6

Talia entschied sich für die Wohnung im Westflügel, Spuk mit Aussicht. Sie hatte es zwei Monate lang geschafft, den Geistern zu entkommen. Da würde sie damit auch zurechtkommen.

Sie schloss sich in ihrer neuen Behausung ein, denn das Gefühl, dass etwas Übernatürliches geschehen würde, überlief ihren Körper wie das Krabbeln von Spinnen auf ihrer Haut. Sie litt Höllenqualen, wartete mit angehaltenem Atem und zuckte bei jedem Geräusch zusammen (die verdammte Lüftung ratterte jedes Mal, wenn die Klimaanlage ansprang), bis die Erschöpfung Talia schließlich übermannte.

Als sie am Morgen erwachte, brannte die Nachttischlampe über ihrem Kopf. Auf Talias Stirn hatte sich ein Schweißfilm gebildet, ebenso im Nacken unter ihren dichten Haaren, die sie unbedingt mit einem Gummiband zusammenbinden musste. Sie schälte sich aus den zerwühlten Laken und tappte blind aus dem Raum.

Während sie schlaftrunken durch das Zimmer wankte, dröhnte ein Ha! in ihr Bewusstsein. Geister, na sicher. Der Mann hatte eindeutig zu viel Zeit mit seinem Bruder verbracht. Bei dem Treffen, bei dem sie heute Nachmittag den anderen Teammitgliedern vorgestellt werden sollte, würde sie ihm das sagen. Der Gedanke trieb ein zufriedenes Kribbeln durch ihren Körper.

Das Wohnzimmer wirkte im Licht des anbrechenden Tages schon viel freundlicher. Ein dunkelrotes rechteckiges Sofa stand gegenüber von einem breiten Flachbildfernseher, der an der Wand über dem Kamin angebracht war. Zwei Holzscheite lagen in einem geflochtenen Korb auf dem Boden, als wenn ihr nicht so schon heiß genug gewesen wäre. Auf beiden Seiten standen hohe Bücherregale, so gut wie leer. Allerdings hatte jemand, der offenbar schwarzen Humor besaß, das Buch Shining dort gelassen, damit es ihr in der ersten Nacht in dem spukenden Hotel Gesellschaft leistete. Sehr witzig.

An der Eingangstür ertönte ein Summer.

Talia lief zur Tür, wobei sie mit der Hand ihre Haare ordnete und das T-Shirt über die Trainingshose zog, in der sie geschlafen hatte. Sie wünschte, sie wäre als Allererstes ins Badezimmer gegangen. Nun war es zu spät.

Sie spähte durch den Spion in der Tür. Das Gesicht einer Frau tauchte in ihrem Blickfeld auf.

Talia öffnete die Tür und verschränkte die Arme, um zu kaschieren, dass sie keinen BH trug.

»Guten Morgen«, sagte die Frau. »Ich bin Gillian Powell. Ich gehöre zu den Ärztinnen im Team.« Sie streckte ihr einen Stapel Kleidung in Blau- und Lilatönen mit einem Schuss aufsehenerregenden Pinks entgegen, der von einem Paar Sportschuhen gekrönt wurde.

Ein Gefühl von Angst sammelte sich in Talias leerem Magen. Die sind hoffentlich nicht für mich.

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, erwiderte sie. »Ich bin Talia O’Brien.«

»Ich weiß. Ich bin so froh, dass Sie hier sind«, erklärte Gillian. »Segue ist ein solcher Männerverein. Wir haben Vera im Labor und Priya in der Forschung und natürlich Mama Pat, aber das sind auch schon alle.«

Gillian war vermutlich Mitte vierzig und kämpfte offenbar mit jedem Jahr. Kompakte Figur mit großer Oberweite. Ihr Gesicht war sehr sorgfältig und perfekt geschminkt, wobei sie so viel Make-up aufgetragen hatte, dass man ihre natürliche Hautfarbe darunter nicht mehr erkennen konnte.

Gillian ging an Talia vorbei, um die Kleidung auf dem Sofa abzuladen. »Adam hat mich gebeten, Sie heute Morgen für das Geistertraining auszustatten.« Sie machte ein sauertöpfisches Gesicht. »Schön für Sie.«

Ja. Ganz toll. Talia hatte gehofft, dass sie den Morgen für sich hätte, bevor am Nachmittag die große Vorstellungsrunde auf sie zukam. Aber so viel Glück war ihr ganz offensichtlich nicht beschieden.

»Ich glaube, ich habe alles, was Sie brauchen.« Gillian blickte auf Talias vergleichsweise kleine Brüste. »Die Größe sollte passen zumindest so einigermaßen.«

Talia räusperte sich. »Was genau bedeutet denn Geistertraining?«

»Das sind die Grundregeln der Verteidigung. Wir müssen alle einmal im Monat trainieren, aber wir geben ein ziemlich jämmerliches Bild ab. Die meisten von uns gehören ins Haus, in einen Kittel.«

Talias Magen knurrte. »Was ist mit dem Frühstück? Ich hatte noch keine Gelegenheit einzukaufen.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Marcie, die Köchin hier in Segue, ist großartig. Sagen Sie ihr einfach, was Sie mögen, und Sie bekommen es. So müssen Sie sich auch nicht um den Abwasch kümmern. Wir gehen auf dem Weg nach unten dort vorbei.«

»Trainieren Sie heute auch?« Talia griff nach der Kleidung. Das schrille Pink passte nicht zu ihr.

»Nein. Sie Glückspilz haben eine Ménage à trois mit Adam und Spencer.«

Na, großartig. Die Angst in ihrem Magen wuchs. »Ich ziehe mich um.«

t

Adam und ein anderer Mann, vermutlich Spencer, boxten gegeneinander, als Gilian sie hinaus zu einer duftenden Rasenfläche neben dem verwilderten Garten führte, in dem es überall summte. Die Luft war schwül, die Sonne fiel durch die Bäume.

Talia blieb abrupt stehen. Adam konnte unmöglich von ihr erwarten, so zu kämpfen.

