Teufel ist Spencer?«, knurrte Custo und visierte den Lauf seiner Waffe.

Gute Frage. Spencer musste unbedingt herausfinden, wieso die Armee im Begriff war, eine zivile Forschungseinrichtung anzugreifen. Irgendjemand musste sich hierfür verantworten, so viel war klar.

Je näher der Wagen kam, desto stärker spürte Adam einen Druck in seiner Brust. »Direkt zur Tür«, wies er Gillian an.

»Sie werden uns erschießen!«

»Wenn sie bislang nicht auf den Wagen geschossen haben, werden sie es auch jetzt nicht tun. Sag Talia, dass sie vor dem Eingang halten soll. Ihr steigt beide auf der rechten Seite aus. Los.«

Adam hob seine Waffe und legte den Finger auf den Abzug.

Sicher und unaufhaltsam wie die Funken über eine Zündschnur raste der Wagen über die Straße und nahm die Abbiegung nach Segue präzise und kontrolliert. Talia hatte schon viel Schreckliches erlebt und wusste offensichtlich, dass ihr Überleben von ihrem klaren Denken und entschiedenem Handeln abhing. Sie war ruhig das genügte Adam.

Ein großer Geländewagen, der im Vergleich zu dem Sportwagen klobig wirkte, tauchte aus dem Wald auf, jedoch zu weit weg, um eine unmittelbare Gefahr darzustellen.

Als der Ferrari sich dem rückwärtigen Parkplatz näherte, zielte Adam auf den Geist, der an der Motorhaube hing und schoss.

»Was tust du da? Du bringst uns noch um!«, kreischte Gillian ins Telefon. Adam konnte sehen, wie ihr Mund die Worte formte, die aus dem Kopfhörer an sein Ohr drangen. Talias Gesicht war weiß, ihre Augen waren starr auf das Gebäude gerichtet. Ganz ruhig, Liebes.

Adam zielte noch einmal. Er nahm den Kopf des Geistes ins Visier, der am Fuß der Windschutzscheibe auf und ab hüpfte, und schoss.

Der Geist zuckte zusammen und rutschte von der Motorhaube. Seine Beine gerieten unter den Sportwagen, sodass die Reifen das Monster hinter dem Fahrzeug hervorschleuderten. Der Körper überschlug sich noch einmal, ehe er auf dem Pflaster liegen blieb.

Das Auto schleuderte nur kurz, als es über das unerwartete Hindernis hinwegraste, und schoss auf die Tür zu.

Talia sauste ein Stück am Eingang vorbei. Gillian hatte bereits die Tür geöffnet und warf sich in Adams Richtung, bevor das Fahrzeug richtig stand. Der Wagen war gefährlich nah auf das Gebäude zugesteuert, wie die schwarzen Bremsspuren verrieten. Adam griff Gillians Arme und brachte die Frau in Sicherheit, während Custo links unten von ihm eine weitere Gewehrsalve abfeuerte. Danach kletterte Talia aus dem Wagen. Erst schoben sich ihre Turnschuhe, dann ihre Beine, die in einer Jeans steckten, etwas ungeschickt über die Ledersitze und aus der Beifahrertür.

Als der Rest von Talias Körper hervorkroch, blieb Adam fast das Herz stehen. Ihre glänzenden weißblonden Haare wehten im Wind des Hubschraubers wie eine Fahne, die verkündete ›Hier bin ich‹.

Er packte ihren Arm und riss sie an sich, um sie mit seinem Körper zu schützen. Zusammen hechteten sie auf die Tür zu. Dahinter fielen sie auf den Boden, wobei sein Kopf gegen die Wand krachte, was er zwar hörte, aber nicht spürte. Custo folgte ihnen mit gezückter Waffe, schloss die Tür und sicherte sie.

Zusammengerollt lag Gillian auf dem Boden und schluchzte, die Wimperntusche rann in schwarzen Bächen über ihre Wangen. Talia rappelte sich auf und versuchte, sich von Adams Gewicht zu befreien.

»Bist du okay?« Adam umfasste ihre Taille fester und hielt sie noch einen Augenblick. Er musste erst ihr Gesicht sehen, musste wissen, wie sie alles verkraftete. Er richtete sich auf den Knien auf, ohne dabei ihren Körper loszulassen, griff ihre Arme, sodass er ihr Gesicht zu sich herumdrehen konnte, und schob ihr Kinn vorsichtig in Richtung Licht.

Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, hielt den Blick jedoch strikt nach unten gerichtet. Er duckte sich zu ihr herunter und zwang sie, ihn anzusehen. Ihre Augen waren trocken, ihr Blick schien klar. Und einsam.

