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Talia ließ den Stoff der Seidenbluse für das Vorstellungsgespräch mit einem verzückten Seufzer durch ihre Finger gleiten, aber sie hatte keine Zeit herumzutrödeln. Ihr Blick zuckte zu dem Wecker auf ihrem Nachttisch: 16:12 Uhr. In etwas weniger als drei Stunden ging ihr Flug, und sie hatte erst die Hälfte der Sachen von ihrer Vorbereitungsliste gestrichen.
Weiße Bluse, ja.
Aus der Nachbarwohnung drang gedämpftes Männerlachen in ihr Schlafzimmer. Dienstagnachmittag. Jeden Augenblick würden die Kerle mit ihrer Bandprobe loslegen. Wie auf Kommando wummerte vorwurfsvoll eine Bassgitarre herüber, bu, dop, bu, dop-do. Eines der Gemälde mit den Märchenlandschaften ihrer Mutter vibrierte in seinem Rahmen. Genauso wie ihre Zähne.
Nun, das musste sie nicht mehr lange ertragen.
Talia ließ die Bluse über das Kostüm für das Vorstellungsgespräch gleiten, um es an dem Kleiderhaken in ihrem brandneuen Koffer zu befestigen. Allein der Anblick der Kleidung ließ ihr Herz höher schlagen. Zusammen mit den Schuhen, der Strumpfhose, dem Slip und den zwei aufeinander abgestimmten Blusen hatte sie das Ensemble beinahe einen Monatslohn gekostet. Im Ausverkauf. Aber sie bereute die Ausgabe kein bisschen, nicht wenn sie die Assistenzprofessur an der Universität von Berkeley bekam.
Bitte, lieber Gott, lass mich diese Stelle bekommen. Seit Talia die Einladung zu dem Vorstellungsgespräch nach Berkeley erhalten hatte, ging ihr dieses stille Gebet ununterbrochen im Kopf herum, und ihr Herz schlug so heftig, dass es ihr beinahe aus der Brust sprang. Bitte, bitte, bitte, lieber Gott. Tu mir nur diesen einen kleinen Gefallen …
»Klopf, klopf.«
Talia drehte sich zur Tür herum und fand sich ihrer Mitbewohnerin Melanie gegenüber.
Oh verdammt. Was jetzt? Eine Auseinandersetzung kurz vor ihrer Abreise war das Letzte, was Talia gebrauchen konnte. Die Anspannung kroch ihr Rückgrat hinauf, während die elektrische Gitarre nebenan eine schnelle Abfolge schriller Töne jaulte.
Von ihrer glatt zur Seite gekämmten Frisur bis zu ihren hohen Absätzen schaffte es Melanie, mit ihrem Studentenbudget großstädtisch und raffiniert zu wirken. Sie hatte bereits Stellenangebote erhalten, obwohl sie bis zu ihrem Wirtschaftsabschluss noch ein Semester vor sich hatte. Sie hob eine perfekt gezupfte Augenbraue, während sie mit einer Hand eine dicke Tafel Godiva-Haselnussschokolade in die Höhe hielt. Eine himmlische, in goldene Folie verpackte, schwere, sinnliche Sünde.
»Friedensangebot«, schrie Melanie über den Bandlärm hinweg.
»Danke.« Talia nahm vorsichtig die Tafel entgegen, um nicht Melanies Haut zu berühren und von ihren negativen Emotionen überschwemmt zu werden. Talia zwang ein Lächeln auf ihr Gesicht. Sie hoffte, dass es natürlicher wirkte als es sich anfühlte. Von dem Augenblick an, als Talia vor acht Monaten hier eingezogen war, hatte Melanie herumgezickt. Aber die Miete und die Lage waren zu gut gewesen, um noch einmal umzuziehen.
