10
»Wir möchten den California.« Gillian streckte die Hand aus. »Der Schönheitssalon erwartet uns, und Talia möchte uns gern begleiten. Deshalb fürchte ich, der Diabolo reicht nicht. Wir brauchen einen Viersitzer.«
Das Frauentrio stand in Adams Büro. Talia hielt sich im Hintergrund und ließ die anderen Frauen reden. Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und nachgedacht, nun stand ihre Entscheidung fest. Als Erstes brauchte sie jemanden, der sie mit in die Stadt nahm.
»Es stehen sechs sehr hübsche Autos auf dem Parkplatz – wie kommt ihr darauf, dass ich euch meinen Wagen leihe?« Adam zog die Stimme am Ende des Satzes ungläubig in die Höhe.
Gillian ließ sich nicht abschrecken. »Unsere gemeinsame Freude an luxuriösen Wagen.«
Sein Blick glitt zu Patty, die zustimmend grinste.
Talia beobachtete das Geschehen missmutig. Sie wusste nicht, welcher der California war. Aber ganz offensichtlich hatte die Bitte Adam verärgert, was sie weniger befriedigte, als es sollte. Sie wollte einfach nur weg von hier. Wenn sie in einem Raum mit Adam war, spannte ihre Haut, und ihre Nerven lagen blank.
Schließlich sah Adam zu Talia. Er musterte sie eine Weile mit prüfendem Blick, als würde er über etwas nachdenken. Sie bemühte sich um eine gleichgültige Miene. Die Kreditkarte von Segue steckte in ihrer Tasche, und damit würde sie alles kaufen, was sie brauchte. Ihre Flucht aus Adam Thornes Versuchslabor würde ihn teuer zu stehen kommen.
»Gut«, sagte Adam. »Aber fahrt nicht so schnell. Wenn ihr einen Unfall habt, kann unsere wundervolle Ärztin euch nicht helfen, weil sie selbst am Ende ist. Und ich werde vollauf damit beschäftigt sein, euch zu verfluchen und keine Zeit haben, medizinische Hilfe zu holen.«
Gillian wippte auf den Zehenspitzen. »Ja, ja, den Schlüssel, bitte.«
Er öffnete eine schmale Schreibtischschublade rechts neben dem Hauptarbeitsplatz unter Jacobs Überwachungsmonitor. Wahrscheinlich war es derselbe Bildschirm, der ihm einen ungehinderten Blick auf ihre Wohnung und ihr Schlafzimmer gewährt hatte. Als wäre sie wie Jacob. Ein Monster, das man studieren musste.
Wie hatte sie nur so dumm sein können?
»Alles in Ordnung?« Adams Blick musterte forschend ihr Gesicht. Er konnte sich unmöglich Sorgen machen.
Talia bemühte sich, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen und schluckte ihre Wut hinunter. Sie nickte und zeigte ein aufgesetztes Lächeln. Schönheitssalon! Spaß! Als wenn sie sich je von irgendjemandem hätte anfassen lassen, egal wie lange.
Gillian schnappte sich den Schlüssel aus seiner Hand und zog Adams Aufmerksamkeit auf sich. Das ungute Gefühl in Talias Bauch ließ nur etwas nach. Deutlich besser würde sie sich erst fühlen, wenn Segue weit hinter ihr lag.
»Wir haben in zwanzig Minuten einen Termin. Es ist besser, wir fahren jetzt los.« Gillian hüpfte zur Tür wie ein junges Mädchen. Talia folgte ihr, Patty bildete das Schlusslicht.
»Wartet«, rief Adam. »Man braucht fünfunddreißig Minuten dorthin.«
»Nicht mehr«, trällerte Gillian, wedelte mit dem Schlüssel in der Luft herum und rauschte aus dem Büro.
Sie passierten den Lieferantenparkplatz und betraten eine makellose Garage. Dort parkten vier glänzende Wagen schräg nebeneinander. Jeder einzelne war ein Luxusmodell, aber Talia hatte Schwierigkeiten, auch nur eine Marke zu benennen. Ein schwarzer Sedan, etwas altmodisch, aber windschnittig, stand am weitesten entfernt von der Tür. Daneben parkte ein schwerer Geländewagen mit getönten Scheiben und glänzendem Chrom. Es folgten zwei Sportwagen, die um Aufmerksamkeit wetteiferten, einer schwarz, mit tief gelegter Karosserie, böse und kantig. Der andere knallrot, modern und hitzig, in eleganter Form. Auf dem Kühlergrill bäumte sich ein silberner Hengst auf einem gelben Markenzeichen.
