Das Meeresrauschen in der Muschel

(Hearing the Ocean in a Sea Shell)

(Deine Schwäche wird dein Untergang sein …)

»Spät zurück.«

Jackson nickte dem Nachtportier hinter dem Tresen zu – einem älteren schwarzen Mann, der immer noch recht fit wirkte – und ging in Richtung Fahrstuhl.

»War beinahe schon zu ruhig in den letzten Stunden«, sagte der alte Mann und lächelte. »Und Sie? Hatten Sie einen angenehmen Abend?«

Jackson antwortete nicht und hastete weiter. Er hörte, wie ihm der Pförtner ein »Arschloch« hinterhermurmelte, aber es war ihm egal.

Er erreichte den Fahrstuhl, der von den Bewohnern allgemein als »Todesfalle« bezeichnet wurde, drückte auf den »Aufwärts«-Knopf und wartete.

Als Jackson eine Zeitung rascheln und den Portier vernehmlich seufzen hörte, nahm er an, dass der Alte sich entweder sagte Leck mich doch oder seine Arbeit so gleichgültig erledigte, dass es ihn überhaupt nicht kümmerte, was in diesem Gebäude vor sich ging.

Trotzdem warf Jackson einen Blick über seine Schulter und fragte sich, ob der Nachtportier irgendeinen Verdacht hegte.

Warum sollte er? Er ist nur ein alter Mann, der die ganze Nacht auf seinem Hintern sitzt.

Jackson kniff die Augen zusammen und versuchte, die Schlagzeilen auf der ersten Seite zu entziffern, konnte sie aber von seiner Position aus nicht richtig erkennen.

Der Fahrstuhl kündigte seine Ankunft mit einem Klingeln an. Jackson drehte sich um und betrat ihn. Die Kabine lag in Licht getaucht, das die Farbe von blassem Urin besaß. Der Gestank von Erbrochenem und Zigaretten drehte ihm jedes Mal aufs Neue den Magen um.

(Ich kann’s nicht glauben. Du machst mich krank. Ich dachte, ich kenne dich, aber ich hab mich wohl geirrt …)

Er drückte mit dem Zeigefinger auf den Knopf für den sechsten Stock und sah, wie der alte Mann eine Ecke seiner Zeitung umknickte und ihn beobachtete, bevor sich die Tür des Fahrstuhls knarrend schloss.

Gott sei Dank hab ich ein besseres Leben als er.

Als der Lift rumpelnd zum Leben erwachte und mit seinem ruckelnden Aufstieg in den obersten Stock begann, atmete Jackson lange und entspannt ein und lehnte sich an die schmutzig-braun getäfelte Rückwand. Er war in Sicherheit.

Niemand war ihm gefolgt.

Es sei denn, in meiner Wohnung wartet schon eine Gruppe von Polizisten auf mich.

Das hielt er allerdings für relativ unwahrscheinlich. Immerhin hatte der Alte gesagt, es sei eine ruhige Nacht gewesen. Aber was, wenn er gelogen hatte? Was, wenn er diese miesen Schweine nur gedeckt hatte?

Wie lautet die korrekte Bezeichnung für eine Gruppe von Polizisten?, fragte er sich. Eine Schar? Eine Herde? Ein Schwarm? Eine Einheit?

Jackson grübelte noch immer darüber nach, als der Fahrstuhl im ersten Stock zum Stehen kam.

Die Tür öffnete sich.

Jackson wartete.

Als niemand einstieg, trat er an die offene Tür und warf einen Blick hinaus. Niemand da.

»Verfluchter Fahrst…« Er verstummte, als er das Baby sah.

Es saß mit verschränkten Beinen da und glotzte ihn unverhohlen an. Jackson lächelte. Das Baby lächelte nicht zurück. »Hallo, du. Na, was machst du denn da draußen?«

Das Baby – er konnte nicht sagen, ob es sich um ein Mädchen oder einen Jungen handelte – gab keinen Laut von sich. Es lachte nicht, es weinte nicht, es gluckste nicht. Es saß nur da, mitten auf dem Korridor, schaukelte vor und zurück. Starrte ihn an. Und sah traurig aus.

Die Tür ging wieder zu.