»Damit du nach dem Vorstellungsgespräch etwas zum Feiern hast«, stellte Melanie klar. »Ich hätte dir gratulieren müssen, nachdem du deine Doktorarbeit verteidigt hattest. Das war nicht nett von mir. Tut mir leid. Ich wünsche dir wirklich nur das Allerbeste. Also … herzlichen Glückwunsch, Dr. O’Brien.«
Bei Glückwunsch verstummte die Musik. Das geschriene Doktor, das anschließend folgte, wirkte sich wundersam auf Talias Stimmung aus. Auf einmal konnte sie alles verzeihen. Sie würde für ihre ganze Arbeit belohnt werden. Nicht mit Geld, nicht in den eher esoterischen Sozialwissenschaften. Aber bald – bitte, lieber Gott – würde sie eine großartige Stelle an einer renommierten Universität innehaben.
Vorlesungen, Veröffentlichungen, Förderungen. Herrje.
Und ihre eigene Wohnung, obwohl die Mietpreise in der Nähe des Campus in astronomischen Höhen lagen. Trotz Melanies plötzlichem Bemühen wollte sie keine Mitbewohner mehr haben, aber vielleicht Freunde. Wer weiß? Wenn sie sehr, sehr gut war, konnte sie vielleicht ein richtiges Leben führen. Sie würde womöglich sogar als normal durchgehen. Okay, jetzt ging ihre Fantasie mit ihr durch. Sagen wir unauffällig.
»Wieso brechen wir sie nicht an und machen die Friedenserklärung amtlich?«, schlug Talia vor. Nur ein Stück würde ihre Nerven erheblich beruhigen.
»Nein. Die ist für nach dem Gespräch.« Melanie winkte abwehrend in Richtung Tafel und zog sich über die Schwelle zurück.
Na gut. Verschwisterung vorbei. Aber es war nett. Ein gutes Ende.
Talia steckte die Schokolade in ihr Handgepäck. Um nichts auf der Welt würde diese köstliche Tafel die Wartezeit am Flughafen überleben und schon gar nicht bis morgen Abend, bis das Vorstellungsgespräch in Berkely, das Studentenpanel und die Besichtigung des Campus endlich vorbei waren.
Ein erneutes Pochen erschütterte die Wohnung. Talia runzelte die Stirn. Das ausdauernde Klopfen stammte nicht von der Band nebenan. Dazu war es nicht nervig genug, aber es war nah.
»Das kommt von der Wohnungstür«, stellte Melanie fest. »Ich gehe schon. Pack du deinen Koffer fertig.«
»Danke noch mal. Das ist wirklich süß von dir.« Aber Melanie war bereits gegangen. Da sich das Semester dem Abschluss näherte, war es vermutlich ihr letztes Gespräch.
Talia wandte sich wieder ihrer Liste zu. Weiße Bluse, ja. Kostümjacke …
Vereinzelte Wortfetzen drangen aus dem Flur zu ihr herüber. Eine unbekannte Frauenstimme dominierte, aber ein tiefes Brummen deutete daraufhin, dass auch ein Mann dabei war. Talia hielt den Kopf schräg und lauschte.
»Was sagten Sie noch? Wie ist Ihr Name?« Wenn Melanie verärgert war, klang ihre Stimme sehr hart. Das konnte sie gut.
Talia trat vor und spähte den Flur hinunter. Melanie packte die Klinke und versuchte, ihnen die Tür vor der Nase zuzuschlagen, was selbst für ihre Verhältnisse extrem unfreundlich war. Ihr Körper war in Alarmbereitschaft, und sie versuchte die Tür mit dem Fuß zuzuhalten.
Irgendetwas stimmte nicht.
»Nun, sie ist nicht da. Wegen des Bandlärms arbeitet sie dienstagnachmittags immer in der Bibliothek, aber ich richte ihr aus, dass Sie da waren.«
Talia hielt sich im Hintergrund und wartete einen Augenblick. Sie hatte keinen Grund, die Lüge zu verderben. Wer auch immer es war, sollte schleunigst wieder gehen.