Die Männer schützten ihre Knöchel mit schmalen schwarzen Polstern. Beide trugen einen engen Helm. Adam, dessen dunkler Haarschopf hinten unter dem Kopfschutz hervorlugte, hatte schwarze Trainingshosen und ein T-Shirt an. Die kurzen Ärmel spannten sich über seinen Armmuskeln, der Stoff saß eng über der gut trainierten Brust und lief konisch auf seine schmale Taille zu. Die Hose verbarg den durchtrainierten Körper unter weichem, locker fallendem Stoff. Talia ließ ihren Blick ebenso überrascht wie beeindruckt einen Moment auf seiner Gestalt verweilen, bis ihr bewusst wurde, was sie tat, und ihr die plötzliche Erkenntnis eine Hitzewelle durch den soeben noch fröstelnden Körper trieb.

Der andere Mann, Spencer, vollführte eine Kehrtwende und trat nach Adams Bauch. Er war ebenfalls schwarz gekleidet, betonte jedoch durch diagonale Silberstreifen den Maschenlauf und die breiten Oberschenkel.

Adam fing das ausgestreckte Bein ab, drehte sich um und warf Spencer auf den Boden. Spencer landete auf dem Rücken, rollte zur Seite und sprang wieder auf die Füße. Nur, um gleich darauf durch einen seitlichen Schlag von Adam wieder nach unten geworfen zu werden.

Wunderbar. Sie mussten beide den schwarzen Gurt in was auch immer sie da taten haben. Gillian feuerte sie an.

»Es reicht«, rief Adam atemlos und bedeutete Spencer, den Kampf einzustellen. Adam löste den Verschluss unter seinem Kinn und zog den Schutzhelm von den verschwitzten Haaren. Sein Gesicht war gerötet, seine Brust hob und senkte sich schwer er war der kräftigste Mann, den Talia je gesehen hatte. Sein Anblick bestätigte ihr, zusammen mit dem, was sie über seinen Charakter wusste, das Offensichtliche: Adam war ein gefährlicher Mann.

Sie wünschte sich, dass ihr jemand einen Eimer mit eiskaltem Wasser über den Kopf schütten würde. Sie konnte nicht so gut wie Gillian eine Show abziehen und sich selbst Luft zufächern. Talia blickte auf die Bäume, den Garten und ihre geliehenen Turnschuhe. Überallhin, nur nicht zu Adam.

Spencer stand auf, nahm ebenfalls seinen Helm ab, unter dem nun ein dunkelblonder Haarschopf zum Vorschein kam. Wenn er lächelte, zog er einen Mundwinkel stärker nach oben als den anderen, was ihm einen frechen Ausdruck verlieh.

Mit gekräuselter Stirn kam Adam näher und musterte Talia von oben bis unten. Seine Nähe wirkte auf vielfältige Weise beunruhigend auf sie. Selbst der Geruch seines Schweißes verwirrte sie, denn sie empfand ihn nicht als unangenehm. Ganz im Gegenteil, sie fragte sich, wie wohl der glänzende Film in seinem Nacken schmeckte

»Haben Sie gut geschlafen?«, fragte Adam. »Irgendwelche Störungen?«

»Nichts«, erwiderte Talia und sammelte sich. »Danke übrigens für den netten Lesestoff, den Sie mir zur Verfügung gestellt haben.«

Adam runzelte die Stirn; dann erschien ein Grinsen auf seinem Gesicht. Ihr Herz machte einen Sprung.

»Der Stephen King«, sagte er lachend. »Dafür können Sie sich bei Jim Remy bedanken. Er hat mir sechzig Exemplare aufgehalst und ein Buch in jedes Zimmer gestellt. Das gehört alles zum Willkommenspaket von Segue. Wie fühlen Sie sich heute?«

Talia zuckte mit den Schultern. »Okay. Mir ist ein bisschen heiß und kalt.«

Sein Blick wurde analytisch. Forschend. Wenn er sie auf diese Art anblickte, sah er ihr zu viel. »Davor hat Pat uns gewarnt. Es wird eine Weile dauern, bis Sie wieder ganz gesund sind. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie sich nicht wohlfühlen.«

»Mir geht es gut.« Sie versuchte, strahlend zu lächeln, so, dass sich jede weitere Frage erübrigte und sie die empfindlichen Nerven in ihrem Bauch schützte.

»Na gut«, gab sich Adam zufrieden. »Ich möchte Sie Spencer Benedict vorstellen, unserem Verbindungsmann zur Initiative zur Bekämpfung des Übernatürlichen, einer Abteilung im amerikanischen Verteidigungsministerium. Er ist hier, um die Kommunikation zwischen Segue und dem IBÜ zu lenken und zu erleichtern.« Er sprach es Ibü aus.

Talia hatte sich nach einem Eimer mit kaltem Wasser gesehnt, da war er.

Die Regierung? Wenn es so viele Geister dort draußen gab wie Adam behauptete, war es sinnvoll, mit der Regierung zu kooperieren. Wenn sie zusammenarbeiteten, bedeutete das, dass sie ein gemeinsames Ziel hatten, nämlich den Ursprung der Geister zu finden und zu verstehen, wie man sie heilen oder zerstören konnte. Vom Kopf her leuchtete ihr das ein, dennoch kroch weiterhin Angst über ihren Körper. Was dachte das Ibü wohl über sie?

Talia trat auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen, wie es jeder normale Mensch tun würde. Es war wichtig, normal zu wirken. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Ihr Blick zuckte fragend zu Adam. Weiß er es?

Adam schüttelte kaum merklich den Kopf.

Spencer nahm ihre Hand und drückte sie. »Ebenso.«

Talia spürte flüchtig Neugierde, gemischt mit abklingender Wut und scharfem Konkurrenzdruck. Offenbar verlor Spencer nicht gern gegen Adam, insbesondere nicht, wenn es weibliche Zeugen gab.

Adams Gefühlsstärke ließ etwas nach. »Na dann. Erste Lektion. Geisterabwehr 101. Spencer, ich glaube, wir sind hier fertig. Danke für das Training; ich hatte es nötig.«

»Brauchst du nicht jemanden, der den Geist spielt?« Spencer zwinkerte Talia zu. Es war ein guter Vorwand, aber Talia wusste es besser. Spencer suchte eine weitere Gelegenheit, um anzugeben.

