The Song Remains the Same

(The Song Remains the Same)

Dr. Eric Stelig hatte in den vielen Jahren als Leiter des Staatsgefängnisses für geisteskranke Straftäter in Baltimore noch nie zuvor etwas Derartiges zu Gesicht bekommen. Er stand am Rand des Aufenthaltsraums von Station C, die liebevoll als »Psycho-Station« bezeichnet wurde, und schnappte angewidert nach Luft. In seinem Leben hatte er zwar schon ein paar ziemlich abstoßende Dinge gesehen, aber das hier war mit Abstand das Schlimmste. Nicht, weil es ekelhafter gewesen wäre als alles zuvor, denn das war es nicht. Nein, dies hier war aufgrund seiner Bedeutung besonders furchtbar.

»Wie konnte das nur passieren, verdammt noch mal?«, murmelte Stelig.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Adams mit einem langen Seufzen.

Stelig drehte sich um und warf einen Blick auf den Oberarzt. Der kleine, allmählich kahl werdende Mann schwitzte und sah aus, als habe er Schmerzen. »Warum wurde das nicht verhindert? Mein Gott, was kommt denn als Nächstes? Ein verfluchter Ausbruch?«

»Es ging alles so schnell, Sir. Wir konnten es nicht aufhalten.«

»Die Antwort reicht mir nicht«, knurrte Stelig. »Was zur Hölle habt ihr Idioten bloß getrieben, als das passiert ist?«

Adams stotterte irgendetwas Unverständliches.

»Wahrscheinlich die Schwestern gevögelt oder davon geträumt, die Schwestern zu vögeln.« Stelig schüttelte den Kopf und blickte wieder auf das Blutbad. »Wie zur Hölle sollen wir das bitte vertuschen?«

Sie konnten den Tod von einer, vielleicht auch zwei Personen vertuschen – das hatte er in der Vergangenheit schon oft genug getan –, aber gleich 14 Leichen? Wie zum Teufel sollten sie den Tod von elf Geisteskranken und drei Schwestern vertuschen?

Stelig schaute sich in dem riesigen Raum um, der von oben bis unten mit Blut und Kot beschmiert war, und sah sich die 14 Toten an. Jedem Einzelnen von ihnen war die Zunge entweder abgebissen oder komplett aus dem Mund gerissen worden. Er erschauderte.

Wie kann ein einziger Mensch nur so etwas tun?, fragte er sich.

»Wo ist Warren jetzt?«, wandte sich Stelig an Adams.

»Auf der Krankenstation.«

»Was? Warum habt ihr ihn nicht eingesperrt?«

»Wir haben ihn da in der Ecke gefunden.« Adams deutete auf die linke hintere Ecke des Raumes. »Er lag in Embryostellung da, hat geweint und irgendwas vor sich hin gemurmelt. Nur unverständliches Kauderwelsch.«

Stelig schnaubte. »Dann ist der verfluchte Psychopath jetzt eben komplett durchgedreht. Hier sind schließlich alle durchgedreht. Warum ist er auf der Krankenstation, verdammt noch mal?«

»Weil seine beiden Trommelfelle durchbohrt sind.«

Stelig stöhnte. »Mein Gott. Hat er sich das selbst angetan?«

Adams zuckte mit den Schultern. »Sieht ganz so aus. Wir haben ein Plastikmesser neben ihm gefunden. Scheiße, wissen Sie, wie fest er hätte zustoßen müssen, um …«

»Dann ist Warren jetzt also taub?«, schnitt Stelig ihm das Wort ab.

»Äh, ja. Scheint so.«

»Aber er kann noch sprechen, oder?«

»Wenn Sie denn Unsinn, der aus seinem Mund kommt, als Sprechen bezeichnen wollen, dann ja. Er kann noch sprechen.«

Stelig wandte sich von dem Massaker ab. Seine Augen waren dankbar für die neue Aussicht. »Lassen Sie uns gehen. Vielleicht bekomme ich ja doch ein paar Antworten aus ihm heraus. Scheiße, ich will wissen, warum er das getan hat. Warum er vielleicht im Alleingang meine verdammte Karriere zerstört hat.«

Davor …

Der Mann sitzt in der Ecke, schaut ins Leere und summt leise. Er tut den ganzen Tag nichts anderes, als in der Ecke zu sitzen und zu summen.

