8
REDRÖM. Mörder. Das atemberaubende Grauen aus Zimmer 217.
Das Telefon klingelte und riss Talia aus Shining zurück in die reale Welt. Die schrecklich beschämende Welt, in der Adam jetzt die neun Abbildungen kannte, die sie im Internet von sich gefunden hatte. Auf allen war sie als verführerische Schönheit dargestellt, was nicht annähernd der Realität entsprach. Lachhaft. Sogar erbärmlich. Vor allem die Zeichentrickgeschichte, in der sie als eine Art Dämonen tötende Domina mit Strapsen ganz in Leder auftauchte.
Am liebsten wäre sie unter einen Felsen gekrochen und gestorben.
Wieder läutete das Telefon. Was, wenn er es war?
Das glänzende graue, schnurlose Telefon ärgerte sie und klingelte ein drittes Mal.
Sie griff den Hörer und nahm das Gespräch an. »Hallo?«
»Talia. Hier ist Adam.«
Verdammt.
»Könnten Sie vielleicht hinunter in die Küche kommen? Ich möchte Ihnen jemanden vorstellen.« Er klang neutral. Zu neutral.
Was muss er von mir denken? Sie konnte immer noch weglaufen. Alles vergessen. Er hatte ihre gesamten Aufzeichnungen. Er konnte ohne sie weitermachen.
»Klar«, erwiderte sie. »Nur eine Minute.« Eine Minute, um mich vom Balkon hinunter in den Tod zu stürzen.
»Danke.«
Talia legte auf. Ihr Gesicht brannte. Wenn er sie eigenartig fand, war das eine Sache. Wenn man Segue und das Team hier betrachtete, umgab er sich sowieso mit seltsamen Menschen. Aber wenn er sie für eine Witzfigur hielt, war das etwas ganz anderes. Es war furchtbar.
Talia ging ins Bad und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht. Sie tupfte es mit einem Handtuch trocken und steckte ihre Haare auf dem Hinterkopf zu einem Knoten zusammen.
Sie schleppte sich zur Wohnungstür, zwang sich, das Kinn zu heben – deutlich zu heben – und trat in den Flur hinaus.
Der Aufzug surrte hinunter in den Hauptbereich des Hotels. Die Salons lagen im Abendlicht. Die Dunkelheit hing in den Ecken, während die Nacht langsam den Tag vertrieb. Die Schatten strichen sanft über ihre Haut und lockten sie, in ihre Tiefe zu kommen. Oh, wie verführerisch sie waren.
Sie ignorierte sie und eilte grimmig voran zu dem vergleichsweise hellen Licht am anderen Ende des Gebäudes. Als sie über die Schwelle trat, klopfte ihr Herz. Pattys Oberkörper war von der Tür eines Industriekühlschranks verdeckt. Ein älterer Mann, den sie noch nicht kannte, tauchte am Tresen einen Teebeutel in einen Becher. Als sie eintrat, stieß Adam sich von der Kante ab, an der er mit einer Bierflasche in der Hand gelehnt hatte.
Sie blickte in sein Gesicht, sah ihm ganz kurz direkt in die Augen und senkte den Blick, als ihr die Hitze in die Wangen schoss. Sie musste etwas unternehmen, und zwar schnell, ansonsten würde sie sich blamieren. Schon wieder.
»Talia. Danke, dass Sie heruntergekommen sind. Ich möchte Ihnen Dr. Philip James vorstellen, unseren Philosophen, der zeitweilig hier wohnt. Er stellt die großen Fragen. Ich wette, dass ihr zwei euch eine Menge zu erzählen habt. Philip, das ist Dr. Talia O’Brien.«
Der alte Mann stellte seinen Becher ab und streckte ihr seine Hand entgegen. »Bitte nennen Sie mich Philip«, sagte er.
»Talia«, erwiderte sie und stellte sich darauf ein, gleich ihre Hand in seine zu legen. Die Berührung war überwiegend von einem Gefühl der Erschöpfung bestimmt – der alte Mann war hundemüde – und von wachem Intellekt. Er drückte ihre Hand mehr, als dass er sie schüttelte, ein warmer, freundlicher Druck, der sie beruhigte, obwohl ihr Adams Anwesenheit zu ihrer Rechten schmerzhaft bewusst war.