»Wir machen heute nicht viel. Dr. O’Brien ist noch nicht wieder ganz gesund.«

»Bist du sicher? Ich könnte in der Nähe bleiben « Spencer betrachtete Talia genauer. Sie wich einen Schritt zurück.

»Wir kommen zurecht. Danke.« Adam klang entschieden.

»Du könntest die fünfzig Dollar holen, die du mir noch vom Pokern in der letzten Woche schuldest«, schlug Gillian Spencer vor. Sie klang sarkastisch, machte mit dem Körper jedoch verführerische Bewegungen, was bei ihren Kurven nicht schwer war. Talia kam sich dagegen ungelenk und schlaksig vor.

»Wieso sollte ich das tun?«, fragte Spencer und legte seinen verschwitzten Arm um Gillians Schultern. »Dann würdest du ja aufhören, mir damit auf den Wecker zu fallen.«

»Weil du ansonsten einen Tritt in den Hintern bekommst«, gab Gillian zurück.

»Leere Versprechungen«, erwiderte Spencer. Die zwei schlenderten langsam über die Wiese zurück in Richtung Segue.

»Spencer ist heute Morgen gekommen«, sagte Adam, als die beiden das Gebäude erreichten. »Abgesehen von Ihrer Dissertation und der Erwähnung des Schattenmanns weiß er nichts über Sie. Aber er ist schlau, also seien Sie ihm gegenüber auf der Hut. Wenn er von Ihren Fähigkeiten erfährt, fühlt er sich vermutlich verpflichtet, seine Vorgesetzten zu informieren.«

Talia schluckte. Ihre Knie fühlten sich auf einmal ganz schwach an. Jetzt, wo sie wieder gesund war, konnte sie weglaufen. Sich verstecken. Sie würde nicht noch einmal dieselben Fehler begehen. Sie konnte zu

»Talia«, fuhr Adam fort, »wenn Spencer von Ihren Fähigkeiten erfährt, gebe ich Ihnen mein Wort, dass ich jeden Augenblick für Sie da bin und aufpasse, dass Ihnen nichts geschieht. Ich bin ein guter Verbündeter. Sie können auf meine Unterstützung zählen.«

Adam sagte das voller Überzeugung, und Talia wusste, er meinte es gut. Aber sie musste daran denken, wie er an seine Grenzen gegangen war, als er ihr Jacob gezeigt hatte. Er wollte für sie da sein, aber sie wusste, dass der Mann sich überforderte. Er konnte sich nicht um alles kümmern, nicht überall sein. Er war nur ein Mensch.

»Kommen Sie«, sagte er und ging in Richtung Wald. Während sie durch das hohe Gras liefen, fing Adam an zu reden, wobei der vertrauliche Klang seiner Stimme einem autoritären Tonfall wich. »Jeder Angestellte von Segue muss die Grundregeln der Geisterverteidigung lernen. Das meiste wissen Sie schon. Man kann einen Geist nicht töten; man kann ihn nur so lange außer Gefecht setzen, wie er braucht, um sich zu erholen. Ein Geist ist immer schneller und stärker als ein Mensch, also sollte man nicht versuchen, ihn direkt anzugreifen. Außer Ihnen ist es jedem anderen unmöglich, sich vor einem Geist zu verstecken, denn die Sinneswahrnehmung eines Geistes ist unserer deutlich überlegen.«

Blieb einem nur übrig, wie der Teufel davonzurennen. Lange Grashalme peitschten gegen ihre Knöchel und brannten. Talia hielt sich hinter Adam, um zu vermeiden, dass er sie zufällig berührte. Wenn seine Gefühle sich mit ihren mischten, brachte sie das durcheinander, sodass sie nicht mehr klar denken konnte. Es fiel ihr ohnehin schon schwer genug, sich zu konzentrieren.

»Am einfachsten kann man einen Geist mit einer Schusswaffe lahmlegen. Da Geister keinen Schmerz empfinden und ein großes Durchhaltevermögen besitzen, setzen Kopfschüsse sie eher außer Gefecht als Schusswunden am Körper«, fuhr Adam fort. »Sie erhalten ein Waffentraining, auf der anderen Seite des Gebäudes befindet sich ein Schießstand. Es gibt aber auch Gelegenheiten, bei denen man keine Waffe bei sich trägt.«

Talia blickte in Adams Gesicht und betrachtete die gelbliche Beule an seiner Schläfe. In der Gasse hatte er keine Waffe dabeigehabt und war gerade noch mit dem Leben davongekommen.

»Es hört sich vielleicht widersinnig an, aber suchen Sie nach größeren Menschenansammlungen. Geister scheuen die Öffentlichkeit.« Adam hielt einen großen Ast zur Seite und bedeutete Talia, ihm in die kühle Gesellschaft der Bäume zu folgen.

»Aber wieso führen wir die Geister dann nicht vor? Stoßen sie in die Öffentlichkeit. Drängen sie in die Defensive.« Damit zur Abwechslung sie sich im Schatten verstecken mussten.

Adams Blick verfinsterte sich. Der Ast schnellte hinter ihm zurück. »Um eine Massenpanik auszulösen? Das wäre ein gefundenes Fressen für die Geister. Wir könnten uns nicht mehr darauf konzentrieren, so viel wie möglich über sie herauszufinden, sondern wären mit Rettung und Eingrenzung beschäftigt.«

»Trotzdem. Öffentliche Aufmerksamkeit «

»… macht eine ohnehin schwierige Situation nur noch komplizierter. Das ist zum jetzigen Zeitpunkt keine Option. Es ist schon schlimm genug.« Adam blieb auf einer großen Lichtung im Kreis hoher Bäume stehen. Duftende Kiefernzweige mit dichten Nadeln spendeten Schatten.

Talia blieb stehen, verschränkte die Arme und grub dabei ihre Fingernägel in die Haut an ihren Ellbogen. Das tat weh, aber es hielt sie davon ab, ihn wegen seiner irrsinnigen Haltung anzuschreien. Für den Mann kam es nicht einmal infrage, die Öffentlichkeit zu informieren, obwohl man durch diese vorausschauende Aktion Leben retten konnte.

