Wenn der Morgen kommt
(Come Morning)
… Ich werde frei sein. Frei, die Sonne zu spüren, ohne eine Mauer aus Beton um mich herum. Frei, um hinzulaufen, wohin ich will, wann ich will, wie ich will.
Aber zuerst die Nacht.
15 quälend lange Jahre musste ich mich in diesem Raum verkriechen, mein Leben eine Routine aus Schlafen, Duschen, Essen, Scheißen, Spielen – aber nicht allzu vielen Spielen – Ausruhen, Essen, Schlafen …
15 Jahre lang habe ich auf die Zukunft gewartet und jetzt läuft es alles hierauf hinaus. Auf diese eine Nacht.
Eine Nacht, die, wenn sie erst vorbei ist, meiner Last ein Ende bereitet und den Beginn meines Lebens einläutet.
Eine Nacht.
Für zwei Liebende, die sich am nächsten Morgen trennen müssen, fühlt sich eine Nacht wie ein Wimpernschlag an, schmerzhaft in ihrer Kürze. Aber für ein Kind, das auf den Weihnachtsmorgen wartet, das nicht einschlafen kann, scheint sich die Nacht bis in alle Ewigkeit hinzuziehen.
Eine Nacht – und dann werde ich frei sein. Werde meine Kleider zusammensuchen, all meine Habseligkeiten, mich von dem erdrückenden Lärm verabschieden können, von der noch erdrückenderen Stille, der Gewalt und dem Wahnsinn, dem miesen Essen, den miesen Wachen, dem Weinen. Verbannt in eine Kapsel im hintersten Winkel meines Gedächtnisses wird all dies mit jedem Tag weiter verblassen, bis die Erinnerungen nur noch den Hauch eines Flüsterns hinterlassen und die langen Jahre wie ein einziger Augenblick erscheinen werden.
Aber zuerst die Nacht.
Licht aus – wie in jeder anderen Nacht. Aber die heutige Nacht ist nicht wie alle anderen zuvor, denn morgen werde ich duschen, vielleicht scheißen, aber nicht essen, nicht spielen. Oder zumindest nicht so, wie sie es mir vorschreiben. Nein, morgen werde ich Pfannkuchen essen oder Spiegeleier. Eine Tasse Kaffee, der Herr? Gebratenen Speck, Waffeln und frisches Obst, bitte. Und ich werde spielen, oh ja, ich werde spielen, aber nicht auf dem Beton wie all die anderen eingesperrten Hunde – Beinchen heben, Stöckchen holen, verfolgt von den Augen auf den Wachtürmen. Ich werde spielen, aber auf einer weichen Matratze mit einer weichen Frau – oder einer harten. Je nachdem, welche ich mir leisten kann.
Ich muss also nur noch eine Nacht überstehen, bevor ich in das Licht hinaustreten kann. Aber eine Nacht kann lang sein, sie kann einsam sein und zu viele Gedanken können in zu vielen Köpfen herumschwirren. Auch wenn ich mich nach der Morgendämmerung sehne, wird diese Nacht eine harte Nacht werden, die härteste von allen.
Ich liege in meinem Bett wie ein braver, gehorsamer Junge und versuche die Schreie auszublenden, das Schlagen, das Stöhnen, indem ich dem Pochen meines Herzen lausche, meiner Atmung. Ich starre in die Dunkelheit hinaus, auf die Gitterstäbe, die mein Leben seit 15 Jahren durchkreuzen, warte darauf, dass der Schlaf mich übermannt, weil ich weiß, dass die Nacht wie ein Vogel an meinem Fenster vorbeiziehen wird, wenn das passiert. Ich werde aufwachen und die Dunkelheit wird sich in Licht verwandelt haben. Dann werden sie kommen, um mich zu holen, und ich werde frei sein.
Frei.
So ein kleines Wort, aber es erfasst all den Kummer und die Freude sämtlicher Männer, Frauen und Kinder auf der ganzen Welt.
Ich bin nicht müde, ich bin viel zu aufgeregt, aber ich schließe trotzdem die Augen und denke daran, wie das Leben sein wird, wenn ich dieses Gefängnis verlassen habe.
Ich sehe Bäume, die ihre Äste ausbreiten, und lange, rissige Straßen, die irgendwo hin, überall hin führen. Ich sehe lange Nächte in Bars, verruchte Frauen, glasige Augen und gute Zeiten. Ich sehe ein Mädchen, das auf dem Boden liegt, ihr Höschen zerrissen, ihr zartes Fleisch entblößt …
Ich reiße die Augen auf.