Wieder sprach die Frau, wurde jedoch von dem plötzlichen Aufkreischen schräger Musik unterbrochen. Talia strengte sich an, konnte jedoch kein einziges Wort verstehen. Die Band hörte genauso abrupt wieder auf, das Schlagzeug endete mit einem halbherzigen Klatsch-Ratsch-Tapp.
»Nein, Sie können nicht hereinkommen«, zischte Melanie. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie nicht da ist.«
Als sie ein lautes Krachen am Eingang der Wohnung vernahm, erschrak Talia heftig. Sie ließ ihren Notizblock fallen und rannte den Flur hinunter.
Die Eingangstür stand offen. Melanie lag mitten im Raum auf dem Boden und richtete sich mühevoll auf. Der Mann und die Frau betraten gerade die Wohnung. Mit einem Fußtritt schloss er die Tür und lehnte sich dagegen, während sie sich im Raum umsah und die verkniffenen Lippen zu einem unfreundlichen Lächeln verzog.
Talia fröstelte.
Melanie sah vom Boden zu ihr hoch. »Sie wollen zu Talia.«
»Sie ist nicht hier«, wiederholte Talia. Melanies ängstlicher Blick und ihre weit aufgerissenen Augen, die sonst so selbstsicher wirkten, erfüllten Talia mit unendlicher Dankbarkeit, und zugleich war ihr mulmig. Ihre Mitbewohnerin hätte ebenso gut einfach mit dem Finger auf sie zeigen können und fertig. Aber andererseits ließ Melanie sich nicht von jedem einschüchtern.
Melanie stand auf, straffte ihren Rücken und zog die Augen zusammen.
Talia las die Frage in dem Gesicht ihrer Mitbewohnerin – Kennst du die? – und antwortete mit einem kaum merklichen Kopfschütteln, nein.
Talia hatte keine Ahnung, wer diese Leute waren. Sie waren jung, vermutlich Mitte zwanzig. Die Frau war groß und schlank, hatte volles dunkles Haar und einen üppigen Busen, jedoch einen unglücklich vorstehenden Unterkiefer. Der Kerl, der an der Tür lehnte, war klein und breit und betonte seine Figur durch eine Bügelfaltenhose und ein enges Polohemd. Er wirkte aus der Mode gekommen, wie ein Nachrichtensprecher aus den Achtzigern. Die zwei passten nicht zueinander. Abgesehen von ihren ausdruckslosen Augen und den strengen Linien um ihre Münder bildeten sie ein ungleiches Paar.
»Wir können warten«, erklärte die Frau und schien sich in der Wohnung wohlzufühlen.
Eine Gänsehaut lief über Talias Kopfhaut und weiter ihren Rücken hinunter. Sie schluckte. »Was möchten Sie denn eigentlich von ihr?«
»Wir sind ihre Fahrer. Sie hat heute Abend ein Rendezvous«, erwiderte die Frau.
Talia hatte keine Verabredungen. Nicht jetzt, nie. Kerle merkten sofort, dass sie anders war, und hielten sich von ihr fern. Und der Gedanke, sich körperlich auf jemanden einzulassen, von jemandem berührt zu werden … Nein. Bücher waren ihre einzigen Freunde.
Die große schlanke Frau trat auf sie zu, beugte sich vor, um Talias Gesicht zu untersuchen, und zog sich wieder zurück. Sie verströmte einen überaus fauligen Geruch. Ihr Blick war berechnend, gemein und forschend.
Instinktiv wich Talia in die Dunkelheit zurück. Die Schatten legten sich wie Seidenschleier um ihren Körper, kalt, aber beruhigend. Der Raum verfinsterte sich. Andere mochten es für eine Täuschung des Lichts halten oder für eine gedimmte Glühbirne, aber sie wusste es besser. Sie bemühte sich, ihre Angst zu kontrollieren und die sich sammelnden Schatten zurückzustoßen. Es war lange her, dass sie die Kontrolle verloren hatte. Mit einiger Anstrengung schüttelte sie das Dunkel von sich.
