Junkies
(Junkies)
Als das Treffen zu Ende war, steuerte ich direkt auf den Tisch mit dem Essen und den Getränken zu. Obwohl ich keinen rechten Appetit auf die bereitliegende Auswahl an Keksen und Donuts hatte, grummelte mein Magen, also griff ich widerwillig nach einem Haferkeks. Während ich abbiss, bildete sich allmählich eine Menschentraube um mich herum. Ein tiefes Murmeln umschwirrte meinen Kopf, als sich die bunt zusammengewürfelte Gruppe von Fremden banalem Small Talk hingab. Die meisten schienen erleichtert über den Kurswechsel zu sein, nachdem sie vorher den anderen Süchtigen eine Stunde lang per Seelenstriptease ihr Innerstes nach außen gekehrt hatten.
Jemand schob sich neben mich und schnappte sich einen Styroporbecher von dem Stapel neben der großen Dose mit löslichem Kaffee. »Dein erstes Mal, was?«
Ich hatte das Stückchen des geschmacksneutralen Kekses hinuntergeschluckt und misslaunig ein weiteres Mal abgebissen, bevor mir bewusst wurde, dass die Person mit mir sprach. Ich drehte mich halb um und sah den Mann an, der sich an meine Seite gesellt hatte. Er war größer als ich, aber jünger, etwa zehn Jahre. Der junge Mann war abgemagert, schien nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen – er sah aus, als habe ihm jemand einen Staubsauger in den Mund gesteckt, ihn angeschaltet und sämtliche Luft aus seinem Körper gesaugt. Seine furchtbar eckigen Wangenknochen traten wie zwei gemeißelte »L« deutlich hervor. Auf jeden Fall ein Junkie.
»Ja«, murmelte ich mit vollem Mund. Ich schluckte hastig und musste mir alle Mühe geben, um nicht zu würgen.
»Du bist also ein Esser«, fuhr der Junkie fort und löffelte das braune Granulat in seinen Becher. Er füllte ihn mit heißem Wasser und trank einen gierigen Schluck von seinem Instantkaffee, ohne Milch oder Zucker hinzuzufügen. »Ich war mal mit einer Esserin befreundet. Üble Angewohnheit. Guckst du dir immer noch Filme an?«
Ich nickte.
»Dachte ich mir. Ich hab mir schon gedacht, dass es auf deine Sucht zurückzuführen ist, dass du bei dieser Hitze einen Pulli trägst. Welchen Film zeigen sie gerade?«
»Einen alten ausländischen Schwarz-Weiß-Streifen«, antwortete ich und kratzte mich am Arm. Durch die Wolle des Pullovers juckte meine Haut wie verrückt. »Ich glaube, es ist Kurosawa – Die sieben Samurai, wie’s aussieht.«
Frustriert warf ich den halb gegessenen Keks auf den Tisch und versuchte mein Glück mit einem Donut. Zuerst schmeckte ich den Zucker, dann den frittierten Teig und zuletzt die Marmelade, die wie aus einem aufgeschlitzten, blutenden Herz herausquoll. Eigentlich hätte er ganz köstlich schmecken müssen, aber stattdessen drehte sich mir von der Geschmacksmischung der Magen um. Nachdem ich monatelang nichts als meine spezielle Diätnahrung zu mir genommen hatte, schmeckte richtiges Essen, auch Süßigkeiten, für mich inzwischen wie feuchte, schimmelige Pappe. Ich sah mich nach einem Mülleimer um, in dem ich den faulen Donut entsorgen konnte.
»Kannst das richtige Zeug nicht essen, hm?«
Der Junkie folgte mir.
Ich stöhnte innerlich. Mir war nicht nach Reden – das hatte ich heute Abend schon genug getan. Ich wollte einfach nur probieren, meinen Hunger mit dem kostenlosen Essen und Trinken zu stillen, und dann wieder verschwinden – zurück in meine Wohnung und zu den Gelüsten, die mich zwangsläufig überkommen würden, sobald ich in meinem Bett lag und den verzweifelten Versuch unternahm, einzuschlafen.
»Ich schätze nicht«, erwiderte ich, drehte mich um und versuchte zu lächeln, obwohl ich wusste, dass es wie eine verzerrte Grimasse aussehen musste.
Der Junkie hielt nun zwei Styroporbecher in den Händen. Er reichte mir einen. Er war beinahe randvoll mit dampfender schwarzer Flüssigkeit.