Ich runzele die Stirn.
Ich kann an solche Dinge nicht denken. Das darf ich nicht. Das soll ich nicht. Ich bin geheilt, ich habe meine Zeit abgesessen, ich sollte nicht mehr an Fleisch und Sex und Gewalt denken. Ich habe diese Dinge in einer anderen Zeit zurückgelassen. Ich war damals ein anderer Mensch. Ich hatte 15 Jahre Zeit, um aus meiner Haut zu schlüpfen. Es geht mir jetzt viel besser.
Erneut schließe ich die Augen und stelle mir die einfachen, vergnüglichen Dinge vor: lange aufbleiben und mir die Late-Night-Show anschauen; in meinen Wagen steigen und einfach durch die Gegend fahren; meine Mum anrufen bei Tag oder Nacht. Das sind die Dinge, an die ich denken sollte.
Kurze Zeit später schlafe ich ein.
Als ich wieder aufwache, liegt der Raum noch immer in finsterer Nacht. Im Block ist es jetzt ruhiger geworden, nur vereinzelte Schreie oder ein knappes Lachen unterbrechen die Stille. Wahrscheinlich Wilson drei Türen weiter. Sitzt wegen Mordes, ist völlig durchgeknallt. Aber er ist nicht verrückt. Ich erinnere mich noch daran, wie er mich in eine Ecke drängte, als ich hier ankam, vor vielen, vielen Nächten. Wie er mir versprach, er würde mich nur einmal vergewaltigen, wenn ich ihm all meine Kippen gebe. Tja, ich habe ihm meinen kompletten Vorrat an Kippen gegeben und er hat mich vergewaltigt, aber nicht nur einmal. Viel öfter.
Ich denke daran zurück und muss beinahe lachen, aber das Lachen erstickt in meiner Kehle. Ich muss aber nicht beinahe lachen, weil es mir gefallen hätte, sondern weil ich morgen nach Hause gehe und Wilson immer noch hier sein und dem nächsten Stück Frischfleisch sämtliche Kippen abnehmen wird.
Ich springe aus dem Bett, ich muss pinkeln. Während der Strahl aus mir herausplätschert, drehe ich mich um und schaue aus dem Fenster, aber ich sehe nichts als graue Dunkelheit durch die Gitterstäbe. Ich denke an all die Male, die ich durch die Luke geschaut habe, und eine Träne tropft von meinem Gesicht in die Kloschüssel. Ich werde dieses Fenster vermissen, diese Gitterstäbe, meine einzigen Kameraden in dieser dunklen Zeit. Sie waren bei mir, als ich nach Rio geflogen bin und mit all den Mädchen getanzt habe, und auch, als ich mir in Griechenland ein Bier schmecken ließ, während die Jachten an mir vorübersegelten, um mich herum nichts als Weiß. Sie waren bei mir, als ich nach Florida getrampt und durch Nevada gefahren bin. Sie waren da, als ich meine Pulsadern mit einem scharf geschliffenen Stift aufgeschlitzt habe. Und sie waren ganz sicher auch bei mir, um über mich zu wachen, während ich endlose Tränen vergoss.
Ich bin fertig mit Pinkeln und packe mein bestes Stück wieder ein. Als ich auf den kalten Boden blicke, frage ich mich, wohin all die Tränen verschwunden sind, die ich vergossen habe. Ich stelle mir einen unterirdischen Fluss aus all den Tränen, all dem Blut und all dem Sperma der Männer vor, die diese Hölle irgendwann ihr Zuhause nannten – und dann stelle ich mir vor, wie ich mich hineinfallen lasse und davontreibe.
Und dann lache ich doch noch, kurz und keuchend. Warum taucht solch ein Gedanke in meinem Kopf auf? Ich bin nicht länger in diesen Mauern gefangen. Wenn der Morgen kommt, werde ich frei sein, ich brauche keinen schmutzigen Fluss. Das ist der Gedanke eines zum Scheitern verurteilten Mannes, nicht der eines freien Mannes.
Also klettere ich wieder in mein Bett, während schöne Vorstellungen vom nächsten Morgen durch meinen Kopf schwirren, und wie durch ein Wunder schlafe ich ein.
Als ich das nächste Mal erwache, ist der Block eingeschlafen. Es scheint, als sei ich zu dieser unchristlichen Zeit als Einziger wach. Aber wie spät ist es? Der Raum liegt noch immer in derselben tiefschwarzen Dunkelheit wie zuvor und ich habe das Gefühl, dass kaum Zeit vergangen ist. Ich setze mich auf, stelle meine rissigen Füße auf den Steinboden und schlendere ans Ende meiner Welt.