Das beste Versteck war immer in aller Öffentlichkeit.
»Ich glaube, Sie sind hier falsch«, sagte Melanie. »Ich bin ihre Mitbewohnerin und weiß ganz sicher, dass sie jetzt mit niemandem ein Rendezvous hat.«
»Talia O’Brien, sechsundzwanzig Jahre alt, Doktor der Anthropologie. Mutter: Kathleen O’Brien. Sie ist bei Talias Geburt gestorben. Es kam zu Komplikationen, die von einem Herzfehler herrührten. Sie wurde von ihrer Tante Margaret aufgezogen, die ebenfalls verschieden ist«, zitierte der gedrungene Mann.
In Talia stiegen Schuldgefühle wegen ihrer Mutter und Trauer über den Verlust ihrer Tante Maggie auf. Tante Maggie war bei einem Autounfall gestorben, während Talia gegen ihren Willen wieder gesund geworden und langsam ins Leben zurückgekehrt war, sodass sie mit fünfzehn Jahren schließlich ganz allein zurechtkommen musste.
Der Lärm der Band schraubte sich erneut in ohrenbetäubende Sphären hoch.
Im Gedenken an Tante Maggie schluckte Talia ihre Angst hinunter und zwang sich, die Musik zu übertönen. »Soll das etwa ein Streich sein? Das ist nicht lustig.«
Die große Frau lächelte ihr über ihre Schulter hinweg zu. »Nein, kein Streich.« Sie hob eine gezupfte Braue. »Wissen Sie, Sie haben sehr ungewöhnliche Augen.«
Talia kam sich vor wie ein Insekt unter dem Mikroskop. Sie hasste es, wenn Leute Bemerkungen über ihr Aussehen machten, insbesondere über ihre Augen. Exotisch, hatte Tante Maggie einmal gesagt. Aber exotisch war sehr wohlwollend ausgedrückt. Seltsam traf es wohl eher. Sie standen an den Seiten etwas zu schräg nach oben. Und sie hatten die Angewohnheit, entsprechend ihrer Stimmung die Farbe zu wechseln. Jetzt waren sie genauso dunkel wie ihr Schatten.
Die Frau sah sie noch einmal prüfend an. »Was sagten Sie, wie Sie heißen?«
Ich habe nichts gesagt.
Aus dem Augenwinkel sah Talia, wie Mel nach dem Telefon griff. »Mir reicht’s«, verkündete sie laut. »Wenn das irgendein dummer Streich ist …«
Talia wusste, dass es das nicht war. Ihre schlimmste Befürchtung wurde wahr. Diese schrecklichen Leute wussten, dass sie anders war, und sie würden alles kaputt machen. Sie würde nie einen Ort für sich finden. Keine Universität. Nichts. Nicht einmal, wenn sie nur ihre Nase in Büchern vergraben und niemanden stören wollte.
Talia sah Melanies Finger 9-1-1 drücken. Es war lächerlich, nach Hilfe zu rufen. Die kreischenden Sirenen konnten nicht rechtzeitig hier sein. Alles jenseits der Wohnungstür war Welten zu weit entfernt.
Innerhalb eines Wimpernschlags war der breite Mann bei Mel. Er schlug ihr das Telefon aus der Hand, fing den Hörer auf und legte ihn zurück auf die Gabel. Seine andere Hand schoss nach vorn und schloss sich fest um Melanies Hals.
Sein Mund formte die Worte: »Kommt nicht infrage«, aber seine Stimme ging in dem Lärm unter.
Melanie trat um sich und fuchtelte mit den Armen, während ihr Gesicht rot anlief.
Oh, nein. Oh, bitte … Talia stürzte vor und schrie über den ansteigenden Bandlärm hinweg. »Lassen Sie sie los. Ich bin Talia O’Brien.« Sie klammerte sich an das Handgelenk des Mannes, um ihn von Melanies Hals wegzuzerren. Eine heftige Übelkeit stieg in ihr hoch, als würde sich ihr Magen mit heißem Teer füllen. Der Mann fühlte sich widerlich, böse und gemein an.