»Möchten Sie etwas Tee?«, fragte der ältere Mann und hob den dampfenden Becher. Eine offene Schachtel mit verschiedenen Teebeuteln stand auf dem Tresen.
»Das wäre wunderbar. Danke.« Wenn es sein musste, konnte sie sich hinter dem Becher verstecken. Sie konnte sich daran festhalten. Sie nahm einen sauberen Becher aus dem Regal und wählte einen Beutel Pfefferminztee. Er duftete ganz rein. Sie atmete den Geruch tief ein.
Sie blickte zu Adam. Natürlich musterte er sie. Sie hielt die Luft an. Seine Augen wirkten müde, besaßen aber noch immer die Kraft, durch sie hindurchzusehen. Ihre Nerven vibrierten, denn Lust durchströmte ihren Körper. Sie fragte sich, welches Gefühl wohl vorherrschend wäre, wenn sie ihn jetzt berührte. Allein der Gedanke ließ ihre Kehle austrocknen.
Langsam wandte er seine Aufmerksamkeit seinem Bier zu.
Auch sie trank einen Schluck von ihrem Tee, aber von der Flüssigkeit wurde ihr nur noch heißer.
»Sind Sie hungrig?«, rief Patty vom Kühlschrank aus. Sie hielt in Papier eingeschlagenen Aufschnitt hoch. »Wir haben Truthahn, Salami und Schinken.«
Talia hatte sich die letzten Stunden in ihrer Wohnung versteckt gehalten. Sie war sterbenshungrig. »Truthahn«, sagte Talia. »Aber ich kann mir selbst …«
»Adam? Philip?«, fiel Patty ihr ins Wort.
»Schinken«, erwiderten sie unisono.
Der alte Mann ließ sich neben Talia an dem Tresen nieder. Adam nahm ihr gegenüber Platz. Patty bereitete an dem Tresen turmhohe Brote und benötigte lange Zahnstocher, damit die einzelnen Schichten nicht auseinanderfielen.
»Ich habe Ihre Dissertation gelesen«, erklärte Philip. »Ihre Arbeit hat mich sehr beeindruckt. Ich frage mich, ob Sie die Nahtoderfahrungen kulturübergreifend untersucht haben.«
»Ach. Nein. Ich fürchte, das hätte den Rahmen der Arbeit gesprengt.« Talia trank einen weiteren Schluck Tee.
»Natürlich. Wenn Sie Zeit haben, würde ich gern mit Ihnen Ihre Ergebnisse diskutieren. Mich interessiert, ob irgendwelche der rituellen Praktiken, die ich untersucht habe, mit den Normen identisch sind, die Sie in Ihrer Arbeit aufgestellt haben.«
»Sicher …«, sagte Talia. Sie musste in den Kartons wühlen und ihre Notizen noch einmal durchsehen. Etwas sagte ihr, dass der Professor nur Antworten akzeptierte, die durch zuverlässige Daten belegt waren.
»Schön, dass Sie wieder da sind, Philip«, schaltete Adam sich ein, als Patty einen Teller vor jedem von ihnen abstellte. »Es ist einfach nicht dasselbe, wenn Sie nicht hier sind und unsere gesamte Arbeit hinterfragen.«
»Ich bin in meinem Labor«, verkündete Patty, griff sich ihren Teller und stapfte zur Tür. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht«, erwiderte Talia. Philip hob eine Hand zum Abschied.
Als Philips Blick kurz zu ihr zuckte und er dann fragend Adam ansah, tat Talia, als hätte sie es nicht bemerkt.
»Sie ist okay«, erwiderte Adam und sah sie aus seinen grauen Augen an. »Sie hat es innerhalb von acht Stunden ganz allein geschafft, unsere gesamte Arbeit auf den Kopf zu stellen.«
»Ach?« Philip hob erstaunt eine buschige Braue.