Ich klammere mich an den dicken Gitterstäben fest, starre zur Uhr hinauf und ihr rundes, wachsames Gesicht zwinkert mir zu. Eine Stunde nach Mitternacht, verrät sie mir. Noch fünf Stunden bis zum »Aufstehen, ihr Schwachköpfe!« Ich habe das Gefühl, dass es schon viel später sein müsste, und schlurfe wieder zu meinem Bett zurück, um den Rest der Nacht durchzuschlafen.
Aber der Schlaf kommt jetzt nicht mehr so schnell. Mein Mund ist trocken, ich habe Bauchschmerzen und ich wünsche mir so sehr, es wäre bereits morgen, dass mir der Kopf wehtut. Ich gehe zum Waschbecken hinüber und spüle mir den Mund aus, stoße einen tiefen Seufzer aus, gehe wieder zu meinem Bett zurück und setze mich darauf. Ich lege mich nicht hin, sondern vergrabe das Gesicht in meinen schwieligen Händen.
Warum kommt es mir so vor, als sei ausgerechnet diese Nacht die längste von allen? Warum werde ich nicht einfach vom Schlaf übermannt und wache erst wieder auf, wenn die Morgenröte sich in all ihrer Schönheit zeigt? Ich sterbe, wenn ich die ganze Nacht hier in der Finsternis sitzen und auf ihr Ende warten muss. Ganz gewiss wäre nicht einmal der Teufel persönlich so grausam.
Ich habe schon zu viel Zeit an diesem verdammten Ort verbracht. Vielleicht, denke ich, und dabei verkrampft sich mein Magen, wird er mich nicht so einfach freigeben. Vielleicht gehört man umso mehr hierher, je länger man hier gewesen ist – und je mehr du ihm gehörst, desto mehr von deinem Fleisch, deinem Blut und deinen Tränen nimmt er sich.
Ich zittere. Irgendwo, nicht hier, höre ich einen Hund bellen. Ich brauche Schlaf, Schlaf und ein Glas kaltes Bier und eine Frau, die ohnmächtig daliegt, auf dem …
Ich verpasse mir eine Ohrfeige, ein heftiger, stechender Schlag. Während ich kalte Tränen wegblinzele, weiß ich, dass es dieser Ort ist, der meinen Kopf mit bösen Gedanken füllt. Ich bin es nicht, ich kann es nicht sein, es …
»… bist schon immer du gewesen«, sagt eine tiefe, finstere Stimme.
Ich schnappe nach Luft und mein Kopf wirbelt herum und starrt auf das Ende meiner Welt. »Wer ist da?«
Ein Rülpsen, ein Seufzen. Und dann hallt die rußige Stimme von den harten, rissigen Wänden wider: »Niemand. Ein Freund. Ein Feind. Was auch immer.«
Die Stimme fühlt sich vertraut an, aber ich komme nicht darauf, woher ich sie kennen könnte. Ich stehe auf, gehe einen Schritt, zwei, drei – und bleibe stehen. Ich kann den blutigen Geruch des Metalls vor mir riechen. »Wie bist du hier reingekommen?«
Der Mann, der im Schneidersitz vor mir hockt, ist in Schatten gehüllt. Er riecht nach nassen Handtüchern und altem Klo-Stein. Er nimmt einen Schluck aus seiner Papiertüte. »Die Frage ist, wie bist du hier reingekommen?«
Ich öffne meinen Mund, um zu antworten, aber stattdessen frage ich: »Was hast du damit gemeint, ›es bist schon immer du gewesen‹?«
Es klingt, als ob der alte Mann – woher weiß ich, dass es ein alter Mann ist, wenn ich sein Gesicht nicht sehen kann? – Kieselsteine zermahlt, aber dann wird mir bewusst, dass er lacht. »Du gibst diesem Ort die Schuld an deinen bösen Gedanken, aber dieser Ort gibt dir die Schuld.«
»Ich verstehe nicht.«
Der Fremde kratzt sich und die Papiertüte raschelt. Die Tüte riecht verdächtig nach Wein – nicht nach einem edlen Tropfen. Er nimmt einen weiteren Schluck aus der Tüte. »Nein, ich schätze, das tust du wohl nicht«, erwidert er.
»Gib mir auch was ab.«
»Besorg dir doch selber was«, entgegnet er.
»Das werde ich, morgen, wenn ich gehe, aber jetzt brauche ich was von deinem Zeug.«
Der alte Mann johlt vor Lachen. Er sitzt auf der anderen Seite der Freiheit. Ein schwarzer Klumpen.