Talia drehte den Kopf zu seiner Partnerin herum. »Sagen Sie ihm, dass er aufhören soll.«
Die Frau lächelte herablassend. »Ms O’Brien. Es ist mir eine Ehre, Ihnen zu dienen. Mein Meister bittet Sie um Vergebung und freut sich darauf, Sie persönlich kennenzulernen.« Sie wandte sich an ihren Begleiter. »Bring das zu Ende, Grady. Wir müssen los.«
Grady hob Melanie vom Boden hoch.
»Aufhören!« Der Raum verdunkelte sich, aber Talia konnte nichts tun. »Lassen Sie sie runter!« Melanies Gesichtsfarbe war inzwischen beinahe dunkelrot. »Bitte lassen Sie sie los. Ich werde tun, was immer Sie wollen.«
»Das werden Sie sowieso«, erwiderte die Frau. »Grady ist hungrig. Wenn er jetzt nichts zu essen bekommt, wird er mich den ganzen Rückweg nerven, damit ich für einen kleinen menschlichen Imbiss anhalte. Das ertrage ich nicht.«
Melanies Augen flackerten, als erlebte sie bei vollem Bewusstsein eine Tiefschlafphase.
Talia hing sich an Gradys ausgestreckten Arm und versuchte, ihn mit ihrem Gewicht herunterzudrücken. Er rührte sich nicht und lächelte lediglich über ihren Versuch. Sie trat nach ihm. Er schien aus Fleisch und Blut zu bestehen, fühlte sich aber an wie ein Stein.
Die Frau packte Talias Schulter und riss überraschend kräftig daran, sodass Talia zurücktaumelte.
»Sie können ihm nichts anhaben«, erklärte die Frau. »Der Versuch ist zwecklos.«
Talia wischte sich die Tränen der Verzweiflung weg, die ihren Blick verschleierten. Bitte mach, dass das ein Albtraum ist.
Dann öffnete Grady den Mund. Weiter und weiter. Absolut nicht menschlich. Er bleckte die Zähne, alle scharf und spitz und seltsam lang, und zog Melanie an sich. Er stülpte seinen Mund über ihren.
Schockiert hielt Talia die Luft an und erstarrte. Sie spürte ein Ziehen in der Magengegend. Ein Sog, der an Leben und Seele zerrte. Nicht an ihrer, die behaglich in ihrem Körper ruhte. Melanies Sein wurde herausgerissen und ihr Geist derart geschändet, dass Talia den Schmerz in ihrem Kopf und ihrem Herzen spürte.
Als Talia schrie, breitete sich vollkommene Dunkelheit aus.
Sie hatte jedoch schon immer auch in der Dunkelheit alles erkennen können. Durch die Schatten wirkten die Farben intensiver, und die Formen erhielten eine zusätzliche Dimension. Die vollkommene Dunkelheit brachte eine sinnliche Welt zum Vorschein, so verführerisch und zugleich einschüchternd, wie man es sich nur in den schillerndsten Fantasien vorstellen konnte.
Sie konnte also alles sehen.
Ihren Schrei begleitete eine seltsame Energie, die brennend ihren Hals hinaufkroch, um die Welt zu zerreißen. Diese Energie zerrte an den dunklen Schatten und riss ihren Schutzumhang in Fetzen, die sich wie im Sturm eines wütenden Windes in heftig zitternde Rauchwölkchen auflösten. Aus dem Wind, mitten aus dem Höllensturm, erhob sich eine Gestalt mit gruseligen, entschlossen funkelnden Augen – die Inkarnation der Dunkelheit. Das konnte nur der Tod sein, der herzlose Teufel, der ihr Mutter und Tante genommen hatte. Er hatte die Gestalt eines Mannes und schien in völlige Abwesenheit von Licht gehüllt zu sein, sodass er für sie leicht zu erkennen war. Er ergriff eine blitzende gebogene Klinge. Schon wirbelte er die Sense durch die Luft und ließ sie nach unten sausen.