»Mit körperlichem Training werde ich Sie heute nicht belasten«, erklärte Adam, »aber wir müssen Ihren Angstreflex untersuchen und feststellen, wie weit er geht und welche Möglichkeiten er birgt. Hier sollte man uns von Segue aus nicht sehen können. Ich hätte eigentlich mit Ihnen drinnen in den Trainingsräumen gearbeitet, aber die kann man heimlich überwachen. Solange Spencer hier ist, gehe ich lieber auf Nummer sicher.«

Sicher würde sie erst sein, wenn sie weit, weit weg von hier wäre. Weit weg von Spencer, weit weg von Jacob und weit weg von Adam und seiner entnervenden Art, ihr unter die Haut zu gehen.

»Fangen wir mit Ihrem Angstreflex an. Wie Ihre Angst «

Sie war eingeschnappt. »Können Sie aufhören, es so zu nennen? Meine Angst? Was zum Teufel soll das? Das hört sich an, als wäre ich ein armseliges Etwas, was ich zwar tatsächlich bin, aber das müssen Sie mir ja nicht bei jeder Gelegenheit unter die Nase reiben.« Talia blickte über ihre Schulter zurück. Niemand war zu sehen. Segue, dieser weiße Klotz, blitzte zwischen den Bäumen auf. Es war niemand in der Nähe, der ihnen zuhören konnte. »Und außerdem ist das Wort nicht korrekt. Es handelt sich ja nicht um einen Reflex, und er wird auch nicht durch Angst ausgelöst. Nur, weil Sie meine Fähigkeit erlebt haben, als ich Angst hatte, heißt das nicht, dass sie durch meine Angst ausgelöst wird. Sie stellen eine zufällige Verbindung her, wo es keine gibt. Das ist ziemlich unlogisch, wirklich.«

Adams Mund zuckte, gerade hatte er noch so streng getan, jetzt rang er um Fassung. Als wenn das lustig wäre.

Er konnte sich die Mühe sparen.

»Wenn es nicht durch Angst ausgelöst wird, was ist es dann? Wie funktioniert es?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Talia. Die Dunkelheit kam nicht von innen, nicht wie ihre Gefühle. Sie griff nach den dünnen, seidenen Schleiern. Oder bewegte sich in sie hinein, aber ohne einen Schritt zu tun. Zwischen zwei Orten existiert ein Ort, den die Geister nicht erreichen konnten.

Aber das ergab keinen Sinn. Das klang vollkommen lächerlich.

»Wie verändern Sie Ihre Umgebung? Wie geben Sie den Befehl dazu?« Adam trat vor und strich mit der Rückseite seiner Finger über ihre Wange. »Wie kommt es, dass sich auch meine Wahrnehmung verändert, wenn ich Sie in diesem Augenblick anfasse?«

Adams Berührung kam so plötzlich und unerwartet, dass Talia keine Zeit hatte, ihr auszuweichen oder sich auf die Gefühle vorzubereiten, die sie in ihr auslösten. Wie ein Stromstoß spürte sie durch den Kontakt sein Interesse. Seine enorme Kraft konzentrierte sich ganz auf sie. Bereits in Jacobs Zelle hatte sie zwischen seinem quälenden Geständnis eine seltsame intime Neugierde gespürt. Aber jetzt, hier allein mit ihm unter freiem Himmel, wirkte das Gefühl fordernder und was sie vor allem verstörte so, als würde er sie begehren.

Talia wich zurück. Wenn er so nah bei ihr stand, konnte sie ihre Gefühle nicht beherrschen. Nicht, wenn sich seine Gefühle mit ihren eigenen mischten. Musste er sie so bedrängen, so viele Fragen stellen? Konnte er ihr nicht etwas Raum zum Atmen lassen?

»Können Sie das vorsätzlich herbeiführen?« Er ließ die Hand sinken.

Seine Fragen verlangten nach Antworten. Er hatte ihr einen Einblick in sein Innenleben gewährt. Jetzt war sie an der Reihe. Tante Maggs wäre schockiert darüber, dass sie kurz davor stand, ihr Versprechen aus Kindertagen zu brechen, nie jemandem von ihrer Fähigkeit zu erzählen. Tut mir leid, Maggs schlimmer kann es sowieso nicht mehr werden. Sie war entdeckt worden, und jetzt musste sie lernen, wie sie sich retten konnte.

»Ich « Verdammt. Sie hatte noch nie zuvor darüber gesprochen. Sie erinnerte sich daran, was Adam durchgemacht hatte, sammelte innerlich Mut und versuchte es noch einmal. »Für mich haben die Schatten eine bestimmte Konsistenz … Sie bestehen aus einem festen Material. Ich kann sie fühlen. Auch jetzt.«

Sie waren überall um sie herum in den dunklen Flecken unter den Bäumen, in dem Licht, das durch die Äste fiel, den Umrissen ihrer beider Körper auf dem Boden. Wenn sie wollte, konnte sie nach der Dunkelheit greifen, unter ihren schützenden Schirm kriechen und das Leben von einem sicheren Ort aus betrachten.

»Wie fühlt es sich an?«, fragte Adam sanfter.

Talia seufzte. »Sicher. Und kühl.« Und einsam.

»Können wir es gemeinsam probieren? Jedes Mal, wenn ich es erlebt habe, waren Sie in einer Notlage. Ich würde mich gern einfach ein bisschen umsehen.« Er streckte ihr eine Hand entgegen. Sein Gesichtsausdruck war neutral, beinahe geschäftsmäßig, sie traute ihm nicht.

Talia blickte auf seine ausgestreckte Hand, dann in sein Gesicht. Sie wollte ihn nicht berühren, wollte nicht wieder seine Gefühle in sich spüren.

»Kommen Sie.« Er lockte mit dem Finger. »Wir haben es schon einmal getan. Lassen wir uns Zeit und machen es uns nett. Ganz ruhig.«

Sie hatte schon so lange Angst. Es war längst an der Zeit, etwas Neues auszuprobieren. Talia machte sich auf das Schlimmste gefasst und griff seine Hand.