»Wache!«, brülle ich. »Hey, hier ist irgendein Penner und er gibt mir nichts von seinem Fusel ab …«
Und dann wache ich auf. Ich schaue sofort zum Ende meines Bettes, aber da ist kein alter Mann hinter den Gitterstäben.
Ein Traum, denke ich und lächele, aber nicht wegen des Traums, sondern weil es bedeutet, dass ich geschlafen habe. Allerdings bedeutet die Tatsache, dass ich darüber nachdenke, dass ich nun wieder wach bin. Und weil es noch immer dunkel ist, erstirbt mein Lächeln wieder.
»Verflucht«, murmele ich. Ich will doch einfach erst wieder zu mir kommen, wenn auch die Sonne es tut, aber es scheint, als sei ich dazu verdammt, alle fünf Minuten wach zu werden.
Aber es war wirklich ein seltsamer Traum. Ich schnuppere in die Luft. Mir steigt der Geruch alter, verschwitzter Handtücher in die Nase – und ein Aroma, das mich nur allzu sehr an jene Nacht erinnert, in der ich ins Bett gepinkelt habe.
Es ist der Geruch des alten Mannes, aber er selbst ist nicht da. Da ist nichts als leerer Raum.
Ich lege mich hin, schließe die Augen und versuche, mir die Stimme des Typen ins Gedächtnis zurückzuholen. So vertraut, dem tiefen Knurren meines Vaters nicht unähnlich. Seine Stimme hat mir immer Angst gemacht, als ich noch klein war – er hat mir Angst gemacht. Er hat sich die Pulsadern aufgeschlitzt, als ich elf war, aber das, was aus ihnen herausströmte, sah eher aus wie Rotwein, nicht wie Blut. Er war gerade mal 40, als er starb, aber in meinen jungen Augen sah er uralt aus. Anscheinend sehe ich meinem Vater sehr ähnlich – die gleichen schmalen Augen, vollen Lippen und dunklen, welligen Haare –, aber ich selbst sehe diese Ähnlichkeit nicht.
Ich liege da, meine Hände auf meinem Herzen, die Augen vor der Dunkelheit verschlossen, und versuche einzuschlafen, aber der Schlaf ist wie Wasser, das einen Fluss hinunterströmt – da, und doch nicht da. Ich kann ihn nicht greifen. Mit einem schweren Seufzer öffne ich die Augen und setze mich auf.
Das hier ist die ultimative Strafe. Irgendwie hat die Wache einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und dafür gesorgt, dass die Nacht doppelt so lange dauert wie sonst. Dieses Schwein!
Ich will doch nur, dass der Morgen die Nacht ganz sanft streichelt, selbst das noch so kleinste Anzeichen wäre bereits ein Segen. Aber nein, die Nacht ist bleischwer, unbeweglich, stur und scheint mich noch nicht so bald verlassen zu wollen.
Ich habe Angst, auf die Uhr zu sehen, Angst vor den Schrecken, die sie mir zeigt, deshalb bleibe ich auf meinem Bett liegen, drehe mich um und starre auf die Wand. Die Wand, die mir während meines gesamten Aufenthalts ein ständiger Freund und Begleiter gewesen ist. Ich strecke meine Hand aus und streiche über die unzähligen Rillen, Kerben und Risse – allesamt so vertraut. Ihre Geheimnisse haben mir geholfen, nicht den Verstand zu verlieren. Was ist der Grund für diesen Riss? Wer hat diese Kerbe geritzt? Hat der vorherige Bewohner geweint oder gelacht oder ist er gestorben, als er diese Rille schnitzte?
Lange Tage und noch längere Nächte habe ich hier gelegen und von der Vergangenheit geträumt, habe mir die Männer vorgestellt, die vor mir hier waren: ihre Geschichte, ihre Taten, ihre Persönlichkeit. Ich habe mich mit diesen erfundenen Personen unterhalten und manchmal kam es mir so vor, als seien sie realer als jeder der Männer, die hier mit mir eingesperrt sind. Realer als jeder, den ich draußen gekannt habe. Ich werde traurig sein, wenn ich sie verlassen muss, aber es ist nun einmal an der Zeit, Abschied zu nehmen – falls die Zeit sich nicht doch zum Stillstehen entschlossen hat.
Ich wende mich von der Wand ab und frage mich erneut, ob ich auf den Kreislauf des Lebens hinausschauen soll. Um nachzusehen, ob er mir wohlgesinnt ist oder nicht.