»Ich wollte wegrennen«, sagte sie und klang dabei seltsam distanziert. »Ein Geist hat mich erwischt. Patty hat mich gerettet und sich für mich geopfert. Sie hat das Monster auf den Mund geküsst.« Beschämt senkte sie den Blick.

Oh, lieber Jesus. Tante Pat.

Adam packte Talia an den Armen und schüttelte sie heftig. »Hast du jetzt genug vom Wegrennen, vom Verstecken und dem ganzen Mist?«

»Ich bin hier«, erwiderte sie hohl. »Sag mir, was ich tun soll.«

Wenn er sie geradeheraus bitten würde, das Gebäude zu verlassen und sich den Geistern zu stellen, würde sie es tun. Das war Adam klar. Sie hatte all ihre Geheimnisse preisgegeben. Ihr Leben gehörte nicht länger ihr, sondern Pat, genauso wie sein Leben seiner verlorenen Familie gehörte.

Aber Talia traf keine Schuld, nicht im Entferntesten. Er hätte vorausahnen und verhindern müssen, dass so etwas geschah. Hatte er Pat nicht erst gestern Abend gebeten, Talia zu beschützen? Und hatte er nicht die Frauen ohne Sicherheitsschutz in die Stadt geschickt? Es gab eine Million Sachen, die er hätte tun können. Nun war es zu spät.

»Steh auf«, sagte Adam. Er fasste Talia am Ellbogen, sie folgte ihm stumm.

»Lass mich runter«, schrie Gillian von hinten. Custo musste sie hochgehoben haben.

An der Treppe gab Adam seinen Code ein, und die vier gingen hinunter in die Laboretage. Verängstigte Mitarbeiter liefen vor seinem Büro durcheinander. Sie befanden sich eindeutig nicht da, wo sie sich eigentlich aufhalten sollten. Ihre gemurmelten Worte und ihre Bewegungen waren von ruheloser Angst getrieben.

»Ach, Mist« sagte Armand, als er die Waffen und die verlaufene Wimperntusche sah. »Ich wusste doch, dass ich diese verdammte Stelle nicht hätte annehmen sollen «

»Zick jetzt nicht rum«, murmelte jemand anders.

»Ist er draußen?«, fragte Jim.

»Nein, Jacob ist sicher«, teilte Adam der Gruppe mit.

»Bitte bewahrt Ruhe, damit Custo und ich die Lage einschätzen und euch umfassend informieren können.«

»Die Geister haben Patty in Middleton geschnappt«, platzte Gillian heraus. »Und Talia ist so etwas Ähnliches wie Jacob. Sie hat Patty den Geistern ausgeliefert.«

Talia stand mit erhobenem Kinn etwas abseits der Gruppe an der Wand und schien auf alles gefasst. Adams Blick zuckte zu Custo, und Custo stellte sich neben sie. Eine unmissverständliche Geste wer Talia anfassen wollte, musste erst an ihm vorbei.

Adam wandte sich an Gillian. »Wo warst du, als das passiert ist? Wieso hast du nicht geholfen? Tatsache ist, dass Talia dir das Leben gerettet hat. Wenn du wieder klar denken kannst, wirst du ihr dankbar sein.«

Gillian verfiel in heftiges Schluchzen. Er wandte sich an die Gruppe und fuhr fort: »Wenn wir uns untereinander bekämpfen, werden wir das hier nicht durchstehen. Wir müssen Ruhe bewahren und zusammenhalten. Armand ich brauche den Personalbestand. Es sollten sich siebzehn Personen auf dem Gelände befinden.« Adam dachte an Patty und korrigierte sich. »Sechzehn.«

Adam holte tief Luft und konzentrierte sich. Er verfügte über Notfallpläne, und sie hatten gewisse Abläufe trainiert. Er ging im Geiste die einzelnen Schritte durch: Das Ziel lautete natürlich, alle in Sicherheit zu bringen. Die Überlebenspakete, Waffen und Munition zu holen. Den unterirdischen Tunnel zu erreichen und in den Wald zu fliehen. Vier gepanzerte Geländewagen standen dort jederzeit bereit. Dann mussten sie sich in unterschiedliche Richtungen zerstreuen. Mit etwas Glück schafften seine Leute es zu einer der sechs Nebenstellen von Segue, die innerhalb von vier bis fünf Stunden mit dem Wagen zu erreichen waren. Er würde alles von dort aus koordinieren. Hoffentlich erhielt er ein paar Informationen, mit denen er weiterarbeiten konnte.

»Dreizehn«, antwortete Armand. Adam zählte im Geiste abzüglich der Wachen, die bei Jacob waren, und des fehlenden Spencer waren alle da.

Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Es konnte sein, dass die Truppen dort draußen bereits versuchten, in das Gebäude einzudringen. Er lief zu dem Raum zwei Türen neben seinem Büro er diente als Waffenlager und gab den Code ein. Die Tür öffnete sich geräuschlos.

Der Anblick traf Adam wie ein Stromschlag.

Der Raum war leer, die Regale enthielten nichts als Papier und Plastikmüll.

Seine Nerven brannten. Während er versuchte, die Information zu verarbeiten, war sein Kopf vollkommen leer. Nur drei Personen besaßen den Code zu diesem Raum: Er selbst, Custo und

»Wo ist Spencer?«, bellte Adam über das nervöse Plappern im Flur hinweg.

»Wir haben ihn nicht gesehen«, erwiderte Jim.

Der Schweiß auf Adams Rücken wurde kalt, eine Gänsehaut überlief seinen Körper bis hinauf zum Nacken, wo sich die feinen Härchen aufstellten.

Waffen und Munition waren weg. Vor einer Woche waren die Sachen noch da gewesen davon hatte sich Adam bei einer routinemäßigen Sicherheitskontrolle selbst überzeugt aber jetzt waren sie weg. Alle. Wie konnte das möglich sein?

»Was ist los?« Custo trat von hinten neben ihn. Er hatte Talias Arm im Griff, die sich widerstandslos mitzerren ließ.

Custo musterte den hellen, leeren Raum. »Spencer.«

»Es gibt keine andere Möglichkeit«, stimmte Adam zu. Seine Stimme hörte sich leise und fremd an. »Nur wir drei verfügen über den Generalcode.«

»Aber warum?«

»Zum Teufel, wenn ich das wüsste. Aber wenn er an diesen Kram herankommt « Das Bild des Militärhubschraubers tauchte in seinem Kopf auf. Die Soldaten, die auf der Wiese in Angriffsstellung gegangen waren und auf Custo geschossen hatten.

» , dann kommt er auch in den Tunnel«, beendete Custo den Satz. Ihr Fluchtweg war versperrt.

Ein Missverständnis? Nicht in diesem Ausmaß.

Jemand im IBÜ hatte eine Entscheidung getroffen. Adam konnte sich nicht vorstellen, wie die lautete. Welche vernünftige Person welcher Mensch sollte gemeinsame Sache mit dem Kollektiv machen?

Ganz offensichtlich Spencer. Adam erinnerte sich, dass Talia versucht hatte, ihn zu warnen, und er ihre Sorgen nicht ernst genommen hatte. Sie kannte Spencer nicht gut und verstand seinen verdrehten Humor einfach nicht. Nun stellte sich heraus, dass sie Spencer besser durchschaut hatte als er.

Adam verfügte lediglich über die Waffen, die er und Custo bei sich trugen. Den Plan, durch den Tunnel zu fliehen, hatte Spencer mit ausgearbeitet, also war er nutzlos. Die Folgen waren erschütternd. Alle zur Verfügung stehenden Mittel, über die Spencer Bescheid wusste, galten fortan als Risiko, einschließlich der Schutzhäuser.

Adam strich sich durch die Haare, um die Spannung in seinem Nacken zu lösen.

»Ich begreife das nicht.« Custo wirkte niedergeschlagen, als er zu demselben Schluss kam. »Wieso werfen sie nicht einfach eine Bombe auf uns ab? Wieso machen sie nicht das Gebäude dem Boden gleich und töten uns alle auf einmal.«

»Willst du wissen, was ich denke?«

Custo zuckte mit den Schultern, als sei ohnehin alles egal.

»Es geht um Talia. Sie wollen nicht ihr Leben aufs Spiel setzen, ansonsten hätten sie auf den Wagen geschossen. Sie wollen sie lebend. Vermutlich sind sie seit Monaten hinter ihr her, in Phoenix haben sie ihre Spur verloren und sie in Segue wiedergefunden. Verdammt, wahrscheinlich hat Spencer ihnen gesagt, dass sie hier ist. Das ist sechs Tage her. Mehr als genug Zeit, um den Lagerraum auszuräumen und einen Angriff zu organisieren.«

Adam blickte zu Talia. Es ging hier um sie. Es gab keinen Grund, darum herumzureden.

»Ihr solltet mich als Tausch anbieten, damit sie euch unbehelligt gehen lassen«, schlug sie vor. Ihre Stimme klang erstaunlich gelassen, seltsam gefühllos.

»Nein«, stieß Adam hervor. Custo schüttelte ebenfalls den Kopf, spannte jedoch die Kiefermuskeln an.

»Du hast es selbst gesagt«, insistierte Talia. »Sie werden mich sehr wahrscheinlich nicht töten, ansonsten hätten sie es bereits getan.«

»Verstehst du denn nicht?«, zischte Adam mit zusammengebissenen Zähnen.