Gefühle schwappten über sie hinweg. Erleichterung. Beeindruckende Kontrolle. Und Neugierde, in die sich, ja, eindeutig erotisches Begehren mischte; erregende Strudel strömten heiß durch ihre Adern und sammelten sich in ihrem Bauch. Talia schluckte heftig, wehrte sich gegen das Gefühl und versuchte nachzudenken. Ganz sicher fühlte er sich nicht von ihr erregt, so viel war klar. Vielleicht machte ihn die Vorfreude auf ihren Trick mit dem Schatten an. Oder der Kampf mit Spencer. Alles, aber nicht sie.

Wenn sie dieses Gefühl beiseiteschob, bemerkte sie etwas Dunkleres in ihm, etwas Unangenehmes, sogar Giftiges, das sie nicht benennen konnte und auch nicht wollte.

»Sobald Sie bereit sind«, sagte Adam.

Das war krank. Sie war sicher, dass sie es bereuen würde. Die Angst raubte ihr den Atem, ihre Haut spannte, aber sie zog sanft an den Schatten.

Sie hörte, wie Adam die Luft anhielt, als sie die Schatten um ihre Körper schlang und sich ein dunkler Film über den sonnigen Tag legte. Mehrere Schichten von Schleiern schmiegten sich sinnlich um ihre Körper. Die Bäume, die Weide dahinter, das riesige Gebäude von Segue alles war da, wirkte aber zerbrechlich. Als wenn ein Windstoß reichte, um alles aufzulösen.

Adams Hand lag warm in ihrer. Er erfüllte sie mit seinem Staunen, und das war das Schönste daran. Denn es brachte ihr selbst aufs Neue die Schönheit der Schatten zu Bewusstsein.

»Noch etwas mehr«, bat er.

Talia griff erneut nach den Schatten, und der Tag versank in der Dämmerung. Die strahlend gelbe Sonne wurde in ein dunkles Violett getaucht. Auf einmal bestand die Welt aus unzähligen Violett-, Blau- und Schwarzstufen. Die Geräusche wurden in die Länge gezogen, das Zwitschern der Vögel und das Zirpen der Grillen verwandelten sich in der Dunkelheit zu hohen, unheimlichen Tönen. Die Schatten legten sich um ihre Schultern und glitten himmlisch sanft über ihre Haut.

Adams Erstaunen verwandelte sich in Ehrfurcht, und seine Aufregung wuchs.

Talia blickte ihn an, um zu sehen, ob sich seine Gefühle auf seinem Gesicht abzeichneten.

Er sah zu ihr hinunter, wollte etwas sagen, hielt jedoch stattdessen inne und starrte sie an. Das Gefühl kehrte zurück, erst spürte sie es nur zart hinter der Verwunderung über seine Entdeckung, dann brach es wie eine Sturmflut über sie herein. Verlangen.

Dann musste er sie doch begehren.

Sie hätte sich gern von ihm losgerissen, aber sein Blick hielt sie gefangen. Er musterte ihren Mund und zwang sich, wieder nach oben zu sehen.

Sie zitterte, in ihrem tiefsten Inneren bildete sich eine Spannung, und Adams Griff wurde fester. Er zog sie an sich. Sie taumelte, ließ aber zu, dass er sie umarmte und sie in seinen Armen herumdrehte, sodass sie mit ihrem bebenden Rücken an seiner Brust lehnte, wobei er unablässig ihre Hand hielt. Er fühlte sich so gut an, dass sie einfach stehen blieb und zitternd darauf wartete, was er als Nächstes tat.

»Hat dieser Ort einen Namen?« Seine leise Stimme strich über ihr Ohr, sein Atem streichelte ihre Haare.

Verwirrende Gefühle schwirrten durch ihren Kopf. »Segue?«

»Das ist nicht Segue. Nicht mehr. Das ist «

Oh. »Dazwischen. Schatten.«

Seine Lippen streiften ihren Hals, Verlangen strömte über ihre Verbindung zu ihr. Sie hätte sich leicht darin verlieren können. Und sie wollte sich verlieren, wollte erleben, was seine Berührung versprach.

Er veränderte leicht seine Haltung und hob den Kopf, um den Blick noch einmal über das Tal schweifen zu lassen. Sie drehte ihr Gesicht, um seine Körperwärme zu spüren, die sich so viel angenehmer anfühlte als die Kälte der Dunkelheit.

Aber dann nahm sie wieder ganz schwach dieses andere, dunkle Gefühl bei ihm wahr, das sich heimtückisch in sein Verlangen mischte.

»Was würde passieren, wenn « Seine Worte gingen in einer Welle der Lust unter.

»Ja?«, erwiderte sie, selbst voller Verlangen.

»… wenn jemand hier stirbt? Weißt du das?«

Talia erstarrte. Sie versuchte sich aus seinem Griff zu lösen. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

Er hielt sie fest. »Jacob. Wenn ich ihn hier umbringen würde, würde er dann tot bleiben?«

Das dunkle Gefühl wurde alles beherrschend und sammelte sich in ihr. Klebrig, tödlich, wie ein Gift und veränderte seine anderen Gefühle. Jetzt erkannte sie es.

»Lassen Sie mich los.« Sie wehrte sich mit mehr Kraft.

Adam ließ sie nicht los. »Wir haben doch gerade erst angefangen «

Das Verderben sickerte durch seinen gesamten Körper und vergiftete seine Kraft und seine Emotionen.

»… wir sind aber schon fertig«, erwiderte Talia. Sie riss sich von ihm los, nahm die Dunkelheit mit sich, rannte zurück durch den Wald und überließ Adam seinem Dämon, der Wut.

t

Adam begleitete eine schweigsame Talia zum Konferenzraum. Verstohlen musterte er sie. Sie trug wieder Pattys Sachen und wirkte beherrscht, der Inbegriff von Professionalität. Aber die Art, wie sie ihr Notizbuch an ihre Brust presste, verriet ihm, dass sie wütend war. Selbst mit dieser Miene sah sie hinreißend und verführerisch aus und ließ ihn ernsthaft an seiner Überzeugung »keine Intimitäten mit Angestellten« zweifeln. Galt das auch für Talia in ihren Schatten? Sie war eine Göttin. Zu schade, dass sie entschlossen schien, sich von ihm fernzuhalten. Was passierte hier?