»Zum Ferrari«, winkte Gillian. Sie tippelte auf Zehenspitzen zu dem roten Wagen und strich mit der Hand über die Motorhaube. Als sie die Tür öffnete, seufzte sie übertrieben aufgeregt. »Danke, Talia!«
Talia hob verwirrt den Kopf, während sie sich hinter dem Fahrersitz in eine schmale Sitzschale zwängte.
»Das haben wir dir zu verdanken.« Gillian hob bedeutungsvoll die Brauen und verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. Dann packte sie mit dramatischer, lustvoller Geste das Lenkrad.
Patty und Gillian schnallten sich an. Talia folgte ihrem Beispiel, obwohl sie, eingequetscht wie sie war, bezweifelte, dass der Sicherheitsgurt noch etwas bewirkte.
»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte Talia. Wusste denn jeder, dass Adam sie geküsst hatte? Hatten es alle gesehen? Oder hatte er dort, wo er sie berührt hatte, einen deutlich sichtbaren Abdruck hinterlassen? Die bittere Wahrheit lautete, dass sie seine heißen Hände immer noch auf ihrem Rücken und ihrem Po spürte, und an anderen Stellen, von denen sie kurz gehofft hatte, dass er sie berühren würde.
Gillian drehte den Schlüssel im Zündschloss herum, ließ den Motor aufheulen und schnurrte bedeutungsvoll.
Der Wagen fühlte sich an wie Adam. Kraftvoll, schön und schnörkellos. Unter dem Honiggeruch des schwarzen Leders roch er sogar wie er.
»Ach, Liebes. Die Art, wie er dich ansieht. Ich warte seit Jahren darauf, dass er mich mit diesem Strahlen in den Augen anblickt. Wenn du nicht dabei wärst, hätte er uns nie und nimmer erlaubt, eines von seinen Babys zu nehmen.« Gillian zwinkerte. »Ich habe die Gelegenheit einfach schamlos ausgenutzt.«
»Lass sie in Ruhe«, sagte Patty, lächelte aber ebenfalls.
Ja, bitte. Lasst mich in Ruhe.
Gillian lenkte das Fahrzeug aus der Garage und in die Auffahrt von Segue. Als sie das Gaspedal durchtrat, sang der Motor, und Talias Kopf wurde von der Wucht der Beschleunigung in den Sitz gedrückt.
Talia ließ Gillian und Patty, deren Köpfe unter matschartiger Farbe steckten, im Salon zurück. Gillian hatte zusätzlich noch glänzende Folien in den Haaren.
»Talia. Also ehrlich«, flehte Gillian, »bestell doch einfach etwas Schickes online, und lass es dir über Nacht liefern.« Sie wollte ihre Vorbehalte gegen das Einkaufen in Middleton gerade weiter ausführen, hielt dann jedoch mit einem Blick auf die Friseurin höflichkeitshalber den Mund.
Das Problem war, dass Talia morgen nicht mehr hier sein würde. Sie durfte die Kreditkarte von Segue ausschließlich in Middleton benutzen. Was auch immer sie kaufte, musste sie hier erstehen, andernfalls konnte Adam ihre Spur verfolgen.
Talia lächelte, dankte beiden und machte sich auf den Weg, um sich selbst ein Bild von den örtlichen Einkaufsmöglichkeiten zu verschaffen.
Sie fand einen Gebrauchtwarenladen voll mit Kitsch, Geschirr und angelaufenem Schmuck. An der Rückwand des Shops stand eine Stange mit Kleidung.
Die Sachen waren abgenutzt, zerknittert und faltig. Vermutlich hingen sie schon seit Jahren dort auf den Kleiderbügeln. Sie wählte ein paar Sachen aus, die aussahen, als könnten sie ihr passen, und war begeistert, als sie einen abgenutzten, aber robusten Rucksack entdeckte.
