Das Haus in der Andrew Street 57 ist ein kleines, unscheinbares Backsteingebäude. Es steht in einer schmalen, ungepflasterten Straße im bescheidenen Vorort Windsor, flankiert von weiteren bescheidenen, aber hübschen Backstein-und Holzbauten. Entlang des Gartenzauns zieren sorgfältig beschnittene Büsche den Rasen vor dem Haus. Es ist nur schwer vorstellbar, dass in seinem Inneren eine derart grauenvolle Tat begangen worden sein soll.

Doch am Weihnachtsabend des vergangenen Jahres geschah in eben diesem Backsteinhäuschen ein Verbrechen, wie es Melbourne noch nie zuvor erlebt hat. Ein Mann namens Frederick Bailey Deeming schlug seiner Frau zunächst den Schädel mit einer Axt ein und schlitzte ihr anschließend mit einem langen Messer die Kehle auf. Dann warf er ihre Leiche in ein Loch unter dem Kamin, füllte das grausame Grab mit Beton, den er selbst angerührt hatte, und bedeckte das provisorische Grab anschließend wieder mit der Kaminplatte. Die Leiche des Opfers wurde erst nach zwei Monaten entdeckt.

Es war der Besitzer des Hauses, Mr. John Stamford aus der High Street, der als Erster feststellte, dass etwas nicht stimmte.

»Ich führte an jenem Tag, es war der 3. März, eine potenzielle Mieterin durch das Haus. Als wir das erste Schlafzimmer betraten, roch es darin wirklich unangenehm. Wenig überraschend verließ die Dame das Haus umgehend. Als ich mich in dem Zimmer etwas genauer umschaute, sah ich, dass die Kaminplatte erhöht lag, so als habe sie jemand verschoben. Ich rief meinen Verwalter, Mr. Connop, an, und gemeinsam hoben wir die Kaminplatte an. Der Geruch wurde noch schlimmer. Es war ein wirklich abstoßender Gestank, der mich an totes Fleisch erinnerte. Nur dass es noch widerlicher roch. Der Gestank schien sich durch meine Nasenlöcher zu fressen und meinen Rachen zu verbrennen. Ich habe meinen Sohn geschickt, um die Polizei zu holen, und es dauerte rund zwei Stunden, bis die Beamten freigelegt hatten, was sich unter der Betonschicht verbarg.«

Mr. Stamford, ein kräftig gebauter Mann Mitte 40, schüttelt daraufhin den Kopf und sein Gesicht wird aschfahl. »Ich werde diesen Anblick und diesen Geruch nie vergessen.«

Das wird auch Constable Webster nicht, einer der Polizisten, der an jenem Märzabend dabei half, die Leiche aus ihrem Betongrab zu befreien. »Ich musste die Kleidung und die Uniform, die ich getragen hatte, anschließend vernichten, da sie den Gestank des verwesten Fleisches tief in sich aufgenommen hatten. Ich habe sie im Kamin verbrannt, aber auch dadurch ist der Gestank nicht völlig verschwunden. Ich glaube, der Geruch hat sich für immer und ewig in meiner Nase festgesetzt. Er war so entsetzlich, dass ich das Haus mehrmals verlassen musste, und mir war noch immer übel, als ich endlich wieder zu Hause war. Und was die Leiche selbst angeht – nun, sagen wir einfach, ich werde ihren fürchterlichen, mumienartigen Anblick nie vergessen. Ich hatte so etwas noch nie zuvor gesehen und bei Gott, ich hoffe inständig, dass ich nie wieder einen derartigen Anblick ertragen muss.«

»Sie hat über zwei Monate da unten gelegen«, fügt Mr. Stamford hinzu. »Zwei Monate! Haben Sie eine Vorstellung davon, wie sie ausgesehen hat? Sie war nur noch ein Haufen verwesten Fleisches. Wie eine dieser ägyptischen Mumien, nur dass sie vor Schlamm triefte. Mein Gott, ihr Haar und ihr Skalp sind von ihrem Schädel gerutscht, als die Polizisten ihre Leiche ausgegraben haben. Die ganze Sache war eine furchtbar widerliche, abstoßende Angelegenheit.«

Aber was ist mit den Nachbarn? Wie haben sie reagiert, als sie die entsetzliche Neuigkeit erfuhren? Und hatten sie ihren neuen Nachbarn vielleicht ohnehin schon im Verdacht, etwas im Schilde zu führen?