Er fand, dass die Erforschung ihrer Schattengabe einen durchschlagenden Erfolg darstellte. Bei der erstbesten Gelegenheit wollte er mehr darüber erfahren. Seit sie ihm eröffnet hatte, was in der Dunkelheit geschah, gingen ihm die Möglichkeiten, die darin für die Forschung oder für Jacob lagen, nicht mehr aus dem Kopf. Was für ein Geschöpf war zu so etwas fähig?

Sie blieben vor der Tür zum zweiten Tanzsaal des Fulton Hotels stehen. Er hielt sie weit für sie auf. Sie ging seitlich hindurch, denn sie wollte jede zufällige Berührung vermeiden. Okay, sie war ziemlich wütend.

Als er mit Talia auf den langen Besprechungstisch aus Mahagoni zukam, verstummte die gesamte Mannschaft von Segue, siebzehn Personen inklusive Custo und Spencer. Alle, bis auf Jim und Armand, die ihre hitzige Auseinandersetzung keine Sekunde unterbrachen.

»Die Herren «, sagte Adam, um sie zum Schweigen zu bringen.

Einladend rückte er einen Stuhl neben seinem eigenen vom Tisch ab, aber Talia ging an ihm vorbei und wählte einen Platz in der Mitte.

Vielleicht waren seine Anspielungen auf ihre Angst und seine Fragen etwas zu forsch und direkt gewesen. Aber, verdammt, sie musste doch von allen am besten verstehen, wie bedrohlich die Geister waren.

Er würde noch einmal mit ihr sprechen. Später.

Adam hob die Hände und wandte sich an die Gruppe. »Ich bitte euch alle, unser neues Teammitglied, Dr. Talia O’Brien, herzlich willkommen zu heißen. Ich fühle mich geehrt und bin überaus erfreut, dass sie hier bei uns ist. Die meisten von euch haben ihre Dissertation gelesen und eine Idee davon bekommen, was eine Nahtoderfahrung ausmacht. Wer sie noch nicht gelesen hat, holt das bitte nach.«

Augenblicklich setzte sich Armand auf seinem Stuhl nach vorn und sah erst Jim, dann Talia an. »Ich möchte festhalten, dass ich nichts mit diesem Hokuspokus, diesem Leben-nach-dem-Tod-Mist zu tun habe. Ich bin Wissenschaftler. Es gibt kühle Stellen, klar. Aber die Geisterfrage ist keine metaphysische, sondern eine biologische. Wenn du Jac einen Geist umbringen willst, dann musst du eine Möglichkeit finden, seine Fähigkeit zur Zellregeneration zu verändern.«

Jim schüttelte den Kopf. »Wie kann Jacob sich regenerieren, wenn er nicht isst?«

Armand presste die Lippen zusammen. »Ich hoffe, das erklärt meine Forschung.«

Gillian hob ihren Stift. »Vielleicht sollten wir uns auf die Krankheit konzentrieren, die die Transformation ursprünglich ausgelöst hat «

»Ich sage euch, wieso er regeneriert«, unterbrach Jim. »Er ernährt sich von den Seelen anderer. Das ist ganz offensichtlich.«

Adam ließ die Diskussion eskalieren. Talias Blick zuckte zwischen den Männern hin und her, die Stirn in konzentrierte Falten gelegt.

»So etwas wie eine Seele gibt es nicht«, schoss Armand zurück. »Du denkst dir Sachen aus, um deine Pseudountersuchung zu rechtfertigen.«

»Aber wenn wir uns die ursprüngliche Krankheit ansehen«, insistierte Gillian, »finden wir vielleicht den Virus oder die Komponente, die zuständig ist für «

Jims große Ohren färbten sich rot. »Und wie erklärst du dir dann Lady Amunsdale? Nachdem du sie gesehen hast, kannst du doch nicht die Existenz von Geistern leugnen.«

Verzweifelt ließ Gillian den Stift auf den Tisch sinken. Jedes Mal, wenn Jim auf das weibliche Gespenst zu sprechen kam, war mit ihm nichts mehr anzufangen. Parapsychologen genossen im Allgemeinen wenig Achtung. Alles hatte damit angefangen, dass er berufsbedingt die Existenz von Gespenstern verteidigt hatte, aber inzwischen war daraus tiefe Zuneigung erwachsen. Jim war besessen und diesem weißen Rock vom ersten Jahr an hinterhergejagt.

Armand kniff die Augen zusammen. »Lady Amunsdale verfügt über keinen festen Körper, den ich erforschen kann. Ich lasse gelten, dass sie existiert, aber ich beziehe sie nicht in meine Untersuchungen ein.«

Jim grinste höhnisch. »Oh, hör mit diesem Mist auf, du machst es dir zu leicht. Was ist mit Dr. O’Briens Nahtoderfahrung? Sechshundertsechs Fälle, in denen Leute ihren Körper verlassen haben und später wieder in ihn zurückgekehrt sind.«

Talia richtete sich mit großen Augen auf.

Adam zwinkerte ihr zu. Sie wandte den Blick ab, ohne ihn zu beachten.

»Was ist mit anderen Formen von außerkörperlichen Erfahrungen? Bei denen der Geist umherstreift, während der Körper weiterexistiert?« Jim Remy stieß bekräftigend seinen Zeigefinger in die Tischplatte vor sich.

Armand seufzte dramatisch. »Ich weiß, worauf du hinauswillst. Du willst auf deine Weise zu dem Schluss kommen, dass Jacob, nachdem er seine Menschlichkeit verloren hat, keine Seele mehr besitzt.«

Jim Remy stand auf. »Meine Tests beweisen, dass Jacob innerlich tot ist. Da gibt es keine Seele.«

Obwohl die Ergebnisse mehr als zwei Jahre alt waren, versetzte Jims Behauptung Adam immer noch einen Stich. Jims Tests wiesen nach, dass in der Gegenwart von Gespenstern und Menschen ein charakteristischer elektromagnetischer Wert nachgewiesen werden konnte. Nicht aber bei Geistern. Etwas fehlte ihnen, und wenn Gespenster darüber verfügten, konnte es sich nur um die Seele handeln. Dass Jacob sich alles andere als menschlich verhielt und ihm familiäre Bindungen und Verantwortung egal waren, sprach weiter dafür.