Er spricht nicht mit den anderen, aber nicht, weil er sie hasst, sondern weil er dafür seine glorreiche Hymne unterbrechen müsste.

Selbst jetzt, als der schwarze Mann mit dem komischen, haarigen Ding um ihn herumwischt, hört er nicht auf zu summen. Wie ein Kolibri, so nennt ihn der schwarze Mann.

»Hey, Kolibri. Wie geht’s dir heute?«

Der Mann lächelt flüchtig, unterbricht sein Lied aber keinen Augenblick lang, lässt nicht einen einzigen Ton aus. Er darf keinen Ton auslassen, sonst verliert er seine innere Ruhe.

Der schwarze Mann, der jeden Tag dieselbe blaue Uniform trägt, wischt weiter mit dem komischen, haarigen Ding vor und zurück, hin und her. »Wie’s mir geht, willst du wissen? Danke, ich kann mich nicht beschweren. Die Pumpe läuft noch und das Gehalt kommt pünktlich. Und ich hab so wunderbare Freunde wie dich, die mir Gesellschaft leisten.« Der schwarze Mann kichert.

Er starrt weiter ins Nichts und summt. Er mag den schwarzen Mann. Der schwarze Mann mag sein Summen. Im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten. Aber das behält er, genau wie ein paar weitere Dinge, für sich. Er verrät seine Geheimnisse nie jemandem.

»Sag mal, summst du auch mal was anderes, Kolibri?«, fragt der schwarze Mann. »Ach, egal. Mich stört das nicht. Scheiße, nein, mich stört das überhaupt nicht. Das gibt einem Trost, nicht wahr, Kolibri? Vertrautheit. Bei mir ist es auch so: Je älter ich werde, desto wichtiger wird das Tröstliche. Seit meine Frau gestorben ist und die Kinder erwachsen sind und ihr eigenes Leben führen, ist Trost alles, was ich noch habe. Ist es nicht so, Kolibri?«

Der Mann lächelt. Der schwarze Mann erzählt von seiner verstorbenen Frau und von seinen Kindern, die jetzt ihr eigenes Leben führen. Jeden Tag erzählt er dasselbe. Und jeden Tag unterbricht er das Wischen mit dem komischen, haarigen Ding, während er erzählt. Aber dem Mann ist das egal. Er schaut einfach weiter ins Nichts und summt.

Und hofft, dass der böse Mann ihn hört.

Er hat seit einer ganzen Weile keinen Piep mehr von dem bösen Mann gehört. Vielleicht bestraften sie ihn ja immer noch – aber vielleicht schlief er auch nur. Er weiß jedoch, dass ihn der böse Mann selbst im Schlaf hören kann. Und das bringt ihn zum Lächeln. Sein Geheimnis.

»Ja, mein Leben ist gar nicht mal so übel, Kolibri. Ich hab diesen Job. Scheiße, er ist zwar nicht besonders gut bezahlt, und ein paar der Sachen, die ich so aufwischen muss, würden dich bestimmt richtig anwidern. Da gibt’s ein paar echt üble Stationen. Die Psycho-Station ist am schlimmsten. Ich würde auf mein halbes Gehalt verzichten, wenn ich dafür nur die Station hier putzen müsste. Die Station hier ist nämlich am besten. Sie ist sauber und ruhig – und hier sind ein paar Leute wie du, mit denen ich mich unterhalten kann.«

Der Mann weiß, was als Nächstes kommt. Er hat es schon eine Million Mal gehört. Aber diesen Teil hört er gern. Er macht ihn am glücklichsten.

»Hier ist es ganz anders als auf der Psycho-Station. Scheiße. Mir läuft jedes Mal ’n Schauer über den Rücken, wenn ich da hinmuss. Die ganzen Augen, die mich dort anstarren, und die ganzen teuflischen Hirne, die darüber nachdenken, wie sie sich mich schnappen können. Sie pissen und scheißen und spucken und verteilen ihre Wichse auf dem Boden, nur, um mich zu ärgern. Da bin ich mir ganz sicher. Nur, um mir das Leben zur Hölle zu machen. Ich bin fast 70, Kolibri. Ich hab keine Zeit, mir Sorgen darüber zu machen, ob mich vielleicht irgendein Irrer mit Gott weiß was anfallen und umbringen will.«

Der schwarze Mann hält inne, um Luft zu holen. Er ist fast 70, und er hat nicht mehr so viel Energie wie früher. Nicht mehr so viel wie damals, als der Mann hierherkam und der schwarze Mann noch jung war. Nun ja, jünger als jetzt. Aber er hat das Summen des Mannes schon immer gemocht. Hat ihm nie gesagt, er solle damit aufhören, so wie die Männer in Weiß.

