Weihnachtliches Leuchten

(Christmas Lights)

Doreen war in der Küche, als Lucas aufwachte.

Sie saß in sich zusammengesunken auf einem der beiden Barhocker, die neben der Bank standen, balancierte eine Zigarette zwischen ihrem rechten Zeige-und Mittelfinger und hörte Radio. Die Küche lag wie der Rest des Hauses in beinahe vollkommener Dunkelheit. Das einzige Licht kam aus dem Wohnzimmer von der bunten Lichterkette, die sich um den Weihnachtsbaum schlängelte.

»Mummy, guck mal, ich kann den Weihnachtsmann sehen!«

Doreen zuckte zusammen, als sie die Stimme ihres sechsjährigen Sohnes hörte, nuschelte irgendetwas Unschönes, streckte einen Arm aus und schaltete das Radio aus. »… die Brände, die im Hinterland von Victoria wüten, breiten sich aus …« Sie leerte den restlichen Jim Beam, nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette, glitt mit einem noch tieferen Seufzer von ihrem Hocker und ging ins Wohnzimmer rüber.

Lucas, ihr liebes kleines Baby – der ist kein Baby mehr, der Junge ist schon richtig groß! Der Gedanke traf sie wie ein Hieb mit einem Vorschlaghammer auf der Brust – saß aufrecht auf der Couch vor dem vorderen Fenster. Er trug nur seine rote Unterhose und der Schweiß auf seinem dicklichen Körper glänzte blau, rot, grün und gelb. Wie bei seiner Mum klebte das blonde Haar an seinem Kopf und er sah aus, als sei er eben erst aus der Dusche gestiegen. Der Ventilator, der in der Mitte des Zimmers stand, drehte sich wie ein wachsames Auge, aber seine wirbelnden Rotorblätter erzeugten keine besonders erfrischende Kühle – das verdammte Ding schluckte nur unnütz Energie.

Doreen lehnte im Türbogen zum Wohnzimmer, nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette, blies den Rauch aus und sagte: »Was hast du gesagt, mein Schatz?«

Ohne sich umzudrehen, flüsterte Luke – wie er seit Neuestem genannt werden wollte, seit er seine Faszination für die Krieg der Sterne-Filme entdeckt hatte – voller Ehrfurcht: »Ich kann den Weihnachtsmann sehen. Er kommt. Er kommt wirklich.«

Doreen blieb im Türbogen stehen, der das Esszimmer vom Wohnzimmer trennte. Sie wäre gerne zu ihrem Sohn gegangen und hätte sich neben ihn gesetzt, sie wollte ihn festhalten und ihn trösten. Sie wusste, dass sie es bald würde tun müssen. Aber sie wusste auch, dass sie nie wieder aufstehen würde, wenn sie sie sich erst einmal zu ihm gesetzt hatte.

Luke war vor ein paar Stunden vor einer Weihnachtssendung im Fernsehen eingeschlafen. Doreen hatte nur mit einem Auge hingesehen. Sie interessierte sich eher dafür, was im Radio zu hören war, verfolgte beispielsweise die aktuellen Nachrichten über die Buschbrände. Luke hatte unbedingt aufbleiben und auf den Weihnachtsmann warten wollen, aber der Sechsjährige in ihm hatte gegen halb zehn doch die Oberhand gewonnen und er war eingeschlafen, gerade als die Feuer das zehn Kilometer entfernte Brayshaw-Anwesen erreichten. Doreen hatte daraufhin den Fernseher und sämtliche Lichter ausgeschaltet. Sie hatte sich in die Küche zurückgezogen, das Radio ganz leise gestellt, die halb gefüllte Flasche Jim Beam neben sich postiert und in der Dunkelheit gewartet und gebetet, dass Luke durchschlafen würde.

»Komm doch mal gucken, Mummy. Ich kann ihn sehen, ganz weit weg. Seinen Schlitten. Er ist rot.«

Doreen rieb sich ihre brennenden Augen und trat ins Wohnzimmer, während ihr der Rauch der Zigarette in einer weißen Wolke durch den Raum folgte.