»Das ist das Kollektiv sie werden uns so oder so umbringen. Sie wollen dich kontrollieren. Dann ist alle Hoffnung verloren.« Das durfte für eine Frau wie sie, die über einen beachtlichen Intellekt verfügte, nicht schwer zu verstehen sein.

Adam musste nachdenken sich neu sortieren. Es musste einen Ausweg geben, den Spencer übersehen hatte. Spencer war gut, aber nicht einfallsreich. Zu selbstsicher. Es gab sicher etwas, das ihm entgangen war. Die Kanäle vielleicht, oder

Der Boden unter Adams Füßen vibrierte. Die Erschütterung übertrug sich auf seinen Körper. Er erschrak, denn er wusste, woher das kam: Eine Maschine, die als Sicherheitsmaßnahme diente, wurde abgeschaltet.

Aus der Ferne hallte ein Schrei durch Segue.

Er kam von unten. Aus der Hölle.

Von Jacob.

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Der Boden vibrierte. Talia sah, wie Adams Gesichtszüge erstarrten und er aschfahl wurde. Sie wusste, was das bedeutete. Das dort draußen waren Monster, und ein äußerst motiviertes Exemplar befand sich hier drinnen. Jacob.

Adam wirkte konzentriert, als würde sich in seinem Kopf ein Gedanke formen. Er drehte sich abrupt um und gab den Code zu seinem Büro ein. Custo folgte ihm, wobei er Talia hinter sich herzerrte. Er stellte einen Stuhl in die Tür, damit sie nicht zufiel, blockierte aber den Eingang für die anderen, die sich vor dem Büro versammelten. Adam ließ das Gewehr auf das kleine Ledersofa zu seiner Rechten fallen und hackte wie verrückt auf seine Computertastatur.

Talia blickte auf den Bildschirm rechts von Adams Schreibtisch. Wie makabre Marionetten hingen die Sicherheitsbeamten in Jacobs Zelle, die sie einst bewacht hatten. Adam wechselte augenblicklich das Bild, das nun einen langen, leeren Flur zeigte. Über seine Schulter hinweg sah er Talia besorgt an.

Doch das war nicht nötig. Talias Angst war immer noch fest in einer Art Knoten ganz hinten in ihrem Kopf eingeschlossen. Es machte ihr nichts mehr aus. Dafür hatte Patty gesorgt.

Adam wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Computerbildschirm zu. »Das Alarmsystem ist weiterhin aktiv. Deshalb sind die Aufzüge blockiert.«

Er trat zu einem hohen Schrank auf der anderen Seite des Raumes, riss ihn auf und wühlte in langen Papierrollen. Dann wählte er eine aus, zog das Gummiband ab und wickelte sie auf.

Mit einer schwungvollen Armbewegung fegte er Akten, Papiere, einen Laptop und allerlei Krimskrams von der angrenzenden Arbeitsplatte auf den Boden und breitete stattdessen das Papier dort aus. Auf dem weißen Bogen war mit feinen blauen Linien ein detaillierter Plan des Gebäudes dargestellt, Raumaufteilung und Flure waren Talia allerdings nicht vertraut.

»Das ist ein Bauplan des Hotels, nicht von Segue. Spencer und das IBÜ waren anfangs nicht in die Renovierung des Gebäudes involviert. Deshalb hoffe ich, dass wir denen entwischen können und es zur Garage schaffen. Es wird zwar etwas eng für uns alle werden, aber dort stehen noch drei Wagen. Die Zugangsstraße dürfte frei sein.«

Adam folgte mit dem Finger einer Reihe von Linien. »Es gibt einen Gott.«

Anscheinend befand sich in dem grünen Salon ein alter Dienstbotengang, der hinter einer Trockenbauwand verborgen war. Durch ihn konnte man auf die Westseite des Gebäudes gelangen. Von dort würden sie die Terrasse überqueren, auf das Dach der Garage klettern, durch eine Lüftungsklappe steigen und sich wie Zirkusclowns in Adams Fahrzeugen stapeln, um sich rasch davonzumachen.

Lächerlich. Ihr, Talias, Plan war besser.

»Ein Tauschgeschäft ist keine Lösung«, sagte Adam, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Er saß wieder an seinem Computer und konzentrierte sich auf eine Reihe von Dateien, aus denen er einzelne auswählte und kopierte.

»Es gibt keinen anderen Weg«, beharrte Talia. »Ganz bestimmt denken die anderen genauso. Nur du nicht. Es muss niemand anders sterben.«

Aus dem Flur schrie Armand: »Gib sie doch den Geistern, wenn die so scharf auf sie sind. Ein Leben gegen zwölf.«

Talia sah, wie Adam Custo einen scharfen Blick zuwarf.