»Ich erzähle es Ihnen morgen, wenn ich alles noch einmal genau durchdacht habe. Momentan komme ich nicht ganz mit.« Adam lächelte bedauernd.
Philip stellte seinen Becher auf dem Tresen ab. »Nun, das sollten Sie aber versuchen, denn ich habe ebenfalls etwas herausgefunden.«
»Das war ja klar.« Adam hatte sein Brot in die Hand genommen, legte es nun jedoch zurück auf den Teller. »Schießen Sie los. Ich werde so oder so heute Nacht nicht schlafen, dann kann ich auch gleich alles auf einmal hören.«
Talia hoffte, dass das, was Philip herausgefunden hatte, nichts mit ihr zu tun hatte. »Es ist schon spät.« Besser, sie fand jetzt den Absprung. Sie glitt von ihrem Stuhl.
»Bitte bleiben Sie«, sagte Adam. »Ich habe das Gefühl, dass ich gern Ihre Meinung hören würde.«
Talia spürte seinen Blick, wich ihm jedoch aus. Stattdessen sah sie überallhin, zu Philip, auf ihr nicht aufgegessenes Brot, den Dampf, der von ihrem Becher aufstieg, nur eben nicht zu Adam.
»Vielleicht sollte sie lieber gehen. Meine Information ist vertraulich«, gab Philip zu bedenken.
»Ich vertraue ihr«, erwiderte Adam leichthin und zugleich mit so viel Nachdruck, dass seine Worte keine Widerrede duldeten.
Talias Herz zog sich zusammen. Ganz offensichtlich versuchte er, etwas auszugleichen – ein persönliches Geständnis gegen ein persönliches Geständnis. Eine Hand wäscht die andere. Nachdem er bereits so viel von ihr erfahren hatte, war das eine Möglichkeit, wie sie dennoch zusammenarbeiten konnten. Sie wusste die Geste zu schätzen, wollte aber wirklich gern in ihre Wohnung zurück.
»Ach so ist das. Schön für euch«, sagte Philip. »Na gut.«
Talias Kopf fuhr zu ihm herum. Wie ist was? Sie blickte hinüber zu Adam und wartete darauf, dass er Philips Fehleinschätzung korrigierte, was er jedoch nicht tat.
Auch Philip ignorierte ihre Reaktion und fuhr fort. »Ich war in England und habe mit einem modernen Druidenführer über Totenrituale gesprochen. Er ist ebenfalls Wissenschaftler, und unsere Diskussion war sehr theoretisch. Wir haben über die alte angelsächsische Sitte vom Wergeld gesprochen, bei der eine Person eine bestimmte Summe für den unrechtmäßigen Tod einer Familie oder eines Klanmitgliedes zahlen muss, damit es nicht zu einer Blutfehde kommt.«
»Sie glauben, ich würde Geld für den Tod meiner Eltern akzeptieren? Für Jacob?« Adam schob seinen Teller von sich, ohne einen Bissen gegessen zu haben.
»Nein, Adam«, antwortete Philip und zerknüllte eine Serviette in der Hand. »Hören Sie zu. Und denken Sie nach. Wir haben über das Wergeld als mögliche Entschädigung für einen Verlust gesprochen. Den Versuch, die Harmonie zwischen zwei Parteien wiederherzustellen. Und dann haben wir es mit der Rache verglichen, bei der ein Leben für ein Leben gegeben wird.«
»Damit kann ich etwas anfangen.«
Talia blickte zu Adam und erinnerte sich an den Blutrausch, den sie bei ihm gespürt hatte. Das düstere Verlangen, Jacob umzubringen, das weit über die Bestrafung eines Mörders hinausging.
Philip ignorierte die Bemerkung. »In beiden Fällen verbirgt sich dahinter die Vorstellung, dass es in Familien eine Art Bilanz, ein Konto gibt. Als wenn man durch einen Geldbetrag oder durch ein Leben die Lücke füllen könnte, die die geliebte Person hinterlassen hat.«
»Die Lücke wird dadurch nicht gefüllt, aber es herrscht Gerechtigkeit«, behauptete Adam.
»Nein. Das stimmt nicht. Am Ende hat man einen doppelten Verlust.«
»Einen gerechten Verlust.« Adam nahm einen großen Schluck von seinem Bier.