Bei ihrem Eintreten war der Tresen besetzt gewesen, nun wirkte er verlassen. Sie legte ihre Sachen auf die Theke und hielt die Kreditkarte zum Bezahlen bereit. Während sie wartete, schoss Adrenalin durch ihren Körper und wirbelte ihre Gedanken durcheinander. Eine Kleinstadt wie diese …
Sie zögerte eine Sekunde, dann trat sie auf die andere Seite des Verkaufstresens.
Da lag sie. In der obersten Schublade neben einem Stapel alter Kochbücher. Eine Pistole mit silbernem Lauf und schwarz gummiertem Griff. Eine Schachtel mit Munition, auf der .38 SPEZIAL stand, direkt daneben. Adam hatte gesagt, dass Waffen die beste Verteidigung gegen Geister wären. Das konnte sicher nicht schaden.
Sie hob die Waffe hoch, drehte und wendete sie, steckte die Munition in die Tasche und schob die Waffe in den Hosenbund unter ihre Bluse. Dabei hämmerte ihr Herz wie wild, obwohl sie in den zwei Monaten, in denen sie vor den Geistern auf der Flucht gewesen war, viele kriminelle Taten begangen hatte.
Die Waffe fühlte sich kalt und hart an ihrem Rücken an. Ungewohnt. Aber sobald sie daran dachte, wie Custo den Geist in der Gasse in Arizona umgelegt hatte, fühlte sie sich besser gewappnet. Als die Kassiererin – eine junge Frau – aus einem Flur trat, der durch einen Vorhang abgeteilt war, stand Talia wieder vor dem Tresen. Die Frau schien etwas überrascht, dass Talia sich noch immer dort befand.
Mit ihren Einkäufen in der Hand eilte Talia in den Teil des Ortes, in dem das meiste Leben herrschte.
Der Supermarkt befand sich an der Ecke I-52 und Main Street und schien Middletons Tor zur Welt zu sein. Talia betrat die Tankstelle, die Tür schwang weit auf, und über ihrem Kopf ertönte eine Klingel. Sie lächelte den pickligen Jüngling hinter dem Verkaufstresen an, der in einer Zeitschrift auf seinem Schoß blätterte.
Mit etwas Glück konnte sie die Stadt verlassen, bevor Patty und Gillian mit dem Färben fertig waren. Wohin wollte sie? Sie schluckte einen Kloß hinunter. Hauptsache weit, weit weg von Segue und Adam, alles andere war egal.
Talia benutzte die Kreditkarte, um Geld aus einem Bankautomaten neben dem Lottostand zu ziehen. Das Gerät spuckte 500 Dollar aus, den Höchstbetrag, den man an einem Tag abheben konnte. Das war deutlich mehr Geld, als sie bei ihrer letzten Flucht dabeigehabt hatte. Sie steckte die Scheine in eine kleine Tasche an der Vorderseite ihres Rucksacks und betrat den Imbissbereich. Sie wählte Energieriegel und ein paar Flaschen Wasser aus den verglasten Kühlschränken auf der Rückseite des Ladens.
Nachdem sie die Sachen bezahlt und verstaut hatte, postierte sie sich vor den Zeitschriften hinter der breiten Schaufensterscheibe. Eine Frau in einem alten Kombi, auf dessen Rückbank ein Kleinkind in einem Kindersitz saß, tankte an der Säule mit der Nummer eins. Ein Mann betankte einen roten Pick-up mit übergroßen Reifen an Säule Nummer zwei. Sie nahm an, dass der Mann vermutlich eher bereit war, jemanden mitzunehmen. Falls der Fahrer auf dumme Ideen kam, konnte sie ihn immer noch zu Tode erschrecken.
Zeit aufzubrechen.
Talia steckte eine Zeitschrift zurück in den Ständer, schulterte ihren Rucksack und stieß die Tür auf. Sie war auf halbem Weg zu den Tanksäulen, als ein schwarzer Denali-Geländewagen auf den Parkplatz glitt. Die getönten Scheiben ließen keinen Blick in das Innere zu. In der Windschutzscheibe spiegelte sich nur der bewölkte Himmel, aber die Haare in ihrem Nacken stellten sich automatisch vor Angst hoch.
Gefahr, warnte ihr Instinkt, ihr Herz pochte.
Paranoid. Sie unterdrückte das Gefühl und ging weiter auf den Pick-up zu.