Custo wandte sich zu der Menge am Eingang um. »Ziehen wir uns zurück und lassen den Mann nachdenken. Wir schicken niemanden zu den Geistern.«

Mit ausgebreiteten Armen und dem Gewehr quer vor der Brust trieb Custo Gillian und die anderen den Gang hinunter auf das Treppenhaus zu.

Sobald sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren, sagte Adam: »Davon, dass du dich marterst, kommt Pat nicht zurück. Das Kollektiv ist so sehr hinter dir her, dass die Geister sich sogar in die Öffentlichkeit wagen, obwohl sie dazu eigentlich noch nicht bereit sind.« Während die Dateien heruntergeladen wurden, bewegte sich ein Balken langsam über den Bildschirm. »Sie sind noch nicht genug, um einen ganzen Krieg durchzuhalten, was bedeutet, dass sie es in Kauf nehmen, jahrelang gejagt zu werden, nur um dich zu bekommen. So wichtig bist du für sie. Wenn wir dich jetzt aufgeben, ist der Geisterkrieg vorüber. Dann haben sie gewonnen.«

Er wandte sich wieder dem Schrank zu, zog eine Feuerwehraxt heraus und legte sie zu dem Gewehr.

Er schien einfach nicht zu begreifen. »Adam. Vielleicht kann ich in einem anderen Universum tatsächlich hilfreich gegen die Geister sein und keine Last. Aber hier und jetzt weiß ich nicht, wie ich sie aufhalten soll.«

Wenn sie aber zum Kollektiv ging und einen sicheren Abgang für die Angestellten von Segue und für Adam aushandelte, konnte sie vielleicht etwas Sinnvolles mit ihrem Leben bewirken.

Er schüttelte den Kopf. Nein. »Wir müssen dir genügend Zeit verschaffen, dass du herausfinden kannst, was deine Rolle in diesem Spiel ist. Du musst herausfinden, wieso du so wichtig für sie bist, und das Ganze beenden. Egal, was heute geschieht.«

Der Mann war wahnsinnig.

Er drückte ihr einen USB-Stick in die Hand. »Darauf sind alle meine Daten aus Segue sowie weltweite Adressen, bei denen du Schutz findest. Aber beachte sie nicht weiter. Such dir einen belebten und zugleich anonymen Ort. Eine Großstadt, aber sag mir nicht, welche. Damit kommst du an Geld und alle übrigen Mittel sowie an Namen von Leuten, die dir helfen.«

Talia versuchte, ihm den Stick zurückzugeben. »Ich will das nicht.«

»Ich wünschte, ich müsste dir das nicht geben, aber ich kann nichts anderes mehr tun. Nein, ich nehme ihn nicht zurück. Eine Sache gibt es noch « Er berührte ihre Lippen mit seinen, legte eine Hand schützend um ihren Kopf und strich durch ihre Haare. Sie spürte sein Bedauern, es verbrannte sie.

Sie wollte das nicht fühlen. Nicht fühlen, was hätte sein können.

Er veränderte seine Haltung und stieß den Schreibtischstuhl aus dem Weg, um ihren Körper an seinen zu schmiegen und ihr auf grausame Art zu zeigen, wie perfekt sie zueinander gepasst hätten, wenn sich alles anders entwickelt hätte. Eine heftige Gefühlswelle schwappte über sie zu viele Gefühle, um sie voneinander unterscheiden zu können, aber alle durchzogen von Schuld.

Er wich zurück, doch sie spürte noch das Gefühl seiner Lippen auf den ihren.

»Was beim letzten Mal geschehen ist, tut mir leid«, sagte er. »Ich habe mir selbst leid getan. Ich tue mir noch immer leid, aber was soll’s.«

Sie ergriff seine Arme. »Was? Und jetzt soll ich weglaufen und dich den «

Er nickte. »Ja. Weit und schnell.«

Über seine Berührung spürte sie, wie seine Entschlossenheit wuchs und alle anderen Gefühle verdrängte.

»Nein. Ich habe gesehen, was die Geister Menschen antun.«

»Wir müssen alle eines Tages sterben.« Er packte sie um die Taille und schob sie hinaus in den Flur.

