Der Sarg

(The Coffin)

Doug konnte das Feuerzeug in seiner verschwitzten Hand fühlen. Er wusste, dass er es benutzen sollte, aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Nervosität? Seine zitternden Hände? Oder die Tatsache, dass er ohne sichtbaren Ausweg in diesem Grab festsaß?

Knips einfach das Feuerzeug an, sagte er sich. Vielleicht bist du nur ein paar Zentimeter von einem Ausgang entfernt und weißt es noch nicht einmal.

Aber er nahm nicht den Hauch eines Lichtscheins vor sich wahr. Nur tiefschwarze Dunkelheit.

Wenn er doch nur den Mut aufbringen würde, mit seinem Daumen das Feuerzeugrädchen zu drehen. Warum schaffte er es nicht? Hatte er wirklich so entsetzliche Angst davor, was er dann vorfinden würde – oder eben auch nicht?

Er blinzelte einige warme Tränen aus seinen Augen. Der Schmerz in seinem Nacken weitete sich allmählich zu einer echten Qual aus. Wenn er seinem Kopf nicht bald eine Ruhepause gönnte, würde er sich vielleicht bald gar nicht mehr bewegen können. Nur wenige Zentimeter vor seiner Nase befand sich eine riesige Pfütze, die er vor lauter Entsetzen erbrochen hatte.

Um sich abzulenken, versuchte Doug erneut, sich rückwärts zu schlängeln. Er biss die Zähne zusammen, presste seine Handballen gegen den kalten, stahlharten Boden und streckte seine Arme so fest durch, dass jeder einzelne Muskel vor Schmerzen aufheulte. Sein Körper bewegte sich jedoch keinen Rattenschwanz breit. Er entspannte sich wieder, stieß einen langen, heißen Atemhauch aus und fluchte.

Er konnte nicht zurück. So viel war sicher. Und er konnte nicht vorwärts. Er wusste, dass vor ihm genauso wenig Platz war wie an dieser Stelle. Während seiner panischen Phase, als ihm bewusst geworden war, dass er festsaß, hatte er versucht, sich vorwärts zu bewegen, nur, um dann feststellen zu müssen, dass er sich in einen noch engeren Bereich hineinmanövriert hatte.

Er kam sich vor wie der Korken in einer Champagnerflasche. Nur dass niemand kommen würde, um ihn mit einem lauten Knall zu befreien.

Ein stechender Schmerz fuhr durch Dougs Nacken. Er zuckte zusammen. Nun rächte es sich, dass er die ganze Zeit den Kopf nach oben gehalten hatte.

Aber das muss ich, dachte er.

Mit einem Stöhnen ließ Doug den pochenden Schädel auf den Metallboden sinken. Die rechte Seite seines Gesichts landete in der heißen, wässrigen Masse. Allein schon aufgrund ihrer Konsistenz musste er würgen – aber da war auch noch dieser Gestank. Faulig und durchdringend. Er unterdrückte den Reflex, sich zu übergeben, und konzentrierte sich auf das angenehme Gefühl, den Kopf kurz ausruhen zu können. Die starken Schmerzen, die sich in seiner gesamten Nackenmuskulatur ausgebreitet hatten, ließen allmählich nach, und er fühlte sich trotz seines Kissens aus Kotze ein wenig schläfrig.

Wenn ich jetzt noch den Mut hätte, das Feuerzeug anzumachen.

Ein wahnsinniges Lachen entwich aus Dougs Mund. Warum konnte er seinen Kopf in eine Pfütze aus Erbrochenem legen, schaffte es aber nicht, ein lächerliches Feuerzeug zu benutzen?

Er schloss seine schwerfällig gewordenen Augen.

Die Müdigkeit übermannte ihn.

Er schlief ein …

… und träumte, dass er von Männern verfolgt wurde – großen, finsteren Kerlen, wie jene, die ihn tatsächlich gejagt hatten. Nur dass er in seinem Traum genügend Geld hatte, um sie zu bezahlen. Aber aus irgendeinem Grund verfolgten sie ihn trotzdem. Er träumte von hässlichen, alten, verlassenen Motels und von schäbigen Badezimmern, in denen der einzige Fluchtweg nicht durch das Fenster führte, sondern durch einen Lüftungsschacht über ihm. Plötzlich schoben sich die Seitenbegrenzungen und Decke des Schachts in seinem Traum unaufhaltsam auf ihn zu. Er konnte nicht das Geringste dagegen tun. Sie kamen immer näher, bis sein Körper eingepfercht war. Er schrie auf …

… und schrie so lange weiter, bis ihm bewusst wurde, dass er wieder wach war und sich der Schacht gar nicht wirklich wie eine Müllpresse zusammenschob.