»Ich wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, als ich hörte, was passiert ist«, zeigt sich die in Irland geborene Mrs. Fiddymont aus dem Haus in der Andrew Street 59 noch immer schockiert. »Mein lieber Owen musste mich auffangen, als ich umkippte. Ich habe in meinem ganzen Leben noch niemals etwas so Grauenhaftes gehört.« Wenn Mrs. Fiddymont am Küchentisch in ihrem Holzhaus mit den vier Zimmern sitzt, sieht sie aus wie die typische Großmutter. Sie hat ein freundliches Gesicht, auch wenn sich, während sie mir von ihren Erinnerungen berichtet, ein verstörter Ausdruck darauf legt.

»Ich habe Mr. Drewn nur ein paarmal getroffen, seine Frau sogar noch seltener. Sie blieb die meiste Zeit für sich. Ich bin ihr nur ein einziges Mal begegnet, kurz nachdem sie eingezogen waren. Ich war hinter dem Haus und habe Wäsche aufgehängt, als sie in den Garten schlenderte. Der Zaun zwischen den beiden Grundstücken ist nicht sehr hoch, deshalb konnte ich das arme Mädchen gut sehen. Sie wirkte traurig auf mich. Sie wirkte nicht aufgewühlt oder hat geweint, das meine ich nicht, aber sie sah sehr einsam und verlassen aus. Ich musste sie mehrmals rufen, bevor sie sich zu mir umgedreht hat. Sie wirkte wie in ihrer ganz eigenen Welt verloren. Wie dem auch sei, ich habe mich vorgestellt und sie gefragt, ob sie vielleicht auf ein Glas Limonade zu mir herüberkommen möchte – an jenem Tag war es heißer als im Ofen des Teufels. Sie schien durch die Einladung vollkommen verstört zu sein, so als wisse sie nicht genau, wie sie darauf reagieren solle. Bevor sie antworten konnte, erschien Mr. Drewn in der Hintertür und rief sie zu sich hinein. Das war das letzte Mal, dass ich das arme Kind lebendig gesehen habe.«

Aber was ist mit Deeming oder – wie sie ihn kannte – Mr. Drewn? »Ich hätte nie und nimmer vermutet, dass dieser groß gewachsene, schneidige englische Gentleman zu einer solch grauenvollen Tat fähig ist«, antwortet Mrs. Fiddymont mit einem tiefen Seufzer. »Er war immer so makellos gekleidet und so höflich. Aber ich muss auch sagen, dass ich bei mehr als einer Gelegenheit nebenan einen Streit gehört habe. Es schien mir nie um etwas Wichtiges zu gehen, nur die üblichen ehelichen Unstimmigkeiten. Aber trotzdem erinnere ich mich, dass Mr. Drewn mehrfach Bemerkungen über seine Mutter machte, so als lebe sie zusammen mit den beiden im Haus, obwohl ich nie eine ältere Dame auf dem Grundstück oder in der Nähe gesehen habe. Das gab mir schon ein etwas ungutes Gefühl.«

Eine weitere Nachbarin, die Waschfrau Louisa Atkinson, wohnhaft in der Andrew Street 60, hörte das Ehepaar ebenfalls streiten. Sie war vermutlich auch die letzte Person, die Emily Williams, geborene Mather, lebend zu Gesicht bekommen hat. »Ich ging so gegen 19 Uhr am Weihnachtsabend an ihrem Haus vorbei und habe Mr. und Mrs. Drewn lauthals debattieren gehört. Ich habe angehalten und gelauscht – immerhin waren sie ja neu in der Nachbarschaft und da ist man natürlich neugierig. Nachdem ich ihre Auseinandersetzung ein paar Minuten lang mit angehört hatte, hörte ich einen Knall. Kurz darauf kam Mrs. Drewn durch die Hintertür, eilte die Straße hinunter und den kleinen Nebenpfad entlang. Sie wirkte ausgesprochen nervös. Ich sagte Emily, es wäre vielleicht besser, wenn sie diesen Ort für eine Weile verlassen würde, aber sie lächelte nur und sagte, es werde schon bald alles wieder gut werden. Ich konnte sehen, dass sie Angst hatte, aber ich dachte, die Sache gehe mich nichts an, also habe ich sie nicht weiter bedrängt. Ich habe Mrs. Drewn dann noch nachgeschaut, als sie wieder ins Haus zurückgegangen ist. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.«