Oder ist dieses Spiel zu grausam?
Ja, entscheide ich, schließe wieder die Augen und versuche, in den Schlaf zu gleiten. Denn wenn es mir gelingt, wird mich das nächste Mal, wenn ich erwache, bestimmt der Morgen begrüßen und ich werde endlich frei sein.
Der Schlaf kommt, die Träume kommen. Ich träume von einem ungeborenen Baby, das zusammengerollt im Bauch seiner Mutter liegt. Allerdings besteht der Mutterleib aus dicken, schweren Gitterstäben und statt einer Nabelschnur ist da eine lange Nadel, die den Fötus mit Blut, irgendeiner milchigen Substanz und klarem Salzwasser versorgt. Das Baby schläft, lächelt, nuckelt an seinem Daumen und wächst, während ich es beobachte. Es wächst zu einem Neugeborenen heran, dann zu einem Kleinkind, aber damit hört es nicht auf.
Ich schreie das Kleinkind an, dass es aufwachen, die Stäbe durchbrechen und den Mutterleib verlassen soll – es ist schon viel zu groß für den Bauch der Mutter –, aber es beachtet meine Rufe nicht. Es wächst immer weiter, wird fünf Jahre alt, dann zehn, und ich sehe, wie sich der Mutterleib weitet und aufbläht. Ich schreie, weine, und trotzdem scheint das Kind seine Umgebung gar nicht wahrzunehmen. Es nuckelt weiter am Daumen und wird noch immer durch das Blut und die Milchmischung seiner Mutter ernährt. Es wächst weiter, wird ein Teenager, ein junger Erwachsener. Die Stäbe zerbrechen.
Dann höre ich, wie Fleisch und Muskeln reißen, und als es bereits in den Dreißigern ist, öffnet es die Augen, dreht sich zu mir, starrt mich an und lächelt. Danach sehe ich eine heftige Explosion aus Eingeweiden und Gewebe und Blut. Ich wache auf, schreiend, schwitzend, mit wild pochendem Herzen. Ich höre auf zu schreien, als mir bewusst wird, dass alles nur ein Traum war, aber ich höre das Echo meines Schreies noch lange, nachdem ich verstummt bin.
Es ist noch immer dunkel im Raum und ich bin überzeugt davon, dass die Nacht niemals enden wird, dass etwas mit der Welt nicht stimmt. Vielleicht sitzt die Nacht ja fest und kann sich nicht mehr vorwärtsbewegen, damit der Tag ihren Platz einnimmt. Oder vielleicht ist Gott auch am Steuer eingeschlafen oder – noch schlimmer: während der Nacht gestorben.
Ich stampfe mit den Füßen auf und lege die drei Schritte bis zu den Gitterstäben zurück. Ich will es sehen, ich muss es sehen. Ich schließe meine Augen, nehme an, dass es mindestens drei Uhr sein muss. Mit drei Uhr könnte ich leben, dann wären es nur noch drei Stunden bis zum bekannten »Aufstehen, ihr Schwachköpfe!« Damit könnte ich umgehen, ja, das wäre in Ordnung.
Mit einem Flattern öffnen sich meine Augen. Ich schlucke meine Angst herunter, blicke zu der strahlend weißen Uhr hinauf und spüre, wie mein Herz zerbricht. »Nein, nein, das kann nicht sein. Das kann nicht sein!«
Die Uhr erlaubt sich einen Scherz mit mir, sie spielt mit mir. Das muss es sein, denn es sind doch ganz sicher schon mehr als fünf Minuten vergangen, seit ich mit meinen roten, verschwommenen Augen zuletzt auf das Zifferblatt geschaut habe. Der lange Zeiger muss mehr als nur fünf lächerliche Minuten gewandert sein. Ich blinzele, weil ich denke, dass ich es bestimmt nicht richtig gesehen habe, dass die Schatten meine Augen in die Irre geführt haben. Ich weiß, dass es fünf nach drei sein muss, nicht fünf nach eins, nein, das kann nicht sein. Ich sehe noch einmal hin und jetzt ist es vier nach eins. Ich schreie. »Wache! Wache! Die Uhr ist kaputt! Die Uhr ist kaputt! Repariert sie wieder, ihr Mistkerle!«
Ich horche, aber niemand antwortet. Heute Nacht ist es totenstill.
