Eine neue Religion

(The new Religion)

In der höhlenähnlichen Kapelle, in der ein schwerer Geruch von Blut und brennendem Öl in der Luft hing, hatte Reverend Fred Barnett, der einen schwarzen Filzhut und eine lange schwarze Jacke trug, bereits mit seiner Predigt begonnen. Der Schein der Gaslampen, die an den aus Ziegelsteinen gemauerten Wänden thronten, flackerte über die Gemeinde. Nathan schritt über die Pflastersteine, die erst vor einer Woche verlegt worden waren – die Kirche wurde, wie viele andere im ganzen Land, noch immer umgebaut – und einige der Konvertiten schreckten hoch, als sie seine Schritte hörten.

Er kniete sich neben seinen besten Freund Joe auf die schwarze Kirchenbank. Die beiden begrüßten einander nervös.

»Schon wieder zu spät«, murmelte Joe.

Das war bereits das fünfte Mal in Folge, dass Nathan zu spät kam. Er hatte Glück gehabt, die Tür nicht verschlossen vorzufinden, wie es eigentlich üblich war, wenn die Messe bereits begonnen hatte. Er hatte die Messe am heutigen Abend unter keinen Umständen verpassen wollen – es war Opfernacht und sie gedachten der verstorbenen Annie Chapman.

Nathan zuckte die Achseln, beugte seinen Kopf nach vorn und lauschte den Worten des Reverends.

»… 100 Jahre, seit unser Herr über diese Erde wandelte, 200 Jahre seit dem Beginn der Neuen Welt. Heute, an diesem 200. Jahrestag, ehren wir den Ersten und Größten unter ihnen – Seinen Mythos, Seinen Ruhm, Seine Legende – und erweisen all jenen Respekt, die Seinem Vorbild gefolgt sind. Wir ehren die fünf Apostel: Peter, Ted, Peter, Kenneth und Angelo. Und wir preisen die heilige Nicht-Jungfrau Maria, denn sie hat dem Herrn das größte Opfer dargebracht. Im Jahr 200 n. R., im Anbeginn des dritten Jahrhunderts, haben wir das Glück, der Wahrheit näher zu sein als jemals zuvor. Schon bald wird unser wahrer Messias ernannt werden. Lasset uns beten …«

Nathan griff nach der Bibel, die auf der Banklehne vor ihm lag, und strich mit der Hand über das ahnungsvolle Gesicht ihres mit einem Umhang verhüllten Gottes auf dem Umschlag. Er sah, wie Joe zögerte und ein Anflug von Angst über seine Miene huschte, bevor er nach dem schmalen Band griff. Joes Eltern glaubten noch immer an die alte Religion, eine Welt, die schnell zugrunde ging. Nathan konnte das Schuldbewusstsein nachvollziehen, das jedes Mal von Joe Besitz ergriff, wenn er die Weiße Kapelle betrat.

Nathan umklammerte das heilige Messer, das er um seinen Hals trug, und blickte an den Wänden empor. Flankiert von Filmplakaten – alles von The Lodger bis zum dritten Teil von From Hell – und künstlerischen Darstellungen des Herrn und seiner fünf göttlichen Taten waren dort die lächelnden Bildnisse von Peter Kürten, Ted Bundy – Nathans Lieblingsapostel – Peter Sutcliffe, Kenneth Bianchi und Angelo Buono zu sehen: Symbole einer neuen Religion, einer neuen Passion, die sich immer schneller über die ganze Welt ausbreitete. Sie waren nach Nathans 13-jähriger Meinung entschieden cooler als die angeschlagene, entweihte Statue des am Kreuz hängenden Gottes der alten Welt, die nun im Lagerraum eingesperrt lag und darauf wartete, von der Müllabfuhr abgeholt zu werden. Was hatte kürzlich eine Zeitung über ihren neuen Herrn verkündet? Nun ist Er größer als Jesus.

»Schlagt bitte Kapitel neun, Vers 25, Absatz sieben auf«, befahl der Reverend.

Und gemeinsam mit dem Rest der Gemeinde stimmte Nathan an: »Ich jage Huren und werde nicht aufhören, sie aufzuschlitzen …«

NOTIZEN ZUR ENTSTEHUNG:

Ich bin »Ripperologe« – einer dieser armen, kranken Typen, auf die die Verbrechen von Jack the Ripper eine unnatürliche Faszination ausüben. Als Cat auf der »The Red Light District«-Website daher als Thema ihres ersten Flash-Fiction-Wettbewerbs »Jack the Ripper« wählte, musste ich unbedingt daran teilnehmen und selbst etwas schreiben. Diese Geschichte hat den dritten Platz gewonnen.

Und fürs Protokoll: Unter all den Namen, die als Verdächtige genannt wurden, tendiere ich zum verrückten Fleischer Joseph Levy, auch wenn ich eigentlich glaube, dass es sich in Wahrheit um einen ortsansässigen Niemand vom Typ »unorganisierter Serienkiller« gehandelt hat.

Wer sich ebenfalls für den Ripper-Fall interessiert, kann gerne mal auf meiner eigenen Jack-the-Ripper-Seite, »Saucy Jacky«, vorbeischauen: http://saucyjacky.wordpress.com/