Weiß Louisa, worüber die beiden sich gestritten haben? »Es hatte irgendwas mit einem Brief zu tun, so viel weiß ich. Und mit einer Frau namens Kelly. Ich glaube, Mrs. Drewn glaubte, ihr Mann habe eine Affäre mit einer Frau namens Kelly oder so was in der Art. Ich habe auch gehört, dass Emily die Polizei erwähnte. Ich schätze, sie ist nicht mehr dazu gekommen, die Polizei tatsächlich zu rufen.«

Als ich sie frage, ob ihr bekannt sei, dass der Nachname von einem der Opfer Jack the Rippers ebenfalls Kelly gewesen sei und man mutmaße, Fred Deeming habe einst einen Briefwechsel mit dieser Dame geführt, wird Mrs. Atkinson leichenblass. »Ich lese nicht sehr oft Zeitung«, räumt sie ein. »Ich weiß nicht besonders viel über die Morde in London. Ich weiß, dass es Vermutungen gab, Mr. Drewn sei Jack the Ripper, aber ich hatte keine Ahnung, dass er in Briefkontakt mit einem der Opfer stand.«

An diesem Punkt bricht Mrs. Atkinson das Interview ab und gibt an, sie müsse sich hinlegen.

Mrs. Fiddymont hingegen sind die Verbrechen von Saucy Jacky und die Spekulationen, Fred Deeming könne der berüchtigte Mörder sein, bestens bekannt. »Ich muss zugeben, dass ich all diese schäbigen Geschichten faszinierend finde. Mein lieber Owen hat mir jeden Tag die neuesten Berichte über die Gräueltaten in Whitechapel vorgelesen. Sie waren ganz abscheulich, aber auch ungeheuer fesselnd. Wenn ich nur daran denke, dass ein ähnlich abstoßendes Verbrechen gleich nebenan passiert ist und dass dieser Mann vielleicht Jack the Ripper persönlich war …!«

Glaubt Mrs. Fiddymont denn, dass Deeming auch für die Morde in Whitechapel verantwortlich zeichnet?

»Ich wüsste nicht, warum das nicht möglich sein sollte. Ich hätte auch nie geglaubt, dass ein so distinguierter Herr in der Lage sein könnte, seine reizende Frau auf so brutale Weise zu ermorden und ihre Leiche dann unter dem Kamin zu verscharren. Trotzdem hat er genau das getan. Deshalb bin ich der Ansicht, dass Mr. Drewn absolut dazu in der Lage gewesen wäre, diese Prostituierten in Whitechapel zu ermorden. Mr. Drewn war ja stets sehr gut gekleidet, für gewöhnlich mit einem Zylinder und einem langen schwarzen Mantel, und die soll angeblich auch der Ripper getragen haben. Meiner Ansicht nach war Drewn Jack the Ripper.«

Wir wollen nun einen Blick in das Mordhaus werfen.

Auch wenn es im Inneren aussieht wie jedes andere Haus – die weiß getünchten Wände sind sauber, die hohen Decken mit dem üblichen Ruß beschmutzt, der sich in den Wintermonaten über die Stadt legt – herrscht darin eine schreckliche Kälte, kälter als das Wetter außerhalb des Hauses. Es ist kein Luftzug zu spüren, nur ein allgemeines Gefühl des Unbehagens und der Düsternis. Man bekommt sofort den Eindruck, dass sich hier etwas Tragisches zugetragen hat. Vielleicht ist dies auch der Grund, weshalb das Haus nicht mehr vermietet wurde, seit Deeming es letztes Jahr am Weihnachtstag verlassen hat und nur eine leere Flasche Cognac, einen altbackenen Laib Brot, eine Dose Kondensmilch und mehrere halb verbrannte Gepäckscheine zurückließ. Wenn man durch den Flur geht, geben die Bodenbretter ein besonders hohles Knarren von sich und obwohl sich fast keine Möbel im Haus befinden, ist kaum ein Echo zu hören. Es ist unheimlich und ich bin dankbar, dass ich gemeinsam mit dem Besitzer des Hauses vor Ort bin.