»Meine Freundin, die Esserin, mochte Kaffee. Es war die einzige richtige Nahrung, die sie bei sich behalten konnte.«
»Mochte? Willst du damit sagen, dass sie die Abhängigkeit am Ende besiegt hat?«
Der Junkie schüttelte den Kopf. »Ich fürchte nein«, antwortete er. »Sie ist vor sechs Monaten gestorben. Hat sich mit Hitchcock-DVDs den Rest gegeben. Sie hatte ’ne Schwäche für Hitchcock.«
»Die sind auch wirklich lecker«, erwiderte ich, nahm einen Schluck Kaffee und hoffte, damit die Erinnerungen an all die Nächte wegzuspülen, in denen ich Hitchs köstliche Periode der späten Fünfziger zum Abendessen genossen hatte – die Filme schmeckten nach Kalbfleisch und Bratkartoffeln – und an all die Nachmittage, an denen ich mir seine frühen britischen Filme hatte schmecken lassen: ein eher herzhafter Geschmack nach Eintopf und Bier.
»Ja, Sara mochte ältere Filme besonders. Sie fand, die hätten einen feineren Geschmack – Casablanca war ihr Lieblingsfilm. Gott, sie muss in der Zeit, in der ich sie kannte, mindestens 30 Casablanca-DVDs gegessen haben. Sie hatte immer einen Vorrat davon im Hinterzimmer der MovieTime-Filiale, in der sie gearbeitet hat, herumliegen –, sie hat jahrelang die Nachtschicht im Laden in Bentleigh gemanagt und an den meisten Wochenenden spätnachts noch Partys veranstaltet. So habe ich sie auch kennengelernt – weil sie Angst hatte, dass ihr Freund von ihrer Esssucht erfährt. Mich hat das Essen ja nie interessiert. Ich bin eher … na ja, ich schätze, man könnte sagen, ich habe keine Angst vor Nadeln.«
Ich nickte und trank einen weiteren Schluck von meinem Kaffee. Dieser Typ hatte recht – der Kaffee löste keinen Würgereflex bei mir aus.
»Ich bin jetzt seit fast einem Monat clean. Der härteste verdammte Monat meines Lebens. Ich vermisse es immer noch. Gott, wie ich es vermisse. Der schwarze Film, der wie Tinte durch meine Venen strömt …« Der Junkie seufzte und gönnte sich einen üppigen Schluck Koffein. »Alte VHS-Videos waren die Droge meiner Wahl, besonders die Horror-und Actionfilme aus den Achtzigern. Die hatten dieses gewisse Etwas. Die haben mir einen Kick gegeben, das glaubst du nicht.« Der Junkie lächelte und ich hatte Angst, seine Wangenknochen würden seine Haut aufschlitzen.
»Hast du’s je mit Filmrollen versucht? Ich hab gehört, das soll der ultimative Kick sein.«
Der Junkie nickte. »Ein paarmal. Ich konnte mir Filmrollen nicht leisten, deshalb bin ich nur bei sehr seltenen Gelegenheiten in den Genuss dieses goldenen Rausches gekommen, wenn ich es schaffte, eine Einladung zur exklusiven Party irgendeines Filmproduzenten zu ergattern.«
Ich hatte schon von diesen Partys gehört. Ich war selbst nie auf einer gewesen, aber anscheinend bekamen die Gäste dort die allerbesten Filme serviert: die saubersten, ursprünglichsten Kopien von Fellini, Buñuel und Scorsese, teure DVD-Importe aus Japan und Italien, seltene Laserdiscs und schwer zu findende Videos – VHS und Beta gleichermaßen. Ja, diese exklusiven Partys waren angeblich der Traum eines jeden Kino-Junkies. Allein der Gedanke daran, eine dieser teuren asiatischen DVD-Boxen von Grindhouse zu verschlingen, ließ mein Herz schneller schlagen und in meinem Kopf drehte sich alles.
»Ich sag dir, Film schlägt alles. Ich meine, Videobänder sind gut. Sie sind die Droge der Wahl für die Arbeiterklasse. Aber Zellophan … Mann, wenn das erst mal runtergekocht ist, sieht es aus wie samtweiche Schokolade – nichts zu sehen von der Grobkörnigkeit der Videobänder. Aber ich hab das alles aufgegeben. Es hat mein ganzes Leben bestimmt. Ich musste aufhören. Sonst hätte es mich umgebracht.«
Ich wusste, wie sich dieser Junkie fühlte.
Ich hatte in den vergangenen vier Monaten Tag und Nacht, zum Frühstück, Mittag-und Abendessen, nur Videobänder und DVDs gefuttert. Das forderte seinen Tribut, denn ich nahm stark zu. Videobänder und DVDs haben erstaunlich viele Kalorien. Auf die Toilette konnte ich im besten Fall nur noch unregelmäßig gehen – und was dann aus mir herauskam, war erschreckend: eine seltsame Mischung aus metallischem Schlamm und klumpigem Stuhl.