Sie drehte sich um und sah, dass er sich mit Gewehr und Axt bewaffnet hatte. »Aber sie fressen nicht deine Lebensenergie. Sie fressen deine Seele.«

Adam blickte im Eingang zu seinem Büro kurz zu ihr hinunter und verzog leicht den Mund. »Ich besitze sowieso nur noch eine halbe Seele.«

»Nein, das stimmt nicht. Das ist « Ihr fehlten die Worte, um auszudrücken, was sie für ihn empfand. »Ich könnte es so dunkel werden lassen, dass wir alle sicher entkommen.«

»Wir werden deinen Trick ganz sicher nutzen, aber dein Schatten ist nicht groß genug, um uns alle zu verstecken. Um uns alle zu retten. Er reicht nur für dich.« Er schob sie den Flur hinunter zu dem Rest der Segue-Gruppe. Custo hatte bereits die Tür zum Treppenhaus geöffnet.

»Ich kann noch andere Sachen im Dunkeln machen. Ich habe auf der Straße einen Geist unschädlich gemacht «, insistierte sie, während sie neben Adam hereilte.

»Aber nicht den, der Patty erwischt hat. Und vor diesen Türen steht eine ganze Armee.«

Es war hoffnungslos. »Willst du denn überhaupt nicht um dein Leben kämpfen?«

»Der grüne Salon«, sagte Adam zu Custo, der die anderen in das Treppenhaus drängte. Adam drehte sich wieder zu ihr um und sah ihr direkt in die Augen. »Talia, ich werde bis zum Letzten kämpfen. Bitte versteh doch. Ich muss mich um meinen Bruder kümmern.« Düstere, heftige Wut tobte in ihm, als wenn das Wort Bruder sein Herz in einen tödlichen Würgegriff nahm. »Finde du das Wesen, das ihn so verändert hat.«

Sie wich zurück. Nein. Das will ich nicht.

Das war nicht der Adam, der sie gerade geküsst hatte. Dieser Adam war ein Fremder. Unnachgiebig, unerbittlich. Entschlossen, gegen ein Wesen zu kämpfen, das zehnmal stärker war als er. Er schien wie von Sinnen.

»Versprich es mir. Du bist der Schlüssel. Du findest heraus, wer diese Geister schafft, und machst ihm den Garaus.« Sie betraten die Eingangshalle des Hotels. Adam sah über seine Schulter zu ihr zurück und durchbohrte sie mit seinem Blick. »Versprich es mir.«

»Ich weiß nicht, wie«, wiederholte sie. Er drängte sie so heftig, so entschieden, dass jedes andere Gefühl davon überdeckt wurde.

»Du wirst es herausfinden.« Er ergriff ihren Oberarm. »Für Patty.«

Das hatte gesessen und brach ihren Widerstand. »Für Patty.«

Talia blickte die Halle hinunter. Die Gruppe vor ihnen hatte Staubkörner aufgewirbelt, die im Sonnenschein tanzten. Draußen wirbelten die Rotorblätter des Hubschrauberpropellers durch die Luft.

Adam folgte Custo durch eine Reihe von Verbindungstüren und zerrte sie dabei hinter sich her ihre Schulter würde das nicht unbeschadet überstehen. Dann stieß er sie von sich, sodass sie gegen Custo taumelte. Bei der kurzen Berührung von Custos Haut spürte sie, dass er unter starkem Druck stand und bereit war zu kämpfen. Hinter ihm sah sie Gillians rotes, verhärmtes Gesicht. Armand fluchte. Und Jim Remy trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.

Talia blickte sich um. Der Raum hatte keine Fenster und hing voll grauer Schatten. Einen Raum von dieser Größe konnte sie vollkommen verdunkeln. In Middleton hatte sie eine Kugel zu ihrem Ziel gelenkt das musste sie wieder schaffen. Sie konnte die Geister und die Soldaten einen nach dem anderen erledigen. Sie konnte

Ein lautes Krachen beförderte sie abrupt zurück in die Realität Adam schlug mit der Axt auf die Wand ein. Er hob die Arme, holte Schwung, ließ die Axt nach unten sausen, und die Wand splitterte. Er griff in das schwarze Loch und zog unter Einsatz seines gesamten Körpergewichts an dem Material. Ein großes Stück Trockenwand brach heraus. Armand trat neben ihn und brach ein weiteres Stück ab. Die anderen griffen ebenfalls zu und schufen eine Öffnung, durch die sie hindurchpassten.

»Adam«, sagte Jim. »Gib mir eine Waffe. Ich bleibe hinter euch.«

»Das kann Custo übernehmen.«

»Du brauchst Custo, und ich will hierbleiben. Für immer. Ich will bei ihr sein.« Jim zuckte mit den Schultern. Talia wusste, dass er Lady Amunsdale meinte, den Geist, deren Spur er in der vergangenen Woche verloren hatte. Ganz offensichtlich war er nicht bei Trost.

Adam zögerte, dann reichte er Jim seine Pistole sowie ein paar Magazine.