Zunächst zeigt er mir die anderen Zimmer des Backsteinbaus einschließlich des kleinen Badezimmers und des Gartens hinter dem Gebäude. Auch wenn keiner dieser Räume etwas offensichtlich Ungewöhnliches oder Eigenartiges an sich hat, liegt dennoch eine unbestreitbar düstere Atmosphäre wie ein schwarzer Mantel über dem gesamten Anwesen. Während ich durch die Räume gehe, denke ich an die Berichte von Geistersichtungen und seltsamen Geräuschen, die einige Nachbarn gehört haben wollen. Sie scheinen mir ganz und gar nicht außerhalb des Möglichen zu liegen. Tatsächlich spüre ich in dem kleinen Badezimmer, wie ein eiskalter Wind über mich hinwegweht, und ich bin mir fast sicher, dass ich Wasser ins Waschbecken rauschen höre.

»Seit Mr. Drewn gehängt wurde, habe ich in vielen Nächten ein Licht im Badezimmer von Nr. 57 gesehen«, berichtet Mrs. Fiddymont. »Nirgendwo sonst im Haus brannte Licht, nur im Badezimmer. Es verfügt nur über ein kleines Fenster, hoch oben in der Hauswand, aber es besteht kein Zweifel daran, dass sich dort des Öfteren jemand oder etwas mit einer Laterne aufhält. Für gewöhnlich ist das Licht sehr hell. Bei den ersten paar Malen habe ich schnell meinen lieben Owen geholt und er hat es auch gesehen – es ist also nicht nur meine Fantasie mit mir durchgegangen. Mehrmals wurde ich auch mitten in der Nacht von einem Geräusch geweckt, das klang, als laufe Wasser ins Waschbecken, so als leere jemand einen ganzen Eimer hinein. Wenn ich dann aufgestanden bin und aus dem Fenster geschaut habe, habe ich jedes Mal das Licht im Badezimmer gesehen.«

Ich bin zwar tagsüber hier, aber das Badezimmer ist mir trotzdem unheimlich – nachts würde ich mich dort nicht aufhalten wollen. Ich stelle mir vor, wie sich Fred Deeming über einen Eimer mit Wasser beugt, seine blutigen Hände wäscht und das verschmutzte Wasser dann ins Waschbecken schüttet. Ich frage mich, ob Deeming diese Tradition wohl auch nach seinem Tod fortsetzt – ob er seine Hände so bereits bei zwei weiteren Gelegenheiten gewaschen hat und ob wohl noch weitere folgen werden.

»Ich habe sogar einen Schatten im Badezimmer gesehen«, berichtet Mrs. Fiddymont weiter. »Eine Gestalt, die einen Zylinder trug. Ich sehe immer wieder, wie sie sich durch dieses entsetzliche Haus bewegt, und es jagt mir jedes Mal wieder einen Schauer über den Rücken.«

Je länger ich mich in dem Haus aufhalte, desto überzeugter bin ich davon, dass dort finstere Mächte am Werk sind. Ich frage Mr. Stamford, ob auch er die Anwesenheit von etwas Düsterem im Inneren des Hauses spürt, aber er schüttelt den Kopf. Er hält sich aufgrund dessen, was hier geschehen ist, zwar nicht gerne in dem Haus auf, aber von Geistern und Gespenstern will er trotzdem nichts wissen.

Ich erwähne Mrs. Fiddymont und das Licht im Badezimmer und berichte auch von einem weiteren Nachbarn, einem jungen Mann namens Alfred Spedding, der mir ebenfalls erzählte, er habe eine dunkle Gestalt beobachtet, die nachts das Haus mit der Nummer 57 betrat und wieder verließ. Eine dunkle Gestalt, die einen Zylinder und einen Mantel trug. Mr. Spedding, der in Nummer 55 wohnt, hat nach eigenen Angaben oft beobachtet, wie Mr. und Mrs. Drewn ihr Haus in Abendgarderobe verließen und aussahen, als wären sie unterwegs in die Stadt, um eine Theatervorstellung zu besuchen. Er sagte, Mr. Drewn habe immer einen Zylinder und einen schwarzen Mantel getragen, seine Frau ein hübsches grünes Kleid mit weißer Bordüre sowie einen kunstvollen Hut.