»Und was bringt dieser Verlust für das Andenken der geliebten Person?«
»Nichts«, gab Adam zu und rutschte auf seinem Stuhl hin und her.
Talia mied sorgsam seinen Blick und versuchte, Rücksicht auf sein offensichtliches Unbehagen zu nehmen.
»Rache ist selbstsüchtig«, fuhr Adam fort. »Daraus habe ich nie ein Hehl gemacht.«
»Aha«, erwiderte Philip. »Jetzt stoßen wir zum Kern vor, Adam. Hier meine Frage: Würden Sie auf die Rache verzichten, wenn Sie dadurch Ihren Bruder erlösen könnten?«
Talia beobachtete, wie Adams Kiefermuskel zuckte. Das war eine schwierige Frage, eine schmerzliche Frage, die er unmöglich beantworten konnte, insbesondere, nachdem er erfahren hatte, dass Jacob freiwillig zum Monster geworden war. Er hatte Adams Welt auf ein spukendes Hotel mit einer Gruppe verrückter Wissenschaftler reduziert. Vielleicht sollte sie etwas sagen. Das Thema wechseln.
Na, heute schon Aktbilder von mir gesehen?
»Fahren Sie fort«, forderte Adam mit dünner, angespannter Stimme.
Philip legte den Kopf auf eine Seite. »Während wir sprachen, machte dieser Anführer einen Fehler. Er sagte nicht ›ein Leben für ein Leben‹. Er sagte ›ein Leben für einen Tod‹.«
Adam runzelte die Stirn. »Wieso sagen Sie nicht, worauf Sie hinauswollen? Sagen Sie doch einfach, wenn Sie etwas herausgefunden haben. Hören Sie mit diesen Spielchen auf.«
»Ich spiele keine Spielchen. Das sind alles andere als Spielchen. Ich habe genau gemeint, was ich gesagt habe. Ein Leben für einen Tod. Würden Sie Ihr Leben aufgeben, um Jacob beizubringen, wie man stirbt?«
»Ist das eine reale Möglichkeit, oder philosophieren Sie über einen Haufen Mist?«
»Ich weiß es nicht. Ich hoffe, dass es möglich ist. Ich habe ein Druidenritual entdeckt, das dem Tod gewidmet ist. Ein Blutritual für das Jenseits, das dazu dient, eine Plage zu beenden. Man braucht dazu ein freiwilliges menschliches Opfer. Was, wenn das Ritual wörtlich gemeint ist? Was, wenn man ein Leben braucht, um einen fortwährenden Tod zu beenden? Das leuchtet mir ein. Es ist eine Lösung, die sich durch eine gewisse Symmetrie auszeichnet. Wenn man für einen Tod mit einem Leben bezahlt, ist das Konto wieder ausgeglichen.«
»Ich sterbe, und Jacob stirbt?«
»Das ist zwar stark vereinfacht ausgedrückt, aber ja.«
Adam setzte sich auf seinem Stuhl zurück. »Aber es gibt noch mehr Geister dort draußen. Tausende. Was ist mit denen?«
Die Hand des alten Mannes zitterte, als er seinen Becher hob. »Ich schätze, das erfordert …«
»Die Leute werden nicht gerade Schlange stehen, um ihr Leben für einen Geist zu opfern. Zum Teufel, ich will nicht für einen Geist sterben, noch nicht einmal für meinen Bruder.«
»Natürlich nicht.«
Adam stand abrupt auf; sein Stuhl wankte. »Und jeden Tag entstehen neue Geister. Irgendjemand oder irgendetwas dort draußen verändert die Leute, und ich muss herausfinden, was es ist. Ich kann nicht zulassen, dass das so weitergeht.«
»Sie haben mich gebeten, einen Weg zu finden, wie man Jacob umbringen kann. Ich glaube, dass ich ihn gefunden habe. Etwas Ähnliches muss früher schon einmal geschehen sein, und damals wurde ein Weg gefunden, das Ganze zu beenden. Es ist schrecklich, ja. Aber die Alternative ist genauso schrecklich.«
Wenn Adam ihm überhaupt zugehört hatte, ging er jedenfalls nicht darauf ein.