Doreen setzte sich neben ihren Sohn. Sie drückte die Zigarette im gläsernen Aschenbecher aus, fügte die Kippe dem immer höher wachsenden Haufen hinzu und drehte sich dann zu ihrem Sohn herüber. Sie strich einige feuchte Haarsträhnen aus seiner Stirn, unterdrückte ihre Tränen mit einem Schniefen und schaute aus dem Fenster.

»Siehst du?«, sagte Luke und zeigte hinaus. »Das kleine rote Licht da? Das ist er doch, oder? Er ist es wirklich.«

Doreen schaute aus dem Fenster. Sie sah die Spiegelung von einer der Lichterketten, die sich um den schäbigen alten Plastikbaum schlängelten. Sie brachte ein Lächeln zustande und wuschelte durch sein Haar. »Ja, ich glaube, das ist er«, sagte sie. »Der Weihnachtsmann kommt.«

»Und bringt mir ganz viele Geschenke?«

Es war jedoch weniger eine Frage als eine Feststellung, immerhin hatte Luke in den vergangenen Jahren immer Geschenke bekommen. Bisher war ihr Schlafzimmerschrank jedes Mal vor lauter Plüschtieren, Actionfiguren, Computerspielen, DVDs und natürlich den Klassikern wie Klamotten und Unterwäsche aus allen Nähten geplatzt.

Aber nicht in diesem Jahr.

Alles, was ihren Kleiderschrank in diesem Jahr aus den Nähten platzen ließ, waren Klamotten, die bereits Gefahr liefen, außer Mode zu kommen, ausgelatschte Schuhe und Kartons mit Fotoalben – Dinge, die leicht brennen würden.

Die Hälfte ihrer Habseligkeiten befand sich inzwischen in Kisten und wartete darauf, nach Nirgendwo abtransportiert zu werden. Seit sie vor zwei Monaten ihren Job bei der Bank verloren hatte, war ihr Leben in Kisten verpackt.

Doreen wandte ihren Blick der nachgemachten Kiefer zu. Sie hatte den Baum vor 20 Jahren gekauft, kurz nachdem sie und George geheiratet hatten. Sie hatten nicht genügend Geld für einen echten Baum gehabt. Aber das war egal gewesen. Es hatten trotzdem Geschenke darunter gelegen – genau wie in den folgenden 18 Jahren. Nur dass die Geschenke später unter einem echten Baum gelegen hatten – mit echtem Kiefernduft. Selbst als George sie vor fünf Jahren verlassen, seinen Porsche und ihren Glauben an die Liebe mitgenommen hatte, stapelten sich unverändert Geschenke unter dem Baum. Der falsche Plastikbaum war im Schrank geblieben: Sie hatte jedes Jahr einen echten gekauft, ihn geschmückt und gegossen und nach Neujahr in den Vorgarten geworfen, wo er allmählich braun wurde und im Sterben lag, bis er schließlich abgeholt wurde.

19 lange Jahre hatte der Plastikbaum gewartet. Und vor etwas mehr als 20 Tagen, als Luke geschmollt und Doreen wütende, verbitterte Kommentare ausgespuckt hatte – »Wir können uns dieses Jahr keinen echten Baum leisten.« – »Hör auf zu heulen und sei zufrieden mit dem, was du hast.« – »Ein richtiger macht sowieso viel zu viel Arbeit, und überhaupt, wir müssen Wasser sparen …« – wurde dem Plastikbaum endlich sein zweiter Auftritt gewährt.

So schließt sich der Kreis, dachte Doreen mit schwarzem Humor, während sie starr auf die gähnende Leere unter dem Baum blickte.

Als sie sich wieder dem Fenster zuwandte, sah sie ein weiteres Licht. Es war weiter entfernt und viel größer. Im Augenblick leuchtete es orange, als ginge die Sonne unter. Nur dass es nicht die Sonne war. Auch wenn das Licht ähnlich aussah, unterschied es sich in einem Punkt doch ganz deutlich vom Himmelskörper – es kam immer näher.