Jackson tat einen Schritt zurück und beobachtete, wie sie sich schloss.

Wo sind seine Eltern?

Er lehnte sich erneut gegen die Rückwand und zuckte die Achseln. Es ging ihn nichts an. Vielleicht handelte es sich ja um das Kind einer Nutte und sie wollte es nicht mitnehmen, während sie das Geschäftliche erledigte. Vielleicht hatte sie keinen Babysitter gefunden und es deshalb vor der Wohnung ihres Kunden auf den Flur gesetzt.

Was auch immer der Grund sein mochte, es interessierte Jackson nicht. Was ihm hingegen zu schaffen machte, war, wie elend das Baby gewirkt hatte. Aber konnten sich Babys überhaupt richtig elend fühlen? War das in ihrem jungen Alter nicht eine viel zu komplexe Emotion?

Jackson fragte sich, was wohl aus dem Kind werden würde, wenn es älter wurde.

Ich kann mir über so etwas nicht den Kopf zerbrechen. Ich hab genügend eigene Probleme.

Er wusste, dass es albern war – er hatte sich in dieser Nacht nichts zuschulden kommen lassen – aber trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte. War es eine Botschaft von Gloria? Wollte sie ihn davor warnen, in seine Wohnung zu gehen, weil dort eine Schar Polizisten auf ihn wartete?

Was willst du mir sagen, Gloria?

Er war in einem winzigen Dorf namens Belford im Mittleren Westen zur Welt gekommen. Als zweites Kind. Sein Bruder Michael war drei Jahre älter als er, aber laut seiner Mutter war seine Geburt besonders reibungslos verlaufen.

Sie wohnten in einem zweistöckigen Haus direkt am Ortsausgang. Seinen Eltern gehörte die örtliche Tierhandlung: Sean and Deb’s Friendly Pet Store. In einer seiner frühesten Kindheitserinnerungen saß er im hinteren Bereich des Ladens und streichelte ein winziges Kätzchen, während seine Mutter ihn anlächelte. Vielleicht weinte sie sogar ein bisschen.

Doch das vorherrschende Gefühl, das seine Erinnerungen an damals dominierte, war Lachen. Zu Hause schienen sie alle glücklich gewesen zu sein, sogar sein älterer Bruder. Alles war gut.

Der Fahrstuhl blieb im dritten Stock stehen.

Jackson seufzte. Die Fahrt in den sechsten Stock dauerte in diesem abgehalfterten Relikt schon lange genug, ohne dass er ständig anhielt.

Um diese Zeit war das Haus normalerweise wie ausgestorben. Deshalb fuhr er so gerne spät nachts damit – es war niemand unterwegs, der ihn sehen konnte. Abgesehen vom Nachtportier.

Die Tür öffnete sich und der unsichtbare Mann stieg ein.

Entweder das – oder der Fahrstuhl spielte verrückt.

Jackson ging auf die offene Tür zu. Er sah, dass am Ende des Korridors ein paar Kinder lachten und spielten.

»Verdammte Gören«, rief er. »Habt ihr wieder an den Knöpfen rumgedrückt?«

Sie ignorierten ihn und spielten weiter.

»Hey! Ich hab euch was gefragt!«

Kleine Scheißer, dachte Jackson.

(Du beschissener Lügner. Ich hab dir vertraut. Dich geliebt. Wollte den Rest meines Lebens mit dir verbringen. Und jetzt das. Das bist du also? Ich kann nicht glauben, dass ich so blöd gewesen bin …)

Die Kinder blieben in ihrer schattigen Ecke des Korridors und während Jackson sie weiter beobachtete, stellte er fest, dass sie gar nicht miteinander spielten – zumindest nicht Fangen oder Verstecken. Eines der Kinder, es war kleiner als die anderen, stand an der Wand. Es lachte nicht. Der Junge hielt seinen Kopf gesenkt, während die anderen Kinder ihn schubsten und sich über ihn lustig machten.

Herzlose kleine Arschlöcher.