»Aber ich brauch das Geld. Das ist eine Tatsache, Kolibri.«

Der schwarze Mann seufzt, schnappt sich das komische, haarige Ding und fängt wieder an, damit über den Boden zu wischen. »Ich komm trotzdem nicht drüber weg, dass ihr hier oben im selben Haus untergebracht seid wie die verrückten Irren da unten. Scheiße, du bist auch nicht gefährlicher als meine alte Großmutter, Gott sei ihrer Seele gnädig. Und sie war die freundlichste alte Dame der Welt.« Der schwarze Mann schüttelt den Kopf und macht ein komisches, schnalzendes Geräusch mit seinem Mund. »Mach’s gut, Kolibri. Danke fürs Zuhören.«

Der schwarze Mann geht.

Der Kolibri summt weiter.

Der Mann nimmt die Dinge bewusst wahr, die um ihn herum passieren. Sie denken, er sei ein Einfaltspinsel oder so, aber sie wissen gar nichts. Er weiß, dass der große Mann in Weiß es mit einer der Frauen in Weiß treibt – den Frauen, die die komischen Hüte tragen. Und er weiß, dass der große Mann in Weiß einen Ring am Finger trägt, genauso einen Ring, wie der Mann selbst ihn hatte, nur dass seiner jetzt weg ist. Die Männer in Weiß haben ihm den abgenommen, als er hierherkam. Er weiß, dass es der kleine Mann in Weiß mit der sabbernden Frau macht, die den ganzen Tag nur im Bett liegt. Er macht es, wenn es dunkel ist und sonst keine anderen Männer in Weiß da sind. Er weiß auch, dass der böse Mann sein Summen hasst. Das hat er immer getan. Aber diese Dinge hält er geheim. Er ist ein Kolibri. Kolibris sprechen nie, sie summen nur.

Der Mann ist gut darin, Geheimnisse zu bewahren. Das sagen alle. Darum ist er hier. Der dicke Polizist, der ihn angeschrien und geschlagen hat, fand das auch. Der Polizist meinte, er würde einen guten Spion abgeben – er verrät gar nichts, hat er gesagt. Er wollte alles über Julie wissen und Sam und die kleine Debbie. Aber das ging nur den Mann etwas an. Nicht den Polizisten.

Er hat sein Geheimnis auch dem alten Doktor nicht anvertraut. Der alte Doktor mit all seinen Falten und seinen weißen Klamotten. Der Doktor hat ihn nicht geschlagen, aber der Mann hat dem alten Doktor trotzdem nichts über Julie und Sam und die kleine Debbie erzählt. Der Mann weiß alles über Julie und Sam und die kleine Debbie. Natürlich weiß er alles über sie, aber es ist sein Geheimnis, und das bleibt es auch.

Der Mann hört die Stimme des bösen Mannes.

Der Mann ist deswegen ganz aufgeregt – aber er zeigt seine Aufregung nicht. Er sitzt nur weiter in seiner Ecke und summt, aber er dreht seinen Kopf ein wenig nach rechts und schaut das Loch in der Wand an.

Durch dieses Loch hört er den bösen Mann. Die Stimme des bösen Mannes klingt schwach und blechern, so als käme sie aus dem Radio. Der Mann starrt auf das Zickzackmuster der Metallplatte, die das Loch abdeckt, und summt. Leise, sanft, lyrisch. Summt und summt. Er summt das Loch an, stellt sich vor, es wäre Julie, und das Zickzackmuster sei ihr lächelndes Gesicht. Stellt sich vor, ihr gefalle sein Summen und dass sie ihn anlächelt und bittet weiterzumachen. Ja, das stellt der Mann sich gerne vor, wenn er das Loch ansummt – dass seine Frau dort sitzt, dass sie seine Stimme liebt und ihm nicht sagt, er solle aufhören, solle endlich mit dem höllischen Summen aufhören, sonst würde sie ihn verlassen. Diese bösen Gedanken machen ihn wütend, dann verliert er seine innere Ruhe. Deshalb versucht er, diese bösen Gedanken nicht zuzulassen, und stellt sich stattdessen Julie vor, die ihn anlächelt und sein Summen liebt.