Adam räusperte sich, und alle Aufmerksamkeit richtete sich auf ihn. »Dr. O’Brien. Sie sind gerade Zeuge einer alten, aber grundsätzlichen Diskussion in Segue geworden. Es läuft alles auf die simple, aber erstaunlich schwierige Frage hinaus: Wie definiert man Tod?«

»Dr. Remy behauptet, dass irgendetwas Jacobs Seele geraubt hat, während sein Körper weiterlebt. Auf der anderen Seite gibt es Lady Amunsdale, das offiziell anerkannte Gespenst von Segue. Sie verfügt über keinen Körper und ist physisch kaum wahrnehmbar, besitzt aber eindeutig ein Ich. Wer von beiden ist lebendig? Wer tot?«

Der Raum versank in Schweigen. Alle Blicke waren erwartungsvoll auf sie gerichtet.

Talia befeuchtete ihre Lippen. Ihr Blick schweifte über den Tisch, aber sie wandte sich an Armand. »Äh. Nun jede Person besitzt ein Leben und einen Tod. Wenn man sich auf das Körperliche beschränkt «

Ungeduldig legte Armand den Kopf zur Seite.

Talia räusperte sich und positionierte ihren Stift in einem perfekten rechten Winkel neben ihrem Notizbuch. »… sind Geister lebendig und Gespenster tot. Wohingegen in metaphysischer Hinsicht das Gegenteil der Fall ist.«

»Haben wir das nicht gerade schon gesagt?«, unterbrach Armand.

»Nun, ja, aber «, stammelte sie.

Adam rückte in seinem Stuhl nach vorn. Er wusste um ihren klaren Verstand und mochte die Art, in der sie Probleme wie ein Gedankenpuzzle hin- und herbewegte, um dann eine offensichtliche Lösung zu nehmen und sie auf den Kopf zu stellen. Das war genau der Grund, wieso er sie im Team haben wollte. Wenn Armand einen Augenblick still wäre, käme sie zu einer neuen Lösung, da war er sicher.

»Dann fahren Sie fort«, sagte Armand übertrieben ungeduldig.

Talia zog die Augen zusammen. »Gern. Wenn Sie aufhören, mir ins Wort zu fallen.«

Adam unterdrückte ein Lächeln. Das fing gut an.

Sie holte tief Luft. »Wenn eine Person ihr Leben verlieren kann, kann sie vielleicht genauso ihren Tod verlieren.«

Armand verdrehte die Augen. »Sie sind genauso schlimm wie Jim Remy. Das ist doch bloß eine verdrehte romantische Metapher.«

»Ist eine Metapher nicht lediglich ein Weg, etwas auf neue Art zu betrachten?«, erwiderte sie. »Geht es hier nicht darum, die Dinge aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen?«

»Na gut. Wieso sollte eine Person ihren Tod verlieren?«

»Die Menschen haben schon immer versucht, sich vom Tod zu befreien«, argumentierte sie. »Ganze Industrien leben von dem Wunsch, jung und gesund zu bleiben. Vor die Wahl gestellt, würden die meisten Leute ihren Tod abgeben und nicht mehr an ihn denken.«

Talias Aussagen waren sehr simpel, aber sie trieben Adam einen kalten Schauer über den Rücken. War die Antwort so einfach?

Adam blickte sich im Raum um und las in den Gesichtern seiner Mitarbeiter, dass sie verstanden. Talia blickte ihn an und schluckte ihren Ärger hinunter, an seine Stelle trat Mitleid.

Unsterblich. Für immer jung. Für immer stark. Für immer schön.

Rastalockes gruseliger Liedtext fiel ihm wieder ein. Zuerst muss die menschliche Rasse zerschmettern den Tod.

Adam lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Menschen, die ihr Leben opferten, waren Helden oder Märtyrer. Was, wenn Menschen ihren Tod opfern konnten? War so etwas möglich? Und zu was wurden sie dadurch?

Adam wusste, dass sich die Antwort in einer Zelle im Keller von Segue befand.

Jacob litt unter keiner Krankheit, er war von keinem Dämon besessen. Es war viel schlimmer, so schlimm, dass Adam den Gedanken bislang noch nicht einmal zugelassen hatte. Jacob war aus freien Stücken zum Monster geworden.

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Talia beobachtete, wie sich Adams Haltung veränderte. Sein Blick wurde schärfer, und er errötete. Die Linie seines Kiefers trat deutlicher hervor. Er umklammerte die Tischkante derart fest mit den Händen, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Wenn sie ihn jetzt berührte, würde sie wieder überall in ihm diese dunkle Leidenschaft spüren. Er kannte nur ein Ziel. Zu töten.

»Spielt es tatsächlich eine Rolle, ob es Jacobs Entscheidung war oder nicht?«, nörgelte Armand.

Adam schlug einmal heftig mit der Faust auf den Tisch und schritt aus dem Raum. Talia wusste genau, wohin er ging. Auch sie hatte ihre Familie verloren, und wenn sie Antworten finden oder einen Verrat aufdecken könnte, wäre sie nicht aufzuhalten. Adam wollte Antworten finden; er war auf dem Weg zu Jacobs Zelle. Sie war froh, dass sie bei dem bevorstehenden Gespräch nicht dabei sein musste.

Custo erhob sich ebenfalls. »Ich glaube, für heute sind wir fertig. Ich danke euch allen für eure Teilnahme. Das war « er wandte sich an Talia »sehr interessant.« Dann ging er um den Tisch herum und folgte Adam.

Im Raum brach eine Diskussion los.

Jims schrille Stimme stach aus dem allgemeinen Tumult hervor. »Für das, was für dich wie Aberglaube aussieht, gibt es womöglich eine wissenschaftliche Grundlage, Armand. Nimm die indischen Fakire, die ihre Herzfrequenz kontrollieren können «

»Gerade mal eine Woche hier, und schon mischt sie alle auf.«

Talia wandte sich der Stimme neben ihrem Ohr zu. Spencer.