Nun hörte Jackson, was sie riefen: »Hurensohn, Hurensohn.«

»Hört auf, ihn zu ärgern, ihr Rotzlöffel!«, rief er. »Geht rein und hört auf, mit dem Fahrstuhl zu spielen!«

Sie ignorierten ihn weiter und warfen noch nicht einmal einen Blick in seine Richtung.

Was bin ich? Ein verfluchter Geist?

»Hurensohn«, sangen sie weiter und kicherten und schubsten das hilflose Kind dabei hin und her.

Die Tür schloss sich wieder, und auch wenn Jackson am liebsten ausgestiegen wäre, um den Hänseleien ein Ende zu bereiten, blieb er in seinem vorübergehenden Kokon.

Geht mich sowieso nichts an, dachte er, obwohl es ihn rasend machte, solche Quälereien anzusehen.

Wo zur Hölle treiben sich heute Nacht bloß all die Eltern rum? Feiern die in einer der Wohnungen ’ne Orgie oder was?

Angeblich war es doch eine ruhige Nacht. Zumindest, wenn man dem Nachtportier glaubte – der in dieser Hinsicht jedoch möglicherweise gelogen hatte und über Jacksons geheimes Leben bestens Bescheid wusste.

Jackson wurde nervös. Er war sich sicher, dass Gloria versuchte, ihm irgendetwas mitzuteilen. Und er war sich fast sicher, dass es darauf hinauslief, dass man ihn schnappen würde.

Soll ich wieder in die Lobby runterfahren? Aber was dann? Da unten könnte auch schon die Polizei auf mich warten. Der verdammte Pförtner hat wahrscheinlich schon die Bullen in meiner Wohnung per Funk informiert und ihnen Bescheid gegeben, dass ich zurück bin. Jetzt warten unten auch welche, falls ich versuchen sollte, abzuhauen.

Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, dass sie ihm auf die Schliche gekommen waren. Irgendwie hatten die blöden Bullen es geschafft, die Spuren zu ihm zurückzuverfolgen.

Ich hab heute Nacht gar nichts gemacht. Wie haben sie mich bloß gefunden? Ich bin doch nur durch die Gegend gelaufen. Dafür können sie mich nicht festnehmen.

Zu seinen schönsten Erinnerungen gehörte seine Zeit an der Grundschule von Belford. Er hatte sich mit den meisten Kindern im Dorf angefreundet. Deshalb war es ein Gefühl wie Sommerferien, zur Schule zu gehen, abgesehen von den Hausaufgaben natürlich, aber die störten ihn auch nicht besonders. Oft half er sogar Kindern, die nicht ganz so schlau waren wie er selbst. Dadurch machte er sich in seiner Klasse noch beliebter, auch bei den Mädchen. In diesen magischen Jahren, bevor die Pubertät sie in die Finger bekam, waren Mädchen noch nicht diese furchteinflößenden, fremdartigen Wesen, in die sie sich später verwandelten. Es war eine großartige Zeit. Damals richtete der bloße Duft eines weiblichen Wesens noch kein Hormonchaos in ihm an und machte ihn zu einem unkontrollierten Idioten. Ein Mädchen war auch nur ein Kumpel, mit dem er Ball spielte, jemand, mit der er Eis essen oder durch die Stadt radeln konnte. Er gehörte zu den beliebtesten Kindern an der Grundschule von Belford. Alles war gut.

Jackson überlegte noch, ob er die Vier drücken oder die Fahrtrichtung ändern und wieder in die Lobby zurückkehren sollte, als der Fahrstuhl ohnehin in der vierten Etage stehen blieb.

Er machte einen Schritt zurück.

Die Tür öffnete sich. Es wartete keine Schar Polizisten auf ihn.

Es war überhaupt niemand da, soweit Jackson es sehen konnte.

(Dann werde ich nicht mehr da sein. Das ist das allerletzte Mal, dass du mich siehst. Aber ich muss dir noch etwas sagen, bevor ich gehe. Etwas, das du bestimmt nicht hören willst …)

Jackson entspannte sich ein wenig und trat mit einem Fuß in die Tür, damit sie sich nicht wieder schloss.

Er musste sich entscheiden: Sollte er in seine Wohnung hochfahren oder den »Abwärts«-Knopf drücken? Falls tatsächlich Polizisten in der Eingangshalle auf ihn warteten, konnte er zumindest versuchen abzuhauen. Wenn er es bis raus auf die Straße schaffte, hatte er vielleicht eine Chance, sie abzuhängen.