Außerdem habe er aus dem Inneren des Hauses die Schreie einer Dame gehört, das Weinen eines Mannes und sogar das Geräusch einer Schaufel, mit der Erde umgegraben wurde.

»Viele Male wurde ich von den Schreien einer Frau geweckt«, so Spedding. »Erst dachte ich, sie kämen aus einem anderen Haus, aber nach einer Weile wurde mir bewusst, dass sie von nebenan stammten. Ich hörte sie immer zur selben Zeit – kurz nach zwei Uhr morgens – und es waren immer dieselben Schreie: zweimal nacheinander, kurz und durchdringend, unverkennbar die Schreie einer Dame.«

»Oh ja, ich habe Weinen aus dem Inneren dieses schrecklichen Hauses gehört«, gibt auch Mrs. Fiddymont zu. »Für gewöhnlich gegen zwei Uhr morgens. Aber das einzige Wort, das ich verstehen konnte, war ›Mutter‹.« Glaubt sie, den Geist von Fred Deeming gehört zu haben? »Da bin ich mir sogar ganz sicher«, antwortet Mrs. Fiddymont und nickt bestimmt mit dem Kopf. »Ich habe diesen Mann mehrmals weinen gehört und es klang ganz genauso.«

Aber was ist mit den Geräuschen der Schaufel? Nun, Mrs. Fiddymont und Mr. Spedding geben beide an, solche Geräusche mehrfach aus dem Haus mit der Nr. 57 wahrgenommen zu haben, wenn sie mitten in der Nacht ihr Toilettenhäuschen aufsuchten.

Ich erzähle all das auch Mr. Stamford, aber er sieht mich nur an, zuckt mit den Achseln und führt mich dann ins Schlafzimmer, in dem Deeming seine Frau vergraben hat.

Sobald ich den Raum betrete, werde ich von einem Gefühl des Grauens erfasst. Es fühlt sich an, als versuche etwas, die Luft aus meinen Lungen zu saugen. Mein Atem wird schwer. Und obwohl es bereits sechs Monate her ist, dass die Leiche von Emily Williams unter der Kaminplatte entdeckt wurde, und der Raum inzwischen gründlich gereinigt wurde, liegt noch immer ein Geruch von verfaulten Äpfeln und verwestem Fleisch in der Luft, von dem mir übel wird.

Ich frage Mr. Stamford, ob er den widerlichen Gestank auch riecht, und er räumt zögernd ein, einen schwachen Hauch des Todes wahrzunehmen. Er vermute jedoch, dass es sich dabei um den Geruch handele, der sich für alle Zeiten in seiner Nase festgesetzt habe.

Ich versuche, den Gestank und das Gefühl des Grauens zu ignorieren, und blicke mich in dem Zimmer um. Der Raum ist mittelgroß, gegenüber der Tür befindet sich ein großes Fenster und in einer Ecke steht ein Kleiderschrank. Der Kamin befindet sich neben dem Kleiderschrank. Er ist in die Ziegelmauer eingelassen und die eigentliche Feuerstelle ist im Moment nur ein leeres, schwarzes Loch – es gibt keinerlei Anzeichen, dass hier in jüngerer Vergangenheit oder überhaupt jemals ein Feuer loderte. Mr. Stamford führt mich durch das verlassene Schlafzimmer. Vor dem Kamin bleiben wir stehen.

Nichts weist darauf hin – abgesehen von dem Geruch –, dass je eine Leiche unter der Kaminplatte begraben lag. Nichts lässt erkennen, dass der Boden herausgerissen wurde, um die verwesende Leiche aus ihrem flachen Grab zu befreien. Der Bereich rund um den Kamin sieht aus wie bei jeder anderen Feuerstelle auch.

Während ich mich neben den Kamin hocke, höre ich ein Kratzen unter dem Boden. Zunächst nehme ich an, dass es sich dabei um eine Ratte handelt, aber das Geräusch klingt zu vorsätzlich – wie Fingernägel, die über das Holz kratzen.