»Das war nur so ein Gedanke.« Talia griff ihr Notizbuch und den Stift und huschte um den Stuhl herum. Sie wollte gehen und selbst über ihre Idee nachdenken. Wollte nachvollziehen, wie sie zu diesem Schluss gekommen war. Die Konsequenzen in einem Diagramm festhalten. Einen Weg finden, wie sie Adam helfen konnte.

»Sie haben einen Nerv getroffen«, sagte Spencer, während er ihr folgte. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie zu Ihrem Büro begleite?«

Sie wich vor ihm zurück. Für heute hatte sie genug Hautkontakt gehabt. »Ich… ich wollte eigentlich gerade zurück zu meiner Wohnung gehen. Ich bin erschöpft. Leider komme ich erst sehr langsam wieder auf die Beine. Etwas später vielleicht.«

Besorgt zog er die Brauen zusammen. »Dann begleite ich Sie dorthin.«

»Oh nein. Das ist nicht nötig.« Verstand der Mann nicht, wenn man sich entschuldigte?

»Bitte. Wir können uns auf dem Weg unterhalten.« Offensichtlich doch.

Talia deutete zur Tür. Zumindest sorgte Spencer dafür, dass die Menge ihr Platz machte.

»Dr. O’Brien!« Jim wedelte mit der Hand in Richtung Gruppe.

»Sie unterhält sich später mit euch«, rief Spencer ihm zu und nahm ihr damit die Antwort ab.

Auf dem Weg zum Fahrstuhl hielt Talia sich einen Schritt hinter Spencer, aber nachdem sie einmal eingestiegen waren, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm zuzuhören.

»Als Adam dem IBÜ vorschlug, Sie anzustellen, sagte er, Sie seien eine Querdenkerin. Jetzt verstehe ich, was er meinte.« Er schenkte ihr ein charmantes Lächeln. Es wäre allerdings noch charmanter gewesen, wenn er sie allein gelassen hätte.

»Ich dachte, Segue gehört Adam allein.«

Spencer nickte bedächtig mit dem Kopf, als würde er eine Kleinigkeit zugeben. »Das ganze Arrangement ist etwas kompliziert. Adam hat das Institut gegründet, finanziert es selbst und bestimmt die Forschungsrichtlinien, aber das alles tut er mit Duldung des IBÜ. Als wir herausgefunden haben, dass Adam einen Geist gefangen und eingesperrt hat, den er nun untersucht, haben wir ihn beinahe erschossen. Um es kurz zu machen, am Ende haben wir uns darauf geeinigt, dass es ein Versäumnis war, dem eine offizielle Entschuldigung folgte. Ab jetzt pflegen wir einen aktiven Informationsaustausch.« Talia sagte nichts und wartete, während die Ziffern im Fahrstuhl von eins über zwei und drei auf vier sprangen. Diese Vereinbarung musste Adam nerven. Er schien gern die Oberhand zu behalten.

»Das ist im Interesse aller Beteiligten. Unter uns gesagt, ist das IBÜ ziemlich konservativ, was den Umgang mit Geistern angeht. Dort hätte man den Nahtod nie als eine Untersuchungsmöglichkeit in Betracht gezogen. Ich muss zugeben, dass mich die eher unkonventionellen Ideen, die hier entstehen, gelegentlich beeindrucken. Wie jetzt zum Beispiel.«

»Wie schon gesagt, es war nur so ein Gedanke.« Talia trat aus dem Fahrstuhl und ging den Flur hinunter.

»Ich frage mich: Was riskiert jemand, wenn er sich entscheidet, ein Geist zu werden?«

»Buchstäblich seine Menschlichkeit.« Das verstand er bestimmt. »Ein Blick auf Jacob genügt, denn abgesehen von seinem Äußeren qualifiziert ihn nichts als Homo sapiens. Nur in der Welt der Sagen und der Magie gibt es entsprechende Bezeichnungen für diese Wesen. Nämlich Geist.«

Talia blieb vor der Tür stehen. Sie gab ihren Code ein und nahm sich vor, ihn sofort zu ändern. Die Art, wie Spencer ihr über die Schulter sah, gefiel ihr nicht. Das Schloss sprang auf, und Talia öffnete die Tür.

Spencer hob eine Hand, um zu verhindern, dass sie wieder zufiel. »Was bedeutet eigentlich Menschlichkeit?«

Talia runzelte die Stirn. Sie hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte.

»Ich spiele nur den Anwalt des Teufels. Was ist Menschlichkeit? Verlieren wir sie vielleicht alle früher oder später? Ist Jims Lady Amunsdale menschlich?«

»Das kann ich wirklich nicht beurteilen.« Talia schlüpfte hinein. »Das ist sein Fachgebiet.«

»Ich glaube, Dr. O’Brien, dass die Natur des Menschen sich in ihrem Kern um Veränderung dreht. Kein anderes Wesen auf diesem Planten ist sich der Veränderung bewusst. Ist sich bewusst, dass es in das Leben eintritt oder es verlässt und in einen anderen Zustand übergeht. Von Körper zu Geist. Ihre Arbeit stützt meine These der Tunnel, das helle Licht, die Bewegung von einem Stadium in ein anderes.« Seine Hand zuckte von links nach rechts.

»Ja. Und?«

»Vielleicht ist es nicht anders, wenn man ein Geist wird. Vielleicht ist es nur der Übergang von einem Zustand in einen anderen, mit dem einzigen Unterschied, dass man auf dieser Existenzebene verbleibt.«

Der einzige Unterschied! »Sie vergessen, dass sie sich von ihren Brüdern und Schwestern ernähren.«

»Das ist der Kreislauf des Lebens. Wir sind alle auf unsere Art Raubtiere. Wir tun alle, was wir können, um zu überleben. Lügen, betrügen, stehlen, morden. Da gibt es keinen Unterschied.« Er zeigte wieder sein schiefes Grinsen.

Das konnte nicht sein Ernst sein.

Er hatte so ein seltsames Funkeln in den Augen. »Vielleicht sind sie sogar besser.«

Talia fiel die Kinnlade herunter.

Spencer brach in Lachen aus und hob entschuldigend die Hände. »He. Ich spiele nur den Anwalt des Teufels.«

»Ja, alles klar.« Talia schlug ihm die Tür vor der Nase zu.