Die Klinge war erbarmungslos. Das Metall schnitt mit Leichtigkeit durch das Paar, das in der grausamen Fratze eines Kusses erstarrt war. Grady fiel wie eine trockene, knochenlose Materie in sich zusammen. Eine Hülle. Melanie sackte nach unten. Sie sank mit weit geöffneten Augen und überraschtem Blick auf die Knie nieder und stürzte dann zur Seite, wobei sie lautstark die Luft ausstieß.
Talia taumelte zurück und schrie doppelt so laut.
Mit dem nächsten Schwung traf die Sense die Frau quer über dem Bauch. Sie kippte wie eine Vogelscheuche um. Bei dem Verwesungsgeruch, der augenblicklich von beiden Leichen aufstieg, als wären sie bereits lange tot, krampfte sich Talias Magen vor Übelkeit zusammen.
Schließlich drehte sich der Tod zu ihr um. Sein schwarz verhüllter Körper wogte in einem Meer stürmischer Schatten. Die Sense lugte an der Seite heraus und fing Licht, wo keines sein durfte. Der Tod griff nach ihr. Seine dunkle Hand streichelte ihre Wange.
Talias Schrei erstarb in ihrem Hals. Erstickte. Löste sich in einem Wimmern auf.
Und der schwarz verhüllte Albtraum ebenfalls.
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Talia schlang die Arme um ihren Körper, ihre Angst tauchte den Raum in Dunkelheit, aber sie konnte nicht aufhören zu zittern. Eine tektonische Verschiebung in ihrem tiefsten Inneren löste erdbebenähnliche Stöße aus. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab, während das irre Heavy-Metal-Gekreische aus der Nachbarwohnung das weiße Rauschen zum Ausdruck brachte, das in ihr herrschte.
Die Wohnungstür knarrte. Endlich Hilfe? Viel zu spät?
Die Silhouette eines Mannes schob die Tür auf und stieß auf Widerstand. Eine der Leichen lag im Weg. Er drückte fester gegen die Tür, und als diese sich nicht bewegen ließ, stieg er einfach über das Hindernis hinweg. »Robin? Grady?«
Nun, wohl doch keine Hilfe.
Talia atmete weder ein noch aus. Offenbar war er einer von denen. Von den Monstern mit den Bärenzähnen.
Er tastete an der Wand nach dem Lichtschalter. Es war zwar eine Lampe eingeschaltet, aber Talia hielt mit aller Macht die Dunkelheit darüber. Sie biss sich auf die Lippen.
Egal, was passierte, sie würde nicht schreien. Nie wieder. Sie würde nicht zulassen, dass … der andere Teufel in die Welt herüberkam.
Der Mann, groß, mit dunkler Haut und schwarzen langen Haaren, drang weiter in den Raum vor.
»Robin?« Er ließ die Tür offen stehen.
Talia entdeckte ihre Tasche auf einem Stuhl auf der anderen Seite des Raumes. Unerreichbar. Darin befanden sich Geld, ihr Ausweis und das Flugticket. Nicht, dass sie noch nach Berkeley fahren wollte. Der Traum war zusammen mit Melanie gestorben.
Stattdessen schlich sie leise zur Tür und aus der Wohnung hinaus. Dann floh sie durch den Betonflur, der zur Außentreppe des Hauses führte.
»Hurensohn!« Explosionsartig drang der Schrei hinter ihr aus der Wohnung.
Sie hatte die Dunkelheit mit sich genommen. Der Mann hatte gerade … alles entdeckt.
Immer zwei oder drei Stufen auf einmal nehmend hastete sie die Treppe zum Parkplatz hinunter, von ihrer Haut stieg eine schwarze Rauchwolke auf.