»Die Uhr ist nicht kaputt, du bist es.«
Ich wirbele herum, stehe mit dem Rücken zu den Stäben und starre den alten Mann an, der wie eine dunkle, stinkende Statue erneut neben meinem Bett steht. »Wie bist du …?«, keuche ich und meine Lippen verzerren sich zu einer Grimasse. »Wie bist du hier reingekommen?«
Er schüttet sich noch mehr aus der Papiertüte die Kehle hinunter. Sein Geruch gleicht einer zähen Masse aus Fäulnis und er treibt mir das Wasser in die Augen und dreht mir den Magen um. »Denkst du, du bist schon bereit zu gehen?«
»Natürlich«, antworte ich.
»Wirklich?«
Ich nicke.
»Denkst du, dieser Ort ist bereit, dich gehen zu lassen?«
»Ich …« Ich weiß es nicht. Ich habe nicht sehr viel darüber nachgedacht, aber das sage ich ihm nicht. »Es ist nur ein Ort.«
»Nur ein Ort«, knurrt der alte Mann. »Und das hier ist nur eine Papiertüte.« Er lacht und es jagt mir eine eiskalte Welle über den Rücken.
»Ich …«
»… verstehe nicht? Doch, das tust du.«
»Ich will einfach nur aufwachen und die Sonne aufgehen sehen. Ich will diesen Ort einfach nur hinter mir lassen. Zumindest das habe ich verdient.«
»Du willst aufwachen?«
»Ja. Aber ich schlafe ja gar nicht. Ich muss erst einschlafen.«
Der alte Mann grinst. Ich weiß das, obwohl ich ihn nicht sehen kann. Ich kann sein durchtriebenes Grinsen förmlich spüren. Plötzlich liege ich wieder in meinem Bett. Ich setze mich auf und sehe mich um. Ich bin ganz allein und die Dunkelheit ist wie eine Klaue, die meine Zelle fest im Griff hat und nie wieder loslassen will.
Ich spüre, wie mir Tränen über die Wangen rinnen, aber ich werde nicht aufstehen und auf die Uhr sehen. Ich kann nicht, ich lasse nicht zu, dass meine geistige Gesundheit weiter mit Füßen getreten und geschlagen wird.
Warum nimmt diese Nacht kein Ende? Ich weine innerlich und ich stehe aus meinem Bett auf und trete ans Fenster, schaue hinauf, spüre den Hauch einer Brise. Durch die Gitterstäbe sehe ich die Sterne und dann zieht eine Wolke vorbei, die aussieht wie eine tote, nackte Frau. Ich bleibe lange Zeit so stehen und denke daran zurück, wie ich auch in meinen dunkelsten Stunden oft hier stand und träumte, die Brise sei der Atem einer kurvigen Blondine oder einer geheimnisvollen Brünetten. Ich konnte Pfirsiche, Vanille oder Erdbeeren riechen und stellte mir vor, wie sich Lippen auf meine pressten. Ich stellte mir nie ein Gesicht vor, der Gedanke allein war gut genug und er trug mich aus diesem Kerker in eine Welt voller Möglichkeiten, in der die Autos schnell und die Frauen reif für die Ernte waren. Meine Welt, eine Welt …
»… die nicht existiert«, sagt der alte Mann.
Meine Visionen zerplatzen und ich wirbele herum, stoße einen kurzen Schrei aus. »Ich dachte, du wärst verschwunden.«
Der alte Mann kauert nun in einer Ecke, die Papiertüte neben sich auf dem Boden, während der säuerliche Geruch von Erbrochenem die Melange der anderen beißenden Dämpfe auf unerfreuliche Weise ergänzt.
»Du verarschst dich selbst nur und das weißt du auch«, krächzt der alte Mann, dessen Gesicht noch immer im Schatten verborgen liegt. »Du trägst den Dämon noch immer in dir und das wird auch immer so bleiben. Ich muss es schließlich wissen.«
»Nein … ich …«, stottere ich, blicke zu den Gitterstäben und frage mich, ob sie bereits geöffnet sind, ob ich vielleicht schon gehen darf. Aber nein, die Stäbe sind noch immer an ihrem Platz und es ist immer noch Nacht. Aber warum nur? Warum will der Morgen nicht kommen?
»Bist du mein Vater?«, frage ich.
Der alte Mann nickt. »Ich will dir eine Frage stellen: Was wartet dort draußen auf dich?«
»Alles Mögliche«, antworte ich und die Wand fühlt sich ganz kalt an meinem Rücken an.
Mein Vater gluckst. »Zum Beispiel?«
»Na ja …«
»Du hast keine Frau und keine Kinder. Deine Mutter will mit ihrem Vergewaltiger-Sohn nichts mehr zu tun haben.«
»Leck mich«, spucke ich aus, aber die Spucke enthält kein Gift.