Aus dem Loch in der Wand stieg eine dicke Staubwolke auf. Dahinter herrschte Dunkelheit. Etwas krabbelte dort drin.

»Ihr zuerst«, sagte Adam in ihre Richtung.

Custo nickte grimmig, und mit einem leisen Schlurfen bewegten sich Talias Füße widerwillig auf das schwarze Loch zu. Sie stieg über die Bretter in einen schmalen, feuchten Gang, in dem Spinnweben wie Gespenster von der Decke hingen, sich in ihren Haaren verfingen und über ihre Arme strichen.

»Hier.« Ein heller Lichtstrahl bohrte sich durch die Dunkelheit, Custo drückte ihr eine Taschenlampe in die Hand. »Schnell jetzt. Die anderen warten.«

Sie hob den Arm, um damit Augen und Gesicht zu schützen, dann arbeitete sie sich vorwärts. Der Flur war lang und führte über verrottete Treppenstufen. Custo hielt sie beim Herabsteigen fest, falls das Holz nachgab. Offenbar gab es den Gang, damit das Personal auf seinen Botengängen ungesehen das Hotel durchqueren konnte.

Am Ende befand sich eine alte Tür, die fauligen Scharniere aus dem Holzrahmen gebrochen. Der Raum dahinter war klein und wirkte unfreundlich, aber durch eine graue Luke fiel Licht herein.

Als Adam zu ihnen stieß, wurde es ganz still im Raum, denn alle waren gespannt, was als Nächstes folgte. »Wir kommen hier am westlichen Bogen der Terrasse heraus und laufen in Richtung Garagendach. Custo und Talia gehen voran. Dann folgt der Rest von euch.«

Er warf Gillian einen Autoschlüssel zu. Armand ebenfalls. »Packt so viele Leute wie möglich in die Wagen.«

»Leise!«, Custo drehte den Kopf um und lauschte.

Im Raum wurde es still. Hinter ihnen, aus der Öffnung zum Gang, waren laute Schritte zu hören. Poltern. Das Splittern von Holz.

Jacob?

»Verdammt«, fluchte Adam. »Geh jetzt. Custo «

Alle drängten zum Fenster, jeder wollte sich als Erster in Sicherheit bringen.

»Jetzt oder nie«, sagte Jim, Schweiß rann seine Stirn hinunter. Er tauchte zurück in die Dunkelheit. Ein lauter Knall hallte durch den Raum. Noch einer. Und noch einer. Ein erstickter Schrei. Dann Stille.

Einen lähmenden Augenblick lang rührte sich niemand von der Stelle.

Dann stieß Custo Armand seinen Ellbogen ins Gesicht und drängte sich durch die Menge. Er zog eine andere Person aus der Luke, schwang sich selbst nach oben und glitt geschmeidig hinaus.

Derbe Hände, die von Adam, packten Talia an den Hüften und hoben sie nach oben. Sie duckte sich durch das Loch und fiel auf Custo, der einen Arm um ihre Brust legte, sie hochzog und eine Pistole an ihren Kopf hielt.

Kurz wurde sie von Panik ergriffen, und ihr Herz hämmerte wie wild, doch dann begriff sie. Er wollte sie nicht erschießen, er setzte damit lediglich ein Zeichen.

Die Sonne brannte heiß auf ihr Gesicht, aber nach einem kurzen Moment gewöhnten sich ihre Augen an das Licht, und sie bemerkte, dass sich auf der Wiese unterhalb der Balustrade etwas bewegte. Waffen waren auf sie gerichtet, aber niemand schoss. Es war wie Adam gesagt hatte sie wollten sie lebend.

Einer nach dem anderen kroch aus dem Loch. Mit rotem Gesicht quetschte sich der alte Philip durch die Öffnung. Gefolgt von der Labortechnikerin Priya. Sie stolperten in das Licht und realisierten langsam, dass auf der Wiese ein Exekutionskommando stand, das seine Waffen auf sie gerichtet hielt.

Adam kletterte als Letzter heraus, blieb stehen und rief über seine Schulter zurück: »Jim!«

Keine Antwort.

Custo zog Talia zurück zu Adam. »Wir müssen gehen, bevor sie merken, dass wir ihnen nur etwas vorspielen.«

Adam nickte nachdrücklich. Einen Augenblick sah er Talia an, dann bedeutete er allen zu gehen. Während sie auf die Garage zuhasteten, wurden sie von unten von den Gewehrläufen verfolgt, ein Stück weiter weg neigte der Hubschrauber die Schnauze nach unten und bewegte sich in ihre Richtung.