»Hör auf! Hör mit dem verfluchten Summen auf!«

Es ist der böse Mann.

»Hör auf! Geh raus aus meinem Kopf!«

Fünf Jahre. Seit fünf Jahren summt der Mann nun schon das Loch an. Seit fünf Jahren sagt der böse Mann, er solle damit aufhören.

Der Mann lächelt. Summt weiter.

Es ist sein größtes und bestes Geheimnis. Niemand kennt es. Nicht mal der böse Mann. Niemand außer ihm. Und vielleicht der schwarze Mann. Der Mann ist sich nicht ganz sicher, aber er glaubt, der schwarze Mann könnte vielleicht davon wissen. Aber das ist egal, weil der schwarze Mann sein Summen mag.

»Ich werd dich verdammt noch mal umbringen! Hör auf! Hör auf!«

Die entfernte Stimme klingt noch wütender als gestern. Und gestern klang sie schon furchtbar wütend. So wütend, dass der böse Mann geknebelt und festgebunden werden musste. Der Mann hatte alles durch das Loch in der Wand gehört. Es hat ihn zum Lächeln gebracht, beinahe zum Lachen. Aber er kann nicht lachen, weil er dafür sein Summen unterbrechen müsste.

Der Mann weiß nicht, warum, aber es scheint, als könne nur der böse Mann auf der bösen Station sein Summen durch das Loch in der Wand hören.

»Ich werd dich einfach ignorieren. Hmmm … hmmm … Siehst du, ich kann auch summen. Hmmm … Halt verdammt noch mal die Klappe!«

Jeden Tag, fünf Jahre lang. Jeden Tag brüllt der böse Mann ihn an und will, dass er aufhört. Natürlich tut der Mann das nie. Immerhin ist der andere ein böser Mensch und böse Menschen bekommen, was sie verdienen. Der schwarze Mann mit dem komischen, haarigen Ding ist kein böser Mann. Der schwarze Mann mag sein Summen. Der schwarze Mann hasst es, auf der bösen Station zu putzen. Und die böse Station ist voll von bösen Männern. Trotzdem ist der Mann überzeugt, dass derjenige, der ihn anschreit, der Schlimmste von allen ist.

Das Seltsame ist, dass der böse Mann gar nicht weiß, wer da eigentlich summt. Er weiß nicht, woher es kommt. An manchen Tagen denkt er, das Summen sei nur in seinem Kopf.

Der Mann hat mit angehört, wie sich der böse Mann in den fünf Jahren verändert hat. Hat gehört, wie der böse Mann immer wütender und verwirrter wurde. Ohne den bösen Mann je zu sehen, hat er diese Veränderung bemerkt. Immer öfter wird der böse Mann festgebunden. Immer öfter fängt der böse Mann an zu schreien und mit Sachen um sich zu werfen. Aber niemand weiß Bescheid. Die Männer in Weiß wissen nicht, was den bösen Mann so wütend macht. Sie hören das Summen des Mannes durch das Loch in der Wand nicht. Sie wissen, dass er summt, aber sie wissen nicht, dass er den bösen Mann ansummt. Wissen nicht, dass er den Kopf des bösen Mannes jeden Tag, jede Stunde, jeden Augenblick mit seinem lyrischen Wahnsinn füllt.

Es ist ein Geheimnis. Zwischen dem bösen Mann und ihm selbst – und vielleicht dem schwarzen Mann, aber der wird ihn nicht verraten.

Der Mann hört den bösen Mann weinen. Ein sanftes Schluchzen dringt durch das Loch in der Wand zu ihm herauf.

»Warum hörst du nicht auf? Bitte, hör auf.«

Aber der Mann summt weiter.

Und der böse Mann weint weiter.

Es macht den Mann glücklich, zufrieden. Fast so glücklich wie damals, als er Julie und Sam und der kleinen Debbie die Kehle aufgeschlitzt hat. Jetzt ist alles still. Der Mann kann das Weinen des bösen Mannes nicht mehr hören. Der Mann summt weiter, aber er horcht auch. Horcht angestrengt darauf, was hinter dem Loch in der Wand und Julies lächelndem Gesicht passiert.