Ich bin einfach nur paranoid. Es warten nirgendwo Bullen auf mich. Sie können mir überhaupt nichts nachweisen. Sie haben nicht die geringste Spur …

Da er heute jedoch noch keine Zeitung gelesen hatte, konnte er sich in dieser Hinsicht nicht vollkommen sicher sein.

Er spielte mit dem Gedanken, durch das Treppenhaus nach unten zu gehen und einen Blick in die Lobby zu werfen, um nachzusehen, ob dort nicht doch Polizeibeamte auf ihn warteten.

Aber im Treppenhaus stinkt es noch widerlicher als im Fahrstuhl.

Nach einiger Überlegung zog Jackson den Fuß wieder zurück und beschloss, mit dem Fahrstuhl bis ganz nach oben zu fahren.

Aber die Tür schloss sich nicht. Auch nicht, als er mit der Hand auf den »Schließen«-Knopf hämmerte. Mehrmals.

»Komm schon«, knurrte er. »Was ist denn jetzt los?«

Erneut hatte er das Gefühl, Gloria versuche, ihm irgendetwas Wichtiges mitzuteilen.

Außer, dass wir Geister im Haus haben?

Er entdeckte das Notruftelefon an der Wand und überlegte, ob er den Nachtportier anrufen sollte, um ihm zu sagen, dass der Fahrstuhl verrückt spielte. Aufgrund irgendeines Problems mit der Elektrik, der Kinder im dritten Stock oder der Tatsache, dass es in diesem Haus spukte.

Oder weil Gloria mir eine Botschaft schickt.

Jackson bemerkte nicht, wie sich die Wohnungstür öffnete. Erst, als er die Schreie hörte, warf er einen Blick auf den Korridor hinaus und sah, wie zwei Männer auf ihn zurannten. Sein erster Gedanke war, dass ein Feuer ausgebrochen sein musste, obwohl er keinen Rauch sehen konnte.

»Ist alles okay?«, rief Jackson.

Mit einem Mal packte der ältere der beiden Männer den Jüngeren an der Kehle und zerrte ihn zurück.

Scheiße! Hier gab es überhaupt keinen Notfall, sah man mal von seinem plötzlichen Bedürfnis ab, verdammt noch mal so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.

Komm schon, dachte er, während er mit wachsender Panik auf den »Schließen«-Knopf drückte.

Er wollte nicht Zeuge dessen werden, was sich zwischen den beiden Männern abspielte. Während er jedoch darauf wartete, dass die Fahrstuhltür sich schloss, sah er, wie der ältere Mann den jüngeren zu Boden warf und ihm seine Hosen herunterriss. Als der Ältere anfing, seine eigene Hose abzustreifen, wurde Jackson mit einem flauen Gefühl im Magen klar, was hier jeden Moment passieren würde.

Sieht er denn nicht, dass ich hier stehe? Was zur Hölle denkt der sich? Wenigstens tue ich es da, wo mich niemand beobachten kann.

Der Junge – obwohl Jackson das Gesicht des jungen Mannes nicht genau erkennen konnte und nur bemerkte, wie blass es im Vergleich zu den schwarzen Schatten wirkte, war er sich sicher, dass er nicht älter als 20 war – begann zu weinen und zu betteln. »Nein, bitte nicht. Bitte, Onkel, tu das nicht.«

Jackson drehte sich der Magen um. Seine Kehle fühlte sich mit einem Mal furchtbar trocken an.

Hatte er richtig gehört? Hatte der Junge den Mann wirklich gerade »Onkel« genannt?

Mein Gott.

Jackson hämmerte mit der Faust auf den »Schließen«-Knopf.

Geh zu! Mach schon, geh zu!

Er wollte nicht dabei zusehen. Wenn der jüngere Mann ein Mädchen gewesen wäre, wäre das in Ordnung gegangen. Aber nicht so. Alles, nur das nicht …

Der ältere Mann hatte sich hingekniet. Der Großteil seines Gesichts lag nun im Schatten verborgen. Nur sein verdorbenes Grinsen war noch zu erkennen. Seine Hosen schlackerten an den Fußgelenken und sein Körper bebte mit jedem neuen Akt der Gewalt.