Sie nahm Augenkontakt mit dem dickbäuchigen Fahrer auf, blickte aber über ihre Schulter zurück, als die Türen des Geländewagens geöffnet wurden. Sie sah, wie ein Mann – geschmeidig wie ein Raubtier – aus dem Wagen stieg.
Oh. Nein. Wo sollte sie sich nur verstecken?
Die Bäume am Highway wirkten genauso verlockend wie der Wald auf den Hügeln dahinter. Er stellte einen beinahe unendlich schattigen Unterschlupf dar. Es gab so viele dunkle Flecken, in denen sie sich verstecken und abwarten konnte, bis die Gefahr vorüber war. Anschließend würde sie von Strauch zu Baum schleichen und davonlaufen.
Adams nachdrückliche Worte tönten durch ihren Kopf: Gehen Sie dorthin, wo sich die meisten Menschen aufhalten.
Aber … sie blickte sehnsüchtig zu den Bäumen. Sie hatte sogar ausreichend Wasser und Essen bei sich. Sie konnte lange durchhalten …
Die Geister gehen nicht das Risiko ein, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Die Intensität von Adams Worten hielt sie davon ab wegzulaufen.
Sie konnte es nicht ertragen, ein zweites Mal gejagt zu werden. Das wusste sie jetzt.
Talia entfernte sich von den Tanksäulen und lief mit großen Schritten auf die Kreuzung Main Street zu. Die meisten Leute hielten sich bestimmt in dem einfachen Diner neben dem Schönheitssalon auf.
Sie ging quer über die Straße. Nicht umsehen. Bloß nicht zu schnell gehen. Keine Aufmerksamkeit erregen. Hier gibt es nichts zu sehen.
Sie bog um die Ecke in die Geschäftsstraße, als Patty und Gillian gerade ein paar Türen weiter aus dem Salon traten.
Sei ganz natürlich. Ganz normal. Du gehörst einfach zu den Mädchen.
»Ihr seht großartig aus!«, rief Talia und verzog ihren Mund zu einem Lächeln, während sie ihren Schritt beschleunigte.
»Hast du etwas gekauft?«, fragte Gillian, als Talia auf sie zukam.
Geister, formte Talia mit den Lippen.
Das Lächeln verschwand aus Gillians Gesicht. Patty zog die roten Lippen nach unten und blickte an Talia vorbei.
»Wir verhalten uns ruhig«, ordnete Patty an, »und gehen zum Wagen.«
Auf der anderen Straßenseite schrie der California geradezu nach Aufmerksamkeit. Das war weniger praktisch. Gillian zog die Schlüssel hervor und öffnete per Knopfdruck die Türen. Im Eingang des Eisenwarenladens auf der anderen Seite des Wagens tauchte ein Mann auf. Seine Hose und sein modernes T-Shirt passten nicht in die Kleinstadt. Er verhielt sich unauffällig und steckte die Hände lässig in die Hosentaschen, doch seine Augen wirkten gierig und bedrohlich.
Mitten auf der Straße blieben die drei Frauen stehen. Patty packte Talia am Ellbogen, zog sie zurück und stellte sich schützend vor sie, als wäre sie ein Kind.
Das ließ Talia nur zu, weil sie gerade von rechts abgelenkt wurde.
Der Geländewagen kam mit geöffneten Türen die Straße herunter gefahren. Seitlich auf den Trittbrettern standen zwei strahlende junge Männer, als machten sie gerade eine Spritztour. Beide sprangen herunter und versperrten die Straße.
»Adam hat gesagt, sie würden nicht das Risiko eingehen, sich der Öffentlichkeit zu zeigen«, sagte Gillian.
Als Talia begriff, erbleichte sie. Sie hätte es wissen müssen. Für niemand anders würden sie dieses Risiko eingehen. Aber wenn sie tatsächlich eine solche Bedrohung für sie darstellte, wie es die Bilder, die sie gefunden hatte, nahelegten, setzten sie womöglich alles aufs Spiel. Nun war es zu spät.