Ein wenig Zeit vergeht, etwa fünf Minuten, bevor der Mann Geräusche hinter dem Loch in der Wand hört. Entfernte Geräusche, aber trotzdem deutlich.

Summend horcht der Mann weiter. Und hört Schreie. Jede Menge Schreie. Aber er hört auch den bösen Mann – der ebenfalls schreit, aber es sind unverständliche Schreie – und das einzige Wort, das er versteht, ist »aufhören«.

Der Mann fragt sich, was dort vor sich geht. So etwas hat er noch nie zuvor gehört, nicht in all den fünf Jahren, in denen er den bösen Mann schon ansummt.

Die Aufregung dauert gut 20 Minuten an. Schwache Schreie, zerbrechende Stühle und Betten, verstummende und wiederkehrende Stimmen, die dann erneut verstummen. All das schwirrt im Kopf des Mannes herum und einen Moment lang verliert er seinen Rhythmus und hört auf zu summen.

Visionen von Julies Körper, zerfetzt und blutig, füllen seinen Kopf. Bilder von Sam, der sich auf dem Boden windet und seine Kehle umklammert, aus der Blut spritzt. Die kleine Debbie, wie sie auf ihrem Bett kauert, die Bettdecke ganz fest um ihr Gesicht gewickelt, aus der ihre angsterfüllten, feuchten Augen herausschauen. Sie alle verschmelzen zu einer grandiosen Spukgestalt aus Blut und Fleisch.

Als die Vision verblasst, hört der Mann, dass auch die ferne Aufregung vorüber ist. Keine Schreie mehr, keine zerberstenden Möbel.

Der Mann spürt, wie seine innere Ruhe allmählich schwindet. Als ihm bewusst wird, dass er aufgehört hat zu summen, fängt er wieder von vorne an und fühlt sich gleich viel besser.

Nun ist alles ruhig – bis auf ein einsames Schluchzen. Der Mann weiß sofort, dass es der böse Mann ist, der weint. Nur dieses Mal ist es ein anderes Weinen – glücklich, erleichtert, nicht das wütende Schluchzen, an das sich der Mann gewöhnt hat.

Vielleicht haben sie den bösen Mann wieder ruhiggestellt.

Doch als der Mann die Schreie hinter dem Loch in der Wand hört – Schreie, die ganz gewiss von den Männern in Weiß stammen, Schreie wie »Oh, mein Gott!« und »Was zur Hölle ist hier passiert?« – weiß er, dass etwas Schreckliches geschehen ist. Der böse Mann hat etwas Schreckliches getan.

Aber das wusste der Mann bereits.

Er hat erwartet, dass es passieren würde. Er war sich nicht sicher, wann es passieren würde, aber er wusste, dass es passieren würde. Er hat darauf gehofft, dafür gebetet, es geplant.

Und das Beste ist – niemand weiß es. Es ist sein kleines Geheimnis.

Seines und das des bösen Mannes.

Der Mann summt weiter und starrt ins Leere.

Danach …

Stelig stand am Rand des Aufenthaltsraums auf Station D, schaute sich um und schüttelte den Kopf. »Wir verschwenden hier nur unsere Zeit. Warren ist verrückt. Er ist ein Lügner.«

»Er mag vielleicht ein kaltblütiger Killer sein, aber er ist kein Lügner. Scheiße, er hat seine Verbrechen doch sofort gestanden, als die Bullen ihn festgenommen haben.«

»Ja, aber einem anderen die Schuld daran zu geben, was er heute getan hat … Mein Gott, was für ein Irrer!«

Adams zuckte mit den Schultern. »Ich verstehe nur nicht, warum er bei so was lügen sollte.«

»Weil er durchgeknallt ist, darum.«

Als Stelig auf die Krankenstation gegangen war, um Warren zu befragen, hatte er den Mann seltsam ruhig vorgefunden. Er war an seinem Bett festgebunden, hatte einen Verband um die Ohren gewickelt und alle Fragen von Stelig zu dem, was geschehen war, bereitwillig beantwortet. Stelig hatte jede Frage auf ein Blatt Papier schreiben müssen, aber Warren, der tatsächlich noch immer sprechen konnte, hatte ihm nur immer wieder dasselbe gesagt – dass es nicht seine Schuld sei. Es sei jemand anders aus der Anstalt gewesen. Der habe es getan. Der habe all diese Menschen umgebracht. Und der sei auch für seine Ohren verantwortlich.