Vor dem Gebäude wartete mit laufendem Motor ein Mann am Steuer eines dunklen Geländewagens. Sie wandte sich von ihm ab und versteckte sich hinter einer niedrigen Mauer, die den Parkplatz des Gebäudes umgab.
Die Stufen tönten metallisch, als jemand mit schnellen Schritten die Treppe hinunterlief.
Das musste er sein. Sie versuchte, ihr rasendes Herz zu beruhigen, indem sie die Luft anhielt.
In der Nähe surrte ein elektrischer Fensterheber.
»Hast du das Mädchen gesehen?«, fragte ein Mann, nur sechs Fuß von ihr entfernt.
»Nein. Niemanden«, erwiderte ein anderer Mann, gedehnt und matt.
»Da oben hat ein verdammtes Gemetzel stattgefunden. Grady und Robin sind tot.« Seine Stimme war rau vor Wut und Fassungslosigkeit.
Talia hockte in ihrem Betonversteck. Ihr Kopf pochte im Takt mit dem Blut in ihren Adern, und die Erinnerung an das Jaulen der Musik saß ihr noch in den Gliedern.
»Das ist nicht möglich.«
»Sie sind tot«, beharrte der Mann.
»Aber Er hat versprochen …«
»Ich weiß, was Er versprochen hat, und ich weiß, was ich gesehen habe.« Seine Worte überschlugen sich. »Sie sind tot, und das Mädchen ist weg. Ich schwöre, dass sie noch da war, als ich gekommen bin, aber ich konnte überhaupt nichts sehen. Sie muss sich hier irgendwo verstecken.«
»Wenn Grady und Robin tot sind, will ich nichts mit ihr zu tun haben. Ich will leben.«
»Du Schwachkopf. Was mit denen da oben geschehen ist, ist nichts im Vergleich zu dem, was Er mit uns anstellt, wenn wir mit leeren Händen zurückkommen. Steig aus dem verdammten Wagen und hilf mir suchen. Sie ist nur ein Mädchen, und wir werden nicht ohne sie zurückfahren.«
In ihrem Rücken hörte Talia das Treiben vom Campus, Studenten arbeiteten an ihrer glorreichen Zukunft und knüpften Kontakte fürs Leben. Einsam und mit leerem Herzen ließ sie die Hand einen Augenblick auf der Mauer ruhen, dann floh sie allein in den Wald.
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Der Schattenmann kämpft mit den Schleiern der Dunkelheit, die ihn gegen seinen Willen zurück in die Zwielichtlande zwingen wollen. Die geisterhaften Tentakel aus Schatten halten ihn grob fest, bringen ihn zum Schweigen und rauben ihm jegliche Kraft, die er bräuchte, um noch einmal die Grenze zu überschreiten. Sie reicht noch nicht einmal mehr für ein warnendes Wort.
Er brüllt in den Sturm, aber in den Zwielichtlanden ist man taub für seine Klagen.
Seine Tochter.
Die Unsterblichen haben sie gefunden.
Das ist die Strafe für das Vergehen mit ihrer Mutter: Er muss die Jagd, vielleicht sogar die Vernichtung seiner Tochter mit ansehen, damit er lernt, nie wieder gegen die Gesetze der Zwielichtlande zu verstoßen. So rächen sich die Sünden des Vaters an seinem Kind.
In seinen Gedanken kann er sie sehen. Sie umhüllt sich zum Schutz mit Schatten, ein Beweis, dass sie aus dem Reich des Todes stammt. Sie flieht jegliche Berührung mit der anderen Welt, aber sie kann sich nicht in Sicherheit bringen. Das lässt die Sterblichkeit ihrer Mutter nicht zu. Sie ist zu diesem Zwischendasein verdammt.
Lauf, Kind, lauf. Und wenn die Unsterblichen dich erneut finden, schrei, und ich komme.
Ich werde es spüren.