Aber ich konnte einfach nicht damit aufhören.
Von jenem Moment an, als ich meine erste DVD gekostet hatte – aus Versehen, während ich versuchte, einige Flecken von meiner Kopie von Der Pate mit dem Zeigefinger wegzuwischen –, war ich süchtig danach. Anstatt nach Nichts oder einer vage metallischen Note schmeckte die DVD wie ein köstliches Rinderfilet mit einer Soße aus Rotwein und Champignonrahm. Und als ich ein Stück abbrach und darauf herumkaute, schmeckte sie sogar noch besser. Schon kurze Zeit später plünderte ich meine Sammlung und verspeiste an nur zwei Tagen meine komplette John-Waters-Box – billig, aber lecker, wie ein Cheeseburger oder Pizza. Meine Chaplin-Filme verschlang ich in einer wahren Orgie binnen weniger Stunden – wie warmen Apfelkuchen –, während ich mir meine John-Hughes-Sammlung als Mitternachtssnack schmecken ließ. Die DVDs besaßen ein überraschend italienisches Aroma.
Außerdem fing ich an, Dutzende meiner alten Videokassetten auseinanderzunehmen und die Bänder zu verspeisen. Auch wenn sie mich nicht ganz so befriedigten wie die DVDs – sie verfügten einfach nicht über denselben reinen Geschmack und schmeckten hin und wieder ein wenig abgestanden –, hielten sie doch entschieden länger vor und boten eine ganz eigene Geschmacksnote: erdig und robust wie selbst gekochte Erbsensuppe oder Frikadellen. Ein paar von ihnen brachten sogar einen Unterton von Popcorn mit, hauptsächlich die Actionstreifen aus den 80ern, beispielsweise Running Man oder Die City-Cobra.
Ich konnte nicht genug davon kriegen und musste unbedingt stapelweise Filme konsumieren.
Irgendwann stieß ich auf ein Internetforum mit anderen Filmsüchtigen und erfuhr, dass die Sucht mit dem Essen noch längst nicht zu Ende war. Dort gab es Leute, die sich Film und Videobänder spritzten, Bänder rauchten, zerkrümelte DVDs und Laserdiscs schnupften, Unmengen verflüssigter Videobänder tranken und nach ihren Krügen mit Video-Bier auch noch Schnapsgläser mit flüssigem Film leerten. Und es gab besonders wilde Partylöwen, die sich Pillen einwarfen, die aus einer Mischung von allem bestanden: Das waren vor allem die Leute, die sich im Kino nur die größten Hollywood-Blockbuster anschauten – keine echten Cineasten. Im ganzen Land veranstalteten die Geschäftsführer der Videotheken heimliche Filmpartys, auf denen Süchtige sich treffen und in einem Raum voller Drogenutensilien Filme anschauen und ihren diversen Lastern frönen konnten. Das waren die schäbigeren Versionen der exklusiven Feten der Studiobosse.
Es entstand eine populäre, hin und wieder sehr leidenschaftliche Untergrundszene, aber für mich wurde schließlich alles zu viel. Vor ein paar Wochen stellte ich fest, dass meine Haut allmählich eine matschbraune Färbung annahm, so als habe jemand meinen ganzen Körper mit Dreck eingerieben. Kurz darauf fühlte sie sich dann irgendwie seltsam an, wie Plastik, aber trotzdem biegsam – ganz ähnlich wie Videobänder. Und dann liefen plötzlich Bilder vor meinen Augen ab, so als sei mein Gehirn an einen Filmprojektor angeschlossen – ein konstanter Strom von Bildern, die mitten im Raum zu hängen schienen und es schwierig machten, zu unterscheiden, was sich in der wirklichen Welt abspielte und was in meinem Kopf.
Aber am furchteinflößendsten von allem war der Schmerz in meiner Brust, den ich am Tag zuvor zum ersten Mal verspürt hatte. Ich hatte fast 40 Kilogramm zugenommen, seit ich angefangen hatte, DVDs und Videobänder zu essen. Es schien, als habe mein Körper nun endgültig genug davon. Als ich zum Mittagessen Der Unbeugsame verschlang, den Geschmack von Eiern und Bier auf meinen Lippen, hatte ich mit einem Mal das Gefühl, nicht mehr genügend Luft zu bekommen. Mein Herz schlug Purzelbäume und in meiner Brust pulsierte ein heftiger Schmerz.