Also hatte Stelig gemeinsam mit Adams das gesamte Krankenhaus abgesucht – jedes einzelne Stockwerk, jede Station, jedes Zimmer. Er konnte nicht sagen, was er zu finden erwartet hatte – vielleicht einen Patienten, der in einem der Zimmer kauerte, die Kleidung verschmiert, während seine Hand das blutige Messer umklammerte. Das wäre immerhin etwas gewesen. Eine Antwort.

Bisher hatte er, da Warren die Verantwortung nicht übernehmen wollte, jedoch rein gar nichts in der Hand.

Dies hier war die letzte Station, die letzte Etage. Das oberste Stockwerk. Sollte er auch hier nichts finden, würde er sich noch einmal mit Warren unterhalten müssen.

Stelig entdeckte den Putzmann, Sam Goodfrey, und rief ihn zu sich. Der ältere schwarze Mann lehnte seinen Wischmopp gegen die Wand und schlurfte auf ihn zu. »Ja, Sir?«

»Sam, ist Ihnen hier heute irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

»Zum Beispiel, Sir?«

»Hat sich irgendeiner der Patienten merkwürdig benommen oder war vielleicht einer von ihnen eine Zeit lang verschwunden?«

Sam blickte zu Boden, leckte sich über die Lippen und sah dann wieder zu ihnen hinauf. Seine Augen erinnerten Stelig an die eines Welpen – nur dass dieser Welpe Tränensäcke von der Größe einer Reisetasche unter den Augen hatte. »Nein, Sir. Nichts Auffälliges. Warum?«

»Nun, ich schätze, Sie können es ebenso gut jetzt erfahren. Irgendwann werden Sie es ja sowieso mitbekommen. Auf Station C ist etwas ganz Furchtbares passiert.« Stelig hielt einen Moment inne, bevor er fortfuhr. »Sämtliche Patienten wurden getötet. Und drei der Schwestern.«

Der alte Mann schnappte nach Luft und legte eine faltige Hand auf seinen Mund. »Lieber Gott. Das ist ja entsetzlich. Wie ist denn das passiert?«

»Warren Spencer.«

»Hat er sie alle umgebracht?«

Stelig nickte.

»Nun, wir sind uns noch nicht ganz sicher«, sagte Adams. »Warren behauptet, es sei jemand anders gewesen. Ein anderer Patient. Wir durchsuchen gerade das Krankenhaus, um Anhaltspunkte zu finden, wer es sonst noch gewesen sein könnte.«

»Ich bin sicher, dass es Warren war«, bekräftigte Stelig. »Passen Sie trotzdem auf, vielleicht benimmt sich ja doch einer der Patienten … ungewöhnlich.«

»Das werde ich. Das werde ich ganz bestimmt, Sir.«

»Okay. Ich danke Ihnen. Und ich brauche Ihnen ja wohl nicht zu sagen, dass diese Information das Gebäude nicht verlässt. Niemand muss davon erfahren, solange es nicht absolut notwendig ist. Verstanden?«

Der alte Mann nickte. »Natürlich, Sir.«

»Gut. Bitte gehen Sie wieder an Ihre Arbeit.«

Der Mann nickte, wandte sich ab und schlurfte langsam zu seinen Putzutensilien zurück.

»Hab ich mir das nur eingebildet oder sah der alte Sack glücklich über die Nachricht aus?«

»Vielleicht, ich weiß nicht«, erwiderte Stelig und rieb sich mit seinem Daumen und Zeigefinger die Nase.

»Denken Sie, er weiß mehr, als er zugibt?«

»Machen Sie sich verdammt noch mal nicht lächerlich. Er ist ein alter Mann. Er macht hier sauber. Was kann der bitteschön schon wissen?«

Adams zuckte mit den Schultern.