Während Tränen über ihre geröteten Wangen rannen, räusperte sich Doreen, um etwas zu sagen. Ihre Stimme krächzte und hüpfte aber trotzdem wie eine alte Schallplatte. »Möchtest du gerne ein kaltes Bad nehmen, Luke?«

Luke starrte weiter wie gebannt auf das schwebende rötliche Licht im Fenster und schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Ist dir nicht heiß? Ein schönes kaltes Bad wäre doch bestimmt schön, oder?«

»Ich will den Weihnachtsmann nicht verpassen.«

»Das wirst du nicht, Schatz. Ich komm dich holen, wenn er da ist.«

»Ich will hierbleiben und mir das Licht ansehen«, erwiderte Luke trotzig.

»Okay«, seufzte Doreen und rieb sich die Schläfen. »Dann bleib eben hier und schau dir das Licht an.«

Irgendetwas Kleines knallte gegen das Fenster. Doreen schnappte nach Luft. Im Schein der Weihnachtsbeleuchtung sah sie, wie ein Käfer immer wieder gegen das Fenster flatterte.

»Guck mal, Mum, ein Weihnachtskäfer«, sagte Luke und wandte seine Aufmerksamkeit kurzfristig von dem roten Licht ab.

»Stimmt«, bestätigte Doreen und beobachtete, wie der Käfer noch eine Weile weiterflatterte und schließlich verschwand. Er war clever – er wusste, was auf ihn zukam. Er verschwand aus dieser Gegend, verschwand in die Sicherheit. Ganz offensichtlich hatte er einen Ort, an den er gehen konnte.

Ganz im Gegensatz zu ihnen.

Sie hatten keinen Ort, an den sie gehen konnten – kein Zuhause, keine Familie. Alle anderen in der Gegend waren bereits gegangen. Einige hatten unterwegs sogar bei Doreen haltgemacht und ihr gesagt, sie müsse auch verschwinden, sie müsse sich Luke schnappen und sofort aufbrechen. Weil es nicht mehr lange dauern würde, bis auch die Gegend hier in Flammen stand.

»Kannst du irgendwo unterkommen?«, hatten die Leute sie gefragt, atemlos, mit verschwitzten Gesichtern.

»Ja«, hatte Doreen gelogen. »Ja, ich habe jemanden, bei dem ich unterkommen kann.«

Danach waren sie alle wieder verschwunden. Und Doreen hatte sich wieder auf die Couch gesetzt und auf den Fernseher gestarrt.

Es war über drei Stunden her, seit das letzte Mal jemand bei ihnen vorbeigekommen war und ihr geraten hatte, sie solle verschwinden.

»Ich glaube, er kommt näher«, verkündete Luke, der nun wieder auf das Licht starrte.

Doreen drehte sich um und starrte mit verschwommenem Blick auf das Licht im Fenster. »Ja, ich glaube du hast recht, Schatz.«

Im Gegensatz zu Lukes imaginärem Weihnachtsmann kam ihr Licht tatsächlich näher. Statt eines orangefarbenen Leuchtens in der Ferne konnte sie nun bereits Flammen erkennen. Und Rauch. Dicken, wirbelnden Rauch, der die klare Sommernacht in einen nebligen Weihnachtsabend in England verwandelte.

»Ich rieche Rauch«, sagte Luke und schnupperte in der Luft.

Es war der Geruch von verbranntem Holz, Eukalyptus und dem Ende all ihrer Schmerzen.

Doreen legte die Arme um ihren Sohn.

»Vielleicht ist das der Schlitten vom Weihnachtsmann«, erwiderte sie.