»Aber hier, nun, hier hast du alles, was du brauchst …«
»Ich hasse es hier«, unterbreche ich ihn. Es ist die Wahrheit. Das tue ich wirklich, ich hasse die Routine, die erdrückende Langeweile. Ich hasse den Beton und das Metall und das Plastik und die Nummern. Der Geruch von Blut, Sperma und Schweiß verursacht mir Kopfschmerzen und führt dazu, dass sich mir die ganze Wirbelsäule zusammenzieht. »Ich will einfach nur, dass der Morgen kommt«, sage ich zu meinem längst toten Vater. »Das ist alles, ich warte nur darauf, dass die Sonne scheint, und dann verschwinde ich von hier.«
»Na, wenn das so ist, dann ist es ja ganz einfach.«
Ich schlucke, schmecke Hoffnung. »Was meinst du damit?«
Der alte Mann greift nach der in Papier eingewickelten Flasche und hebt einen seiner zerlumpten Arme. Er öffnet seine Finger und die Flasche fällt zu Boden. Mit einem Geräusch, das sich anhört wie das Schreien eines Babys, zerschmettert die Flasche auf dem kalten Boden und versprüht Rotwein und Glas.
Ich warte darauf, dass eine Wache kommt, aber das geschieht nicht.
Ich drehe mich wieder zu meinem lieben Vater um. Die einzige Erinnerung, die mir von ihm geblieben ist, besteht aus dem Geruch von Alkohol und der Größe und Wucht seiner Faust.
Daraus und aus jenem Abend, an dem ich ihn in seinem Schuppen gefunden habe, wo er auf seinem Stuhl hing und irgendetwas, das aussah wie Rotwein, aus seinen Handgelenken quoll und den Teppich unter ihm verfärbte.
»Da ist dein Weg nach draußen«, sagt mein Vater und nickt mit seinem von Schatten umgebenen Kopf in Richtung Boden.
Ich blicke stirnrunzelnd auf den kleinen Teich aus Wein und Glas. »Da ist nichts.«
»Ich weiß, du hörst mir ja nicht zu. Aber gut, wenn du willst, dass der Morgen kommt, dann sieh genauer hin.«
Ja, ich will, dass der Morgen kommt, und ich glaube, das sage ich ihm auch. Denn das bedeutet, dass ich frei bin, dass ich dieses Gebilde der Folter verlassen und in die freie Welt hinaustreten kann.
Aber die Nacht …
»… gehört allein dir, wenn du sie willst. Wenn du wirklich willst, dass dieser Schmerz verschwindet, dann musst du nur durch dieses Loch klettern, in den Fluss hinunterspringen und dich davontreiben lassen.«
Ich schlucke. Schmecke Blut. »Ich sehe kein Loch.«
»Doch, tust du. Es ist da. Es war immer da. Die Menschen verstehen einfach nicht, dass ihnen alles gehören kann, wenn sie nur ganz genau hinschauen. Nimm beispielsweise diese Papiertüte. Ich habe hingesehen und sie gefunden. Jetzt ist sie immer bei mir, genau, wie dieser Ort immer bei dir sein wird.«
»Aber ich werde diesen Ort verlassen.«
»Wie du willst.«
Und dann sehe ich das Loch. Es ist gerade groß genug, dass ich hindurchschlüpfen kann. Es ist, als sei der verschüttete Wein irgendeine Säure und habe sich direkt durch den Beton gefressen. »Wohin führt es?«, frage ich.
»Spring hinunter und finde es heraus.«
Ich gehe auf die Knie. Ich höre das Glas knirschen, spüre Stiche an meinen Knien und Händen, aber sie stören mich nicht. Ich blicke in das Loch hinunter. Ich sehe einen Fluss, der keine zwei Meter vor meinem Gesicht vorbeirauscht. Einen tiefroten Fluss mit cremeweißen Strähnen, so als habe jemand Milchfäden in eine Tube Ketchup geschüttet. Er riecht ekelhaft süß. Ein bisschen wie Wein.
»Spring einfach in den Fluss und lass dich davontreiben, dann wird schon bald morgen sein und du wirst …«
»Frei sein«, beende ich den Satz. Ich frage mich, ob schon andere Gefangene auf seinen roten Fluten in die Freiheit geschwommen sind.
»Mach schon«, drängt mein Vater. »Du kannst es. Es ist dein Schicksal. Wenn du es nicht tust, wird die Nacht niemals enden.«
Ich nicke. Ich muss mich von meinem Vater verabschieden und mich bei ihm bedanken, aber als ich mich umdrehe, sitzt er nicht mehr da.