Er steckte einfach nur fest. Genau wie in den vergangenen 40 Minuten.

Oder länger? Wie lange hab ich geschlafen?, fragte er sich und spürte das silberne Feuerzeug noch immer schwer in seiner Hand. Er hatte es im Schlaf nicht fallen gelassen.

Ich muss, dachte er. Ich hab keine andere Wahl.

Aber was, wenn der Schacht sich endlos vor ihm erstreckte? Was, wenn es wirklich keinen anderen Ausweg gab und es nur vor oder zurück ging?

Aber vielleicht entdeckte er ja auch eine Falltür oder etwas Ähnliches?

Er war entschlossen, nicht als Gefangener in diesem Lüftungsschacht zu enden, in dem es nach abgestandener Pisse stank. Und wenn er etwas tun konnte, um ein wenig Licht in diesen Metallsarg zu bringen, dann musste er es tun.

Er hob seinen Arm. Genau wie sein Kopf fühlte er sich entsetzlich schwer an und Doug konnte spüren, dass Stücke seines Erbrochenen an seiner Haut klebten. Er legte seinen Daumen auf das Rädchen des Feuerzeugs, hielt inne, nahm die Dunkelheit ein letztes Mal in sich auf und drehte es. Funken flogen, aber es loderte keine Flamme auf. Er versuchte es noch ein paarmal.

»Verdammt«, murmelte er und spürte, wie sein Mut mit jedem unbelohnten Klicken ein wenig schwand.

Beim fünften Versuch ging das Feuerzeug an.

Eine kleine Flamme tanzte vor Dougs Augen, aber das Licht, das sie verbreitete, reichte nicht aus, um zu sehen, was sich vor oder um ihn herum befand. Er bewegte den winzigen Stift, mit dem sich die Menge des ausgestoßenen Feuerzeugbenzins steuern ließ, und die Flammensäule wuchs höher.

Nun konnte er beide Wände und die Decke des Lüftungsschachts erkennen: graues Metall, das von Staub und Schimmel bedeckt war. Er stellte das Feuerzeug vor sich ab und konnte endlich erkennen, was vor ihm lag.

Doug heulte auf und pisste sich in die Hosen.

Das Skelett lag nicht mehr als einen Meter von ihm entfernt. Seine langen Arme schienen sich ihm entgegenzustrecken und wirkten wie der irrsinnige Versuch einer Umarmung. Doug konnte die gebrochenen Fingerglieder erkennen – einige waren nur merkwürdig verrenkt, andere komplett zerschmettert. Er blickte dorthin, wo einst der Kopf gewesen war. Obwohl er wusste, dass dieser Mensch eines entsetzlichen Todes gestorben sein musste, wirkte es durch das Licht, das auf seinen Schädel fiel, als würde er Doug anlachen.

Doug lachte nicht zurück.

Das Schicksal war ganz und gar nichts, worüber man lachte.

NOTIZEN ZUR ENTSTEHUNG:

In dieser Geschichte dreht sich alles um Angst. Um meine ganz persönliche Angst, wenn ich ehrlich bin.

Einer meiner schlimmsten Albträume ist es, in einem furchtbar engen Raum festzustecken, ohne dass ich mich bewegen kann. Allein der Gedanke, noch nicht einmal in der Lage zu sein, meine Arme zu benutzen, jagt mir schon einen eiskalten Schauer über den Rücken. Was es aber noch schlimmer machen würde, wäre die Tatsache, dass es sehr wohl einen Ausweg gibt: das Licht sehen zu können oder eine Tür, aber eben nicht in der Lage zu sein, sie zu erreichen. Du steckst einfach nur fest, kannst dich nicht bewegen und nichts weiter tun, als der Verlockung der Freiheit ins Gesicht zu starren und zu warten …