»Ich muss zuerst die Quelle beseitigen, egal ob aus Rache oder nicht. Dann kümmere ich mich um meinen Bruder.« Adam schritt an dem Tresen auf und ab. Seine Anspannung schwappte in derart großen Wellen über Talia hinweg, dass sie ebenfalls aufstand und sich nach den Schatten sehnte.
Philip hob beschwichtigend die Hand. »Es muss ja nicht jetzt sein. Leben Sie Ihr Leben. Wenn Sie bereit sind zu gehen, beenden Sie beide Leben gleichzeitig.«
»Was, wenn mir in der Zwischenzeit etwas zustößt? Ein Autounfall? Eine Krankheit?«
Philip zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«
»Das wissen Sie nicht. Nun, ich weiß es auch nicht. Sechs Jahre, und ich weiß nichts. Was muss ich noch alles für dieses Monster opfern?«
»Adam …«
»Verdammt. Jacob hat vor einer Weile versucht, mich umzubringen, und es sieht so aus, als würde er seinen Willen bekommen.« Steifbeinig verließ Adam die Küche und verschwand in der Dunkelheit der angrenzenden Räumlichkeiten.
Talia blickte zu Philip, der wieder sein belegtes Brot in die Hand genommen hatte.
Er sah zu ihr hinüber. »Wollen Sie ihm denn nicht hinterhergehen?«
Talia schreckte auf. Wieso ich? Er war schließlich derjenige, der die Bombe hatte platzen lassen. Musste er sich nicht darum kümmern, wie es Adam ging?
»Ein hübsches Mädchen wie Sie sollte wissen, was sie zu tun hat. Gehen Sie.« Philip biss von seinem Brot ab.
Er war ein grässlicher alter Mann, anzüglich …
Talia blickte in die dunklen Räume neben der Küche. Sie konnte Adam deutlich erkennen. Er schritt auf die Terrassentür zu. Seine breiten Schultern wirkten angespannt, seine Schritte lang und schnell. Wenn sie an seiner Stelle wäre, hätte sie ebenfalls hier herausgewollt.
»Gehen Sie schon«, drängte Philip. »Ich räume hier auf.«
Talia blickte zu ihm hinüber. »Sie hätten ihm nicht …«
»Die Wahrheit sagen dürfen? Seien Sie nicht albern. Er ist auf die Wahrheit angewiesen. Los, gehen Sie.«
Talia wollte nicht eine Sekunde länger mit diesem alten Mann verbringen. Sie machte sich auf den Weg in die dunkle Leere. Sie würde in ihre Wohnung zurückgehen und über alles nachdenken. Es wurde zu kompliziert. Geriet außer Kontrolle. Besser, sie zog sich ein bisschen zurück.
Sie betätigte den Fahrstuhlknopf und wartete in der marmornen Halle, doch auf einmal fühlte sie sich zu der Terrassentür hingezogen. Denn davor stand ein Mann und kämpfte mit einem unbekannten, aber ganz sicher schrecklichen Schicksal. Wenn irgendjemand ihn verstehen konnte, dann sie.
Zumindest rechtfertigte sie so vor sich selbst, dass sie den Code eingab und auf die Terrasse hinaustrat.
Die Nacht quoll über von Gerüchen. Gras und Pinien dufteten am stärksten, aber jeder Atemzug roch auch leicht nach Unterholz. Über ihren Köpfen glitzerten die Sterne um die Wette. Segues schwache Beleuchtung bedeutete keine Konkurrenz für sie. Dieser Gegensatz enthielt eine weitere Wahrheit, die in gewisser Weise etwas Tröstliches hatte: Egal, was brutale Geister oder Menschen auf der Erde anrichteten, diese Sterne würden immer weiterleuchten. Unter der unerbittlichen Herrschaft des Universums würde irgendwann alles Gute genauso wie alles Schlechte auf der Erde verglühen.