Der Junge hörte nicht auf zu weinen. »Nein! Onkel, nein! Das tut weh!«

Auch Jackson weinte.

Was passiert hier? Gloria? Wo bist du? Was passiert hier, Gloria?

Die Schreie des jungen Mannes drangen tief in Jacksons Hirn ein. Er wünschte sich so sehr, dass sie verstummen würden.

(Ich weiß über dich Bescheid. Ja, du hast richtig gehört. Ich weiß über deine Vergangenheit Bescheid …)

Er zwang sich, nicht länger hinzusehen, aber er hatte einfach keine Möglichkeit, die schreckliche Geräuschkulisse zum Verstummen zu bringen, nicht einmal, wenn er sich die Ohren zuhielt.

Jackson schnappte nach Luft, als er ein Rumpeln hörte. Als er spürte, dass der Fahrstuhl wieder nach oben fuhr, öffnete er die Augen und nahm die Hände von seinen Ohren. Er wischte sich die Tränen weg, schaute zur Decke hinauf und atmete zitternd aus.

Heute Nacht ging irgendetwas Merkwürdiges vor sich. Zuerst das Baby, dann die Kinder und jetzt der Onkel mit seinem Neffen. Es war alles so schrecklich.

Und so vertraut.

Das machte ihm am meisten Angst.

Jackson wusste, dass er zum Notfalltelefon hätte greifen, den Nachtportier anrufen und ihm erzählen müssen, was er gesehen hatte.

Aber er konnte seinen Arm einfach nicht zu dem roten Telefon an der Wand ausstrecken.

Ich ruf ihn an, sobald ich sicher in meiner Wohnung gelandet bin, beschloss er. Wenn ich ein paar Gläser Scotch intus habe.

Schließlich würde er schon bald in seiner Wohnung sein.

Es sei denn …

Nein! Nicht schon wieder! Warum?

Er presste sich dicht an die Rückwand und fragte sich, welche Schrecken ihn als Nächstes draußen erwarteten.

Was haben die Geister noch für mich in der Hinterhand?, dachte er. Gloria? Weißt du es?

Im Gegensatz zu vielen anderen Teenagern verspürte er nicht den Wunsch, Belford zu verlassen und in eine größere, aufregendere Stadt zu ziehen. Er war zufrieden damit, zu Hause zu wohnen. Michael war in der Hoffnung nach New York gezogen, als Mitglied einer Band berühmt zu werden – er spielte Schlagzeug –, aber obwohl sein Bruder ihm ständig Postkarten schickte und ihn aufforderte, ebenfalls in den Big Apple zu ziehen, wollte er seine Eltern, Belford und seine verbliebenen Freunde nicht einfach so im Stich lassen.

Dann war sogar sein Lieblingsonkel Walter, der Bruder seines Vaters, bei ihnen eingezogen. Er wohnte in Michaels Zimmer und war ein liebevoller, lustiger, großzügiger Mann, der die Stadt oft aufgrund seiner Geschäfte verlassen musste und anschließend mit Geschenken wie neuen Turnschuhen oder einem Stapel Comics zurückkam.

Er lebte sehr gerne in Belford. Manchmal half er sogar in der Tierhandlung aus und verdiente sich ein bisschen Geld dazu, mit dem er Verabredungen mit einigen der attraktivsten Mädchen der Stadt finanzierte. Auch wenn New York natürlich sehr aufregend klang, konnte er Belford nicht verlassen. Es gab für ihn keinen Grund zu gehen, jedenfalls wäre ihm keiner eingefallen. Alles war gut.

Die Tür öffnete sich. Jackson erkannte einen Mann vor sich. Er konnte nicht genau sagen, wie alt er war. Der Mann saß ein Stück entfernt auf dem Korridor – in einem Stuhl mit dem Rücken zum Fahrstuhl. Es fiel kaum Licht auf seine starre Silhouette. Der Mann hatte kurz geschorenes, schwarzes Haar, so viel konnte Jackson erkennen, und er schien gar