Die Gruppe kletterte über eine Leiter auf das Garagendach, Custo und Talia zuerst. Jetzt mussten sie nur noch in die Garage und zu den Wagen gelangen. Niemand konnte wissen, in welchem Fahrzeug Talia saß. Vielleicht gelang es ihnen tatsächlich zu entkommen.

»Oh, Adam«, rief eine hohe Stimme, die neckisch und verführerisch, aber trotzdem männlich klang und trotz des Hubschrauberlärms über die Terrasse hinweg zu hören war.

Talia drehte sich um.

Jacob schlenderte auf sie zu, wobei er Jim, der noch lebte, als Schutzschild benutzte. Auf Jacobs Unterarm leuchtete eine frische Blutspur, als hätte er sich gerade damit den Mund abgewischt. Talia dachte an die Wachen in seiner Zelle und erschauderte.

»Jacob«, tönte eine Lautsprecherstimme aus dem Hubschrauber. »Nicht die Gruppe angreifen.«

»Wieso nicht?«, rief Jacob fröhlich und kam weiter auf sie zu. Jim wimmerte in seinem Griff.

»Das Kollektiv gebietet dir, stehen zu bleiben!«

»Das Kollektiv hat mich vergammeln lassen«, erwiderte Jacob.

»Erschießt ihn«, sagte Talia zu Custo.

Custo hob seine Waffe, aber es war zu spät. Jacob hatte es nur auf eine Person abgesehen, auf eine einzige.

Jacob zielte und schleuderte Jim zur Seite.

Adam duckte sich und brachte sein Gewehr in Position. Jacob schlug es ihm aus der Hand, ein Schuss löste sich, und der Kugelhagel zerschlug die Bodenfliesen. Jacob griff den Gurt, mit dem die Waffe an Adams Körper befestigt war, und riss ihn zurück.

Adam sprang auf, trat mit einem Bein nach hinten aus und erwischte Jacob am Knie. Das Knacken war bis zum Dach zu hören, wo Talia stand. Aber Adam konnte nicht entkommen.

Mit grimmiger, wild entschlossener Miene hob Custo erneut sein Gewehr.

»Nein! Du triffst Adam.«

In einer perversen Umarmung zerrte Jacob Adam an den Schultern nach oben.

»Das ist die einzige Möglichkeit.« Custo sah durch den Sucher.

»Mein Bruder.« Jacob grinste. Er gab Adam einen neckischen Kuss auf die Nase, wich zurück, riss den Mund auf und schob seine Zähne hervor.

Wieder erwachte die Angst in Talia. Abscheu brach alle Dämme, die sie so sorgfältig um ihr Herz herum errichtet hatte. Jegliche Zurückhaltung wurde von diesem Sog hinfortgerissen. Alles Interesse an Leben und Hoffnung und Liebe löste sich mit der Aussicht auf Adams Tod in Nichts auf. Wenn die Geister und die Menschheit ein Massaker wollten, würde sie es ihnen verdammt noch mal verschaffen.

Talia pumpte bis zur Schmerzgrenze Luft in ihre Lungen und schrie.

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Der Schattenmann berührt das kühle Metall seiner Sense, die Klinge, die gnadenlos ist wie der Tod und beißend scharf wie sein Kummer. Die Schatten heulen und brüllen um ihn herum wie große dunkle Ungeheuer aus Wind und Wut.

Über den Tumult hinweg schreit eine Seele ihre Angst heraus. Es ist ein archaisches Geräusch, eine Komposition aus gebrochenen, dissonanten Tönen, das aus der Kehle eines Kindes stammt und den Tod zur Jagd auffordert.

Talia.

Der Schrei dringt durch die Schleier der Zwielichtlande und zerreißt die Fesseln seines Gefängnisses. Freiheit. Die Schatten schnappen nach seinen Fersen, können ihm jedoch nicht folgen.

Der Schrei seines Kindes holt ihn zurück in die Welt.

Es ist Tag. Als er hinaus auf das Schlachtfeld tritt, fällt Sonnenschein auf den Umhang um seine Schultern. Weder Wald noch Gebäude versperren seinen Blick. Der Tod ist für den Krieg bestimmt.

Talia.

Eine Schar Männer hat ihre Waffen auf seine Tochter gerichtet. Untote werden von Hunger getrieben, der an ihrer Seele nagt, und schleichen auf ein menschliches Opfer zu. Und über dieser Schlacht, über der Bergkuppe, thront ein Dämon, der Herr über dieses Chaos.

Die Schlange, die dem Tod entkommen und in die Welt der Sterblichen geschlüpft ist, während er sich Talias Mutter hingegeben hat.

Dämon! Wenn du meinem Kind etwas antust, wirst du sehen, was der Tod auf der Erde anrichten kann.

Der Dämon öffnet einen menschlichen Mund und lacht ihn an.