»Für jemanden mit einem derart stark entwickelten Selbstschutz ist es ziemlich verrückt, mir hierher zu folgen. Gehen Sie ins Bett, Talia.« Adam wandte ihr sein Gesicht zu, ohne seine Miene zu verstellen. Wahrscheinlich dachte er, dass sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte, wie sehr er litt, aber Talia konnte ihn sehr gut erkennen. Zu gut. Der Mann war verwirrt und erschöpft von der Last, die er zu tragen hatte. Seine ohnehin bereits geschundene Seele hatte heute einen weiteren Schlag verkraften müssen.
»Sie würden mir nichts tun«, sagte sie und trat neben ihn. Sie klang sicherer als sie sich fühlte.
»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob das stimmt«, seufzte er. »Jetzt gerade fühle ich mich genau wie dieses Monster, das unter uns eingesperrt ist.«
»Das Risiko gehe ich ein.« Sie ließ den Blick über die Felder zu den Bergen gleiten und versuchte, ihr heftig pochendes Herz zu beruhigen. Aber in seiner Nähe schlug es doppelt so schnell. »Außerdem kann ich im Dunkeln besser sehen als Sie«, redete sie munter weiter. »Die Welt vibriert geradezu vor meinen Augen, die Farben, die Empfindungen, ich nehme jedes Detail wahr. Es ist mir fast zu intensiv, ich kann das alles nicht verarbeiten, aber hier draußen bin ich Ihnen gegenüber ziemlich sicher im Vorteil.«
Er hob halbherzig einen Mundwinkel, aber sein Blick, den er in der Dunkelheit auf sie gerichtet hatte, behielt seinen düsteren, schweren Ausdruck. »Sie sehen sehr viel, und doch sehen Sie nicht, was ich sehe. Nur ein Künstler war in der Lage, Sie zu erfassen.«
Erleichterung durchströmte sie, während sich in ihrer Mitte ein wundervolles Ziehen bildete. Er fand sie nicht lächerlich. Nach allem, was sie von sich preisgegeben hatte, begehrte er sie noch immer. Dieser Umstand führte dazu, dass sie blieb, wo sie war, und sich damit einer gewissen Gefahr aussetzte.
Außerdem brauchte sie etwas, irgendetwas, um sich von ihrer heutigen Entdeckung abzulenken. Der Tod war ihr Vater. Wenn diese bittere Wahrheit herauskam, würde sie niemand mehr um sich haben wollen.
Sie nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass er sich bewegte. Das hatte sie erwartet. Ein leichter Lufthauch streifte ihren Körper, kurz bevor er seine Arme um ihre Taille legte und eine Hand hinauf zwischen ihre Schultern gleiten ließ.
Er hatte sie gewarnt. Sie hatte jede Gelegenheit gehabt, wieder hineinzugehen.
Stattdessen hob sie den Kopf und berührte ihn.
Er presste seine Lippen leidenschaftlich auf ihren Mund. Fordernder, als sie erwartet hatte. Pure Lust durchströmte ihren Körper und vertrieb jede Vernunft. Sie fühlte nur noch Verlangen, seines wie ihres. Sie konnte nicht mehr denken. Ihr Kopf pochte unter einem seltsam festen Druck.
Der Kuss brannte, er teilte ihre Lippen mit seiner Zunge und wollte sie schmecken. Er roch gut: männlich, intensiv und rätselhaft. Die Mischung war kraftvoll, und seine Berührung bewirkte eine Veränderung in ihr. Sie wusste, dass sie ihn wie eine Droge, von der sie einmal gekostet hatte, ihr Leben lang begehren würde.
Er änderte seine Haltung und zog sie noch dichter an sich. Sie legte ihre Arme um seinen Hals und seine Schultern, damit sie nicht umfiel. Er war groß und schien nur aus Kraft und Muskeln zu bestehen, die sich wundervoll anfühlten, wenn er sie umarmte.
Sie griff sein Hemd und bog sich ihm entgegen, um ihre Brust fester an seinen Körper zu schmiegen. Sie spürte seinen Herzschlag neben ihrem, die Bewegung seiner Muskeln und wollte mehr.