»Ich hab’s Ihnen ja gesagt, das hier ist Zeitverschwendung. Die Patienten hier oben sind ungefähr so harmlos wie …«, Stelig sprach das Erste aus, was ihm in den Sinn kam, »ein Haufen niedlicher Welpen.«

»Dürfte ich Sie vielleicht daran erinnern, Sir, dass sie alle Kriminelle sind?«

»Die meisten Patienten hier sind einfach nur verrückt. Harmlos, aber verrückt.« Stelig blickte auf den untersetzten Oberarzt hinunter. »Dürfte ich Sie vielleicht daran erinnern, dass dies hier die gute Station ist, die ruhige Station? Die Insassen haben seit der Ausübung ihrer Verbrechen keinerlei Anzeichen für gewalttätiges Verhalten mehr an den Tag gelegt. Verdammt, die sind nicht im Geringsten gewaltbereit. Nicht mehr.«

»Was ist mit Harris da drüben?« Adams zeigte auf den Mann, der in der hinteren Ecke des Raumes saß. »Er hat seine ganze Familie abgeschlachtet.«

Stelig schnaubte verächtlich. »Das war vor fünf Jahren. Seither hat er keinerlei Anzeichen für gewalttätiges oder aggressives Verhalten gezeigt. Er ist bereitwillig mit der Polizei mitgegangen und hat sich nicht einmal gewehrt. Verdammt, Harris ist harmloser als irgendjemand sonst hier. Alles, was er je getan hat, ist in dieser Ecke zu hocken und vor sich hinzusummen.« Stelig unterbrach sich und schaute zu Harris hinüber. Beobachtete den Mann, der nur ins Leere starrte und dümmlich in sich hineingrinste. Lauschte seinem Summen.

»Gott, ich glaube, ich würde durchdrehen, wenn ich mir das den ganzen Tag anhören müsste«, sagte Adams. »Er summt den ganzen Tag dieselben drei Töne. Sonst nichts. Ist das zu fassen?« Adams kicherte. »Da würde doch jeder verrückt werden. Keine Ahnung, wie die Ärzte und Schwestern hier oben das aushalten.«

Stelig seufzte. Harris hatte ihm immer leidgetan. Er konnte nicht sagen, warum, aber er hatte etwas Bemitleidenswertes an sich. »Ja, ich weiß, was Sie meinen. Aber es beweist nur, dass ich recht habe. Hier sind alle völlig harmlos. Verrückt, aber harmlos. Wir verschwenden nur unsere Zeit. Warren hat es getan – und das weiß er auch. Er will nur nicht die Schuld dafür auf sich nehmen, das ist alles.«

»Ich weiß nicht. Ich verstehe einfach nicht, warum er lügen sollte, das ist alles.«

Plötzlich sah Harris Stelig an. Er drehte seinen Kopf und starrte dem Doktor direkt in die Augen. Unbehagen machte sich in Steligs gesamtem Körper breit. Der Mann summte noch immer dieselben drei Töne, aber nun trug er ein schiefes Grinsen im Gesicht. Es hätte beinahe komisch gewirkt, wäre da nicht der wissende Glanz in seinen Augen gewesen.

Er machte Stelig nervös, auch wenn er das niemals zugegeben hätte.

Stelig drehte sich um und versuchte, sein Unbehagen abzuschütteln. »Sie vertrauen den Menschen zu sehr, Adams. Das ist Ihr Problem. Kommen Sie, lassen Sie uns gehen. Hier finden wir nichts.«

Als die beiden Männer den Korridor entlanggingen, begann Stelig zu summen.

»Ein echter Ohrwurm«, sagte Adams mit einem Lächeln.

»Hä?«

»Sie haben dieselben drei Töne gesummt wie unser hauseigener Sänger.«

»Hab ich das?«

Adams nickte.

Steligs Unbehagen wuchs. Er lächelte, aber als er zu sprechen begann, klang seine Stimme sehr ernst. »Na, dann will ich nur hoffen, dass ich die Melodie auch wieder loswerde.«

NOTIZEN ZUR ENTSTEHUNG:

Ich habe diese Geschichte für die Sammlung Asylum Volume 3: The Quiet Ward geschrieben. Für alle, die sie nicht kennen: Die Asylum-Anthologien waren eine tolle Buchreihe, in der Geschichten aus verschiedenen Abteilungen einer psychiatrischen Anstalt erzählt wurden. In jedem Buch ging es um eine andere Station oder eine andere Art von Wahnsinn: Es gab jeweils einen Band über die Station mit den Gewalttätigen bzw. den Psychopathen und die dritte und letzte Folge, in der auch diese Geschichte erschien und die sich mit der ruhigen Station befasste.

Oh, und für den Fall, dass Sie sich das gefragt haben: Ja, den Titel habe ich bei dem gleichnamigen Led-Zeppelin-Song abgekupfert.