Ich schnappe erschrocken nach Luft, richte mich wieder auf und drehe mich zu Mr. Stamford um, der mich vollkommen verblüfft ansieht. Ich teile ihm meine Beobachtung mit, aber er versichert mir, nicht das Geringste davon mitbekommen zu haben.

Ich lausche erneut – das Kratzen ist verstummt.

Als der Gestank des Todes stärker wird, fällt mir das Atmen immer schwerer und ich verlasse das Zimmer. Draußen im Flur wird mein Kopf allmählich wieder klar und auch meine Atmung normalisiert sich.

In den banalen Wänden dieses Hauses ist zwar überall dieselbe verstörende Atmosphäre zu spüren, aber im Herzen dieses Zimmers liegt etwas Böses. Als ich dem Gebäude den Rücken kehre und in den nebligen Nachmittag hinausschreite, weiß ich, dass ich dieses Zimmer nie wieder betreten möchte. Darin mag zwar bereits vor neun Monaten ein schreckliches Verbrechen begangen worden sein, aber der Schleier des Unheilvollen ist noch nicht verflogen.

Ob es sich dabei um den Geist von Mad Fred Deeming handelt oder ob er nur eine gewisse Restenergie zurückgelassen hat, mögen Sie als Leser bitte selbst entscheiden. Einige Menschen, darunter auch Mrs. Fiddymont und Mr. Spedding, sind sich absolut sicher, dass das Haus von Geistern heimgesucht wird. Andere, etwa Mr. Stamford, sind der Ansicht, dass in seinem Inneren nichts Ungewöhnliches zu finden ist – außer den entsetzlichen Erinnerungen an ein grausames Verbrechen.

Es gibt aber noch einen Mann, der die Idee, Deemings Geist könne durch die Straßen von Melbourne spuken, für lächerlich hält: Walter Smith, der Henker im Gefängnis von Melbourne.

»Ich habe ihm mit eigenen Händen eine Schlinge um den Hals gelegt und dann zugesehen, wie er durch die Luke fiel – sein Genick ist so schnell und sauber gebrochen, wie es sein soll. Es ist völlig unmöglich, dass sein Geist danach noch munter durch die Straßen spukt. Außerdem ergibt es einfach keinen Sinn, dass Deemings Geist ruhelos durch die Gegend ziehen und Prostituierte aufschlitzen soll. Ich weiß, dass das, was er getan hat, ganz grauenhaft war, aber er muss ein religiöser Mann gewesen sein.

Wissen Sie, was er gesagt hat, als der Sheriff ihn fragte, ob er noch einige letzte Worte sagen will, bevor der Hebel umgelegt wird? ›Möge der Herr meinen Geist empfangen.‹ Und der Herr lehnt diese Bitte bei keinem Menschen ab, ganz gleich, was er sich hier auf Erden auch zuschulden kommen ließ. Deemings Geist kann also nur im Himmel sein. Er ist nicht hier unten gefangen, um noch mehr Schmerzen zu verursachen oder weiteren Schrecken zu verbreiten. Wissen Sie, was ich glaube? Also, ich will wirklich nicht respektlos erscheinen, aber ich denke, dass hinter den Morden jemand von der Zeitung steckt, der den Absatz ein bisschen ankurbeln möchte. Es heißt ja, es sei auch ein Journalist gewesen, der diesen ›Dear Boss‹-Brief geschrieben und sich den Namen Jack the Ripper ausgedacht hat, um mehr Zeitungen zu verkaufen. Das war gar nicht der Mörder selbst. Und genau danach riechen auch diese jüngsten Morde für mich – da will jemand noch mehr Zeitungen an den Leser bringen.«

Im letzten Teil unserer Reportage nehmen wir die jüngsten Prostituiertenmorde unter die Lupe, besuchen die Orte, an denen die Frauen ums Leben kamen, und zeigen die Parallelen zu zwei der Ripper-Morde, die sich vor vier Jahren ereigneten, auf. Außerdem hören wir die verblüffenden Aussagen eines Arztes aus dem Melbourner Gefängnis sowie die Enthüllungen eines Häftlings derselben Anstalt – Enthüllungen, die Sie dazu bringen werden, noch einmal darüber nachzudenken, ob es sich bei den Morden wirklich um das Werk eines Nachahmungstäters handelt oder ob der Täter nicht doch im Jenseits zu finden ist.