Er stöhnte leise an ihren Lippen, und als sie sich aus dem Kuss löste, um Luft zu holen, senkte er seine heißen Lippen zu ihrem Hals hinunter.
»Oh Gott«, flüsterte sie. Das hier übertraf alles, das sie sich je in schlaflosen Nächten ausgemalt hatte, wenn sie von einem Mann wie Adam geträumt hatte.
»Es gibt keinen Gott«, erwiderte er mit brüchiger Stimme. Er zog mit den Zähnen an dem Kragen ihrer Bluse, um an ihren Hals zu gelangen. Seine Lippen brannten auf ihrer Haut, ihre Nerven vibrierten, und ihr Körper sehnte sich nach mehr.
Er zog ihre Bluse hoch und ließ seine Hand über ihren nackten Rücken zu dem Verschluss ihres BHs gleiten. Seine andere Hand lag glühend heiß auf ihrer Hüfte, dann griff er von hinten zwischen ihre Beine und zog sie noch näher an sich.
Talia schloss fest die Augen vor den pochenden Schatten, die über dem Tal lagen, vor der sich sammelnden Dunkelheit, die nach ihr rief. Sie griff aus ihrem tiefsten Inneren nach Adam.
Daraufhin überflutete eine große Lustwelle ihre Sinne. Es war ein Begehren, das nach langer Zeit der Enthaltsamkeit aus tiefster Seele kam.
Aber … er meinte nicht sie. Nicht wirklich.
Sie spürte, dass sein Handeln von Selbstmitleid bestimmt war. Einsamkeit, Schmerz und Hass mischten sich mit dem unbedingten Willen, sie an sich zu binden, um die Myriaden von Schmerzen in seinem Geist zu betäuben. Es ging hier überhaupt nicht um sie, nur um Adam und seine persönlichen Dämonen.
Die Erkenntnis nagte an ihr, sie hasste ihre Gabe und bedauerte, dass sie dem Impuls gefolgt war und sich ihm hingegeben hatte.
Sie wand sich in seinen Armen und stieß ihn mit den Händen fort. Sie sehnte sich nach dem Schutz der Dunkelheit und hob ein Knie, um sich aus seinem Griff zu befreien.
Er stöhnte, zog sie aber nur näher an sich und wehrte sich gegen den Angriff der Schatten.
Sie wand sich stärker und riss seinen Kopf an den Haaren nach hinten. »Du tust mir weh«, sagte sie.
Adam hielt inne, seine Brust hob und senkte sich heftig. Ein, zwei Atemzüge vergingen … sie merkte, wie er sich sammelte. Sie spürte, wie er die Kontrolle über seine schändlichen Handlungen wiedererlangte und sich langsam in den Griff bekam, sein Verlangen verwandelte sich einen festen Knoten beängstigender zerstörerischer Kraft. Ganz plötzlich ließ er von ihr ab, griff jedoch ihren Arm, damit sie nicht auf den steinernen Terrassenboden fiel.
Talia riss sich los, taumelte rücklings und fiel prompt hin.
Er streckte eine Hand aus, um ihr aufzuhelfen.
»Geh weg«, sagte sie. Ihr Blick zuckte hoch zu seinem Gesicht. Sie wünschte, sie hätte nicht zu ihm aufgesehen. Hatte der Mann bereits vorher eine Last zu tragen gehabt, litt er jetzt erst recht und wirkte beschämt.
Talia rappelte sich auf und sah undeutlich, wie er die Zähne zusammenbiss und die Augen zusammenzog, um in der Dunkelheit besser sehen zu können. Sie zu sehen.
Sie lief zur Tür, gab hastig den Code ein und riss sie auf, um schnell hineinzukommen, bloß fort von ihm.
Sie verfluchte ihn dafür, dass er sie berührt hatte. Sie verfluchte Philip, weil er dieses Ritual entdeckt hatte. Und vor allem Jacob für seine schreckliche Entscheidung.
»Es tut mir leid«, sagte Adam.
Und sie verfluchte ihre durch die Schatten geschärften Sinne, weil diese sie in die Lage versetzten, sein Flüstern durch die Dunkelheit hindurch zu hören.