»Talia, hol Hilfe«, sagte Patty mit einer Stimme, die deutlich zu ruhig für die Situation war. »Middleton ist darauf nicht eingestellt. Jemand muss Hilfe holen, ansonsten wird die Stadt verwüstet. Du bist die einzige Person, die den Geistern entkommen kann.«
Wenn Talia einen Ausweg aus diesem Schlamassel gesucht hatte, hier war er. Eine sauber vorgefertigte Ausrede, absolut überzeugend und sehr verführerisch.
»Ich fahre«, sagte Gillian. Sie wollte ebenfalls leben. »Ich hole Hilfe. Ich kann genauso leicht durch …«
»Wir dürfen nicht zulassen, dass sie dich kriegen«, erwiderte Patty und ignorierte Gillian. »Denk nach, Talia.«
Talia überlegte nur eine Sekunde, dann war ihre Entscheidung gefallen: Bevor sie Patty und Gillian den Seelen verschlingenden Geistern überließ, konnte sie ebenso gut ihren eigenen Geist aushauchen, anschließend wäre ohnehin alles öde und sinnlos.
Talia schüttelte den Kopf, nein. Sie blieb. Die Entscheidung schnürte ihr die Kehle zu.
Sie brauchte nur etwas Mut, vielleicht musste sie erst einmal so tun, als wäre sie mutig. Dann, wenn sie nicht mehr flüchten konnte, stellte sich ein instinktiver Überlebenswille ein, und sie würde tatsächlich kämpfen.
Die kühle Waffe an ihrer Hüfte fühlte sich tröstlich an.
»Ich gehe nirgendwohin.« In Anbetracht der Tatsache, dass ihre Kehle höllisch brannte, gelang es ihr, mit erstaunlich fester Stimme zu sprechen. Sie drückte die weichen Knie durch, ließ den Rucksack von ihren Schultern gleiten und setzte ihn mit einem leise klatschenden Geräusch auf der Straße ab.
Mit ihrem Entschluss verstärkte sich Talias Angst. Die Welt vor ihren Augen verwandelte sich. Die Schatten. Die dichten Bäume und alten Backsteingebäude, die zuvor frisch und normal ausgesehen hatten, das Rot und Grün, lediglich vom Straßenstaub und dem Lauf der Zeit etwas verblasst, verschwanden jetzt unter einer dunklen Decke, die ihre Konturen verschwimmen ließ.
»Was zum Teufel …?« Gillian erschrak.
»Hör auf, Talia«, sagte Patty und verlieh ihrer Stimme einen autoritären Klang. »Wenn es zu einem Krieg kommt, können wir es uns nicht leisten, dich zu verlieren, und du wirst jetzt schon deine komplette Bandbreite an Tricks brauchen, um hier herauszukommen.«
»Wir befinden uns bereits im Krieg, Patty«, erklärte Talia. »Frag Adam.«
»Verdammt, Talia, lauf«, insistierte Patty, drehte sich langsam um die eigene Achse und stellte sich schützend hinter sie.
Rücken an Rücken standen sie mitten auf der Straße, nicht weniger als drei … Talia blickte nach links … beziehungsweise vier Geister waren hinter ihnen her.
»Ich kann uns in den Wagen bringen. Ihr müsst nur nah bei mir bleiben.« Talia kaute auf ihrer Lippe. »Dann locken wir sie hinter uns her nach Segue, wo wir mehr Hilfe haben.«
»Wieso zum Teufel glaubst du, du kannst …?«, fragte Gillian mit bebender Stimme.
»Bleib einfach bei mir«, sagte Talia. »Es wird gleich dunkel.«
Talia streckte die Hände aus, griff die kühle, himmlische Seide und zog die Schatten herunter. Gillians Hand griff verzweifelt ins Leere, als sie plötzlich nichts mehr fühlte. Talia packte sie, hängte sie an Patty und ergriff Pattys Hand.
Die Geister arbeiteten sich durch die Dunkelheit vor und suchten nach ihnen und dem Wagen.
Talia zog die Waffe. Der Griff rutschte in ihrer schweißnassen Hand. Sie ließ die Frauen los, um die Waffe mit beiden Händen festzuhalten.
Sie hob die Pistole, hoffte, dass sie geladen war, zielte auf einen Geist, als dieser gerade über den Wagen kletterte, und schoss.
Schwach spürte sie den Rückstoß in ihrer Hand. Die Kugel verließ die Waffe. Das glitzernde Geschoss flog, gefolgt von surrealen, durch die Luft wirbelnden Spuren, träge durch die Dunkelheit.