»Wie bei einem alten Zug?«

»Genau. Vielleicht schüren die Elfen das Feuer. Und deshalb kann der Weihnachtsmann auch in einer einzigen Nacht über die ganze Welt fliegen.«

»Wow«, stieß Luke aus, der sich mit den Ellbogen auf die Armlehne der Couch stützte und das Kinn in die Handflächen vergrub. Sein Blick fixierte weiter das rote Licht. »Ich bin ganz gespannt, wie der Weihnachtsmann so ist, wenn er erst mal da ist.«

»Wahrscheinlich sehr müde«, sagte Doreen und schloss die Augen, um sie vor dem brennenden Licht zu schützen. »Wahrscheinlich ist er sehr müde und möchte gerne etwas zu essen und zu trinken.«

Während der Geruch des heißen, beißenden Rauches ihre Welt erfüllte, drückte Doreen ihren Sohn noch fester an sich. Gemeinsam warteten sie darauf, dass das Licht sie erreichte.

NOTIZEN ZUR ENTSTEHUNG:

Eines Nachts, ich war etwa acht oder neun Jahre alt, verbrachte ich mit meiner Familie den Weihnachtsabend im Haus unserer Nachbarn. Wir hatten uns alle im Wohnzimmer versammelt, die Erwachsenen unterhielten sich und die Kinder saßen auf dem Boden vor dem Weihnachtsbaum. Dann sah ich im Fenster plötzlich ein rotes Licht. Das Licht schien in der Luft zu schweben und als ich es den anderen Kindern zeigte, wurden wir alle ganz aufgeregt, weil wir uns sicher waren, dass es nur der Weihnachtsmann sein konnte, der mit seinem Schlitten durch die Nacht flog. Wir haben es den Erwachsenen gezeigt und anstatt uns zu erklären, dass es sich dabei nur um die Lichterkette des Baums handelte, die sich im Fenster spiegelte, spielten sie mit und räumten ein, dass es auch durchaus der Weihnachtsmann mit seinen Rentieren sein konnte. Was soll ich sagen? Das war vermutlich der bis dahin aufregendste Augenblick meines jungen Lebens – wir hatten wirklich den Weihnachtsmann gesehen! Ich erinnere mich noch, dass ich unbeschreiblich aufgeregt war, als wir das Haus unserer Nachbarn an diesem Abend wieder verließen. Das Erlebnis machte diese ohnehin so besondere Zeit des Jahres für mich noch magischer.

Es war genau dieses Erlebnis, das mir sofort wieder einfiel, als ich gebeten wurde, eine Geschichte für den ersten Band der Anthologie Festive Fear von Tasmaniac zu schreiben. Während ich intensiver über die Handlung nachgrübelte und genau wusste, dass es nicht reichte, lediglich über ein Kind zu schreiben, das glaubt, den Weihnachtsmann gesehen zu haben, und dass es eine düstere Geschichte sein musste – schließlich war sie ja für eine Horror-Sammlung bestimmt –, kamen mir die heißen australischen Sommer in den Sinn. Ich dachte an die Verwüstungen, die die schrecklichen Buschbrände anrichten können, und die Idee zu Weihnachtliches Leuchten war geboren.

Noch eine kleine, etwas unheimliche Randbemerkung: Kurz nachdem ich die Rohfassung von Weihnachtliches Leuchten fertiggestellt hatte, wurde Victoria von den verheerendsten Buschbränden aller Zeiten heimgesucht, die 170 Todesopfer forderten und mehrere Kleinstädte auf dem Land sowie über 2000 Häuser zerstörten. Ich habe daraufhin in Erwägung gezogen, die Geschichte nicht für die Anthologie einzureichen. Niemand sollte den Eindruck bekommen, dass ich die Tragödie für meine Zwecke ausnutze – auch wenn ich die Geschichte geschrieben hatte, bevor die Buschbrände ausbrachen. Ich habe mit Steve Clark darüber gesprochen, dem Chef von Tasmaniac Publications. Wir waren uns letzten Endes darüber einig, dass die Story dadurch keinen faden Beigeschmack bekam, sondern – wenn überhaupt – an Relevanz gewann und noch größere Resonanz hervorrufen würde. Aber sie zeigt noch etwas ganz deutlich: Das wahre Leben kann oft viel grausamer sein als jede ausgedachte Geschichte.