Völlig panisch warf ich das restliche Stück der DVD in den Mülleimer und schwor mir, nie wieder Filme zu mir zu nehmen. Ich sah mich online nach einer Selbsthilfegruppe um und fand eine ganz in meiner Nähe. An diesem Abend war ich zum ersten Mal zu einem Treffen für trockene Filmoholiker gekommen. Während ich hier so stand und meinen Kaffee schlürfte, beschlich mich das Gefühl, dass es auch das letzte Mal sein würde.
Ich warf den leeren Becher in den Mülleimer und seufzte beim Gedanken an die Aufgabe, die mich zu Hause erwartete. Ich hatte damit angefangen, meine riesige DVD-und Videosammlung wegzuwerfen, aber es war immer noch gut die Hälfte davon übrig. Alles in allem handelte es sich um nahezu 500 DVDs und Videos.
Beim Gedanken an all das Essen lief mir das Wasser im Munde zusammen.
»Ich sollte dann besser mal nach Hause gehen«, wandte ich mich an den Junkie. »Ich muss noch den Rest von meinem Vorrat wegschmeißen.«
Der Junkie lächelte, aber es war kein schöner Anblick. »Ich kenne diesen Schmerz. Ich hab mich immer noch nicht ganz davon erholt, dass ich meinen ganzen Stoff wegwerfen musste. Ich, äh, nehm’ nicht an, dass du Hilfe brauchst?«
Mein erster Instinkt war, Nein zu sagen. Ich kannte den Typen doch kaum. Außerdem wollte ich nicht, dass irgendjemand sah, wie ich heulte, wenn ich meine geliebte Sammlung in die Tonne donnerte.
»Würde die ganze Sache entschieden schneller machen. Und einfacher. Ich hab das Gleiche durchgemacht. Ich weiß, wie schwer das ist.«
Ich dachte über sein Angebot nach und beschloss, dass es tatsächlich gut wäre, jemanden dabei zu haben, der meine Sucht verstand. »Sicher, warum eigentlich nicht?«, erwiderte ich. »Danke.«
»Kein Ding. Wohnst du weit weg?«
»Nur zehn Minuten Fahrt.«
»Super. Ich fahr dir nach.«
Während wir auf die Tür zugingen, schaute ich mich um und stellte fest, dass der Saal inzwischen beinahe leer war. Die meisten anderen Esser, Junkies, Alkoholiker und Raucher waren bereits gegangen. In dem leeren Gruppenheim der Pfadfinder hallten unsere Schritte wie in einer hohlen Muschel wider.
Wir traten in die warme Nachtluft hinaus. Samurais ritten auf Pferden durch einen dichten Vorhang aus Regen an uns vorbei.
»Du hast nicht zufällig Wild at Heart auf Video?«, fragte der Junkie, kramte ein Feuerzeug hervor und knipste es an.
»Zufällig habe ich den tatsächlich.«
»Ich liebe diesen Film. Bei dem fängt mein Blut richtig an zu kochen.«
Ich nickte. »Der ist wirklich gut. Aber ich ziehe Black Velvet vor. Der hat einfach diesen … ungewöhnlichen Geschmack. Beinahe französisch.«
Der Junkie drehte sich zu mir um und grinste.
Ich grinste zurück.
Ja, es war gut, einen anderen Filmverrückten an meiner Seite zu haben.
NOTIZEN ZUR ENTSTEHUNG:
Es wird viele von Ihnen nicht überraschen, aber ich bin ein riesengroßer Filmfan. Als ich daher gefragt wurde, ob ich eine Erzählung zu der wunderbaren Website Horror Drive-In beisteuern wolle, wusste ich sofort, dass ich etwas schreiben wollte, das mit Filmen zu tun hatte. Schließlich ist die Seite ja vor allem ein Ort, an dem sich Filmverrückte über alle möglichen Themen austauschen, von Fellini bis hin zu John Waters (wir sprechen aber nicht nur über Filme, sondern auch über Bücher und Musik, doch Filme – besonders die aus der Horror-und Exploitation-Ecke – stehen im Mittelpunkt unserer Diskussionen). Mir kam schon bald die Idee einer Filmbesessenheit von Menschen wie mir, die es nicht nur lieben, sich die Streifen im Kino anzusehen, sondern sie auch sammeln. Ich wusste, dass den Leuten auf Horror Drive-In eine Geschichte über Filmbesessene gefallen würde – da viele von ihnen ebenso verrückt nach Filmen und seltenen Editionen sind wie ich. Deshalb habe ich einfach die Idee von Filmen als Droge aufgegriffen und mich von ihr mitreißen lassen.