Aber sein Geruch füllt noch immer meinen Kopf, während ich am Rand des Lochs sitze und mich dann langsam hinuntergleiten lasse.
Ich klammere mich am Rand des Lochs fest, bis meine Arme ganz ausgestreckt sind und ich bis zu den Knien im Fluss stehe. Ich werfe einen letzten Blick auf den kleinen Teil meiner Welt, den ich noch sehen kann, meiner Welt der letzten 15 Jahre, und dann lasse ich los.
Ich falle in den Fluss, schlucke einen Mundvoll salziges Wasser, als mein Kopf untertaucht. Nachdem ich zurück an die Oberfläche komme, sehe ich, wie über mir Rohre vorbeisausen.
Anfangs habe ich Angst. Die Strömung des Flusses ist schnell und ich weiß nicht, wohin sie mich bringt. Das Wasser ist warm, nicht kühl und erfrischend, wie ich es erwartet hatte. Und es ist klebrig.
Der Fluss schlängelt sich durch den düsteren Korridor aus Stahl und Beton.
Schon bald wird meine Umgebung heller. Ich beginne mich zu entspannen. Ich bringe meine Beine an die Oberfläche, lege mich auf den Rücken und lasse mich von dem Strom mitreißen.
Der Schatten der Nacht hebt sich und gibt das Sonnenlicht frei. Es ist so hell, dass es wehtut. Endlich ist die Nacht vorbei und ich lächele. Ich fange mit meinen hohlen Händen ein wenig Flusswasser ein und führe sie an mein Gesicht. Rot rinnt an meinen Armen hinunter wie winzige Flüsse. Ich beginne zu lachen.
Ich frage mich, ob die Wachen das Loch bemerken werden, wenn sie in meine Zelle kommen, um mir zu sagen, dass es »Zeit ist, aufzustehen, Schwachkopf«? Oder wird es sich wieder geschlossen haben, werden nur noch das zerbrochene Glas und der verschüttete Wein zu sehen sein?
Eines ist sicher: Ich weiß, dass die Wachen, wenn der Morgen kommt, meine Welt öffnen, dastehen und eine leere Zelle sehen werden – und sie werden sich am Kopf kratzen und sich wundern, wo die Weinflasche herkommt. »Warum zur Hölle sollte er fliehen? Er wäre doch heute in die Freiheit entlassen worden«, höre ich sie sagen.
Sie werden den wahren Grund nie erfahren. Dass ich es tun musste, weil die Nacht sonst nie ein Ende genommen hätte.
Und dann werden sie den Kopf schütteln, sich umdrehen und wieder gehen, während der Geruch von Pisse und Wein durch die Luft wabert. Sie werden mich in Frieden lassen, damit ich in Ruhe das Licht des Morgens genießen kann.
NOTIZEN ZUR ENTSTEHUNG:
Diese Geschichte wurde eines Nachts aus Frustration geboren, weil ich einfach nicht einschlafen konnte. Normalerweise habe ich überhaupt keine Einschlafprobleme, aber in dieser speziellen Nacht lag ich einfach da, in meinem Bett, starrte in die Dunkelheit und fand keinen Zugang ins Reich der Träume. Wie zu erwarten, wanderten meine Gedanken hierhin und dorthin, und ich fing an, mich zu fragen, wie es wohl wäre, wenn ich nie wieder würde einschlafen können. Was, wenn die Zeit stillstehen würde und die Nacht sich weigerte, zu enden? Was, wenn der Schlaf das Signal für die Uhr wäre, weiterzuticken, für die Nacht zu enden und für den Morgen zu kommen? Und was, wenn die Welt für immer stillstand, weil ich nicht einschlafen konnte (das sind die seltsamen Dinge, über die wir Schriftsteller nachdenken, wenn wir gegen die Schlaflosigkeit ankämpfen)?
Glücklicherweise bin ich irgendwann eingeschlafen, die Welt drehte sich weiter und am nächsten Morgen setzte ich mich hin und begann, diese Geschichte zu schreiben, die von der Verzweiflung eines Menschen handelt, der sich nichts sehnlicher wünscht, als dass die Nacht zu Ende geht und der Morgen kommt. Wenn der Morgen kommt ist eigentlich ein Gedicht in Prosaform – ich betrachte es als eine Art Hybrid – und auch wenn ich nicht oft Gedichte schreibe, schien dieser Stil sehr gut zu der Geschichte zu passen.