Talia erkannte an der Flugbahn, dass sie danebengeschossen hatte und lenkte das silberne Projektil auf den korrekten Kurs, wobei ihr Herz bis in den Hals hinauf schlug.
Die Kugel gehorchte.
He … Talia schluckte ihren Schock hinunter und dirigierte die Kugel mit ihren Gedanken zwischen die Augen des Geistes. Der kreischte kurz auf, dann fiel sein Körper dumpf auf das Pflaster.
Gillian fand mit zitternden Händen den Wagen. Sie öffnete die Fahrertür und krabbelte auf den Beifahrersitz hinüber. Patty folgte ihr nicht, sondern drehte sich um und blickte verblüfft in die Dunkelheit.
»Du zuerst«, rief Patty. Ihre Stimme klang verzerrt und hallte, mal näher, mal weiter entfernt durch die Schatten. Blind griff sie nach Talias Bluse, um sie in den Wagen zu zerren.
Es war nicht genügend Zeit. Die drei übrigen Geister schwebten herunter. Da sie nichts sehen konnten, sanken sie mit ausgebreiteten Armen auf den Wagen nieder.
Talia hob die Waffe und schoss aus nächster Nähe. Ein Geist zerfiel. Ein weiterer saß in der Hocke, stützte sich mit der Hand auf dem Pflaster ab und bereitete sich auf einen Angriff vor.
Sie zielte erneut, aber ein Arm schlang sich um ihre Taille. Patty versuchte, sie in den Wagen zu ziehen. Talia verlor das Gleichgewicht.
Der Geist griff Talias Handgelenk. Es tat weh. Ihre Finger kribbelten, dann brannten sie, und die Waffe fiel mit einem gedämpften Scheppern auf die Straße. Talia wehrte sich gegen den Griff und warf sich mit ihrem Gewicht nach hinten. Aber er war zu stark. Zu starr. Er spielte mit ihr wie mit einer Stoffpuppe.
Tränen verschleierten ihren Blick, als sie versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen. Die Lage war nicht gut. Hoffnungslos.
»Er hält mich fest«, keuchte Talia Patty zu. »Fahrt los!«
Aber Patty stellte sich vor Talia. Pattys zitternde Hand suchte nach der Hand des Geistes. Anstatt zu versuchen, ihn von ihr loszureißen, was sinnlos gewesen wäre, strich sie über seinen Arm bis hinauf zu seiner Schulter.
»Patty, sie tun mir nichts. Sie haben schon einmal versucht, mich zu fangen. Lebend. Sie tun mir nichts«, sagte Talia. Ihre Augen brannten. Das war das Ende, das war ihr klar. Vielleicht würden diese Geister sie am Leben lassen, aber wenn sie sie in ihre Gewalt bekamen, würde es schrecklich werden. Grausam.
Patty stürzte sich auf das Monster. Sie packte seinen Kopf. Und küsste ihn auf den Mund.
Talia blieb vor Schreck das Herz stehen, Tränen strömten über ihre Wangen.
Die Gelegenheit war zu verlockend, als dass der Geist widerstehen konnte. Er ließ von Talia ab, die mit dem Hinterkopf gegen den Wagen stieß. Dann wurde sie von hinten gepackt und hineingezerrt.
»Wo ist Patty?«, schrie Gillian. Es hörte sich weit entfernt an. »Ich kann überhaupt nichts sehen!«
Talia schon. Der Geist legte den Kopf auf eine Seite, öffnete den Mund und biss zu. Ein quälender Schmerz riss an Talias Herz – nein tiefer –, während er Pattys Seele in seinen Schlund saugte. Eine große Seele, eine wunderschöne reine Seele, bebte und verschwand im Rachen des Monsters.
»Talia!«, kreischte Gillian wieder.
Talia blutete das Herz. Ein solches Geschenk hatte sie nicht verdient, aber sie würde nicht zulassen, dass Patty sich umsonst geopfert hatte. Sie würde alles dafür tun. Sie schlug die Tür zu.
Gillian hatte bereits den Schlüssel in das Zündschloss geschoben, der Motor heulte auf. Talia löste die Handbremse, legte den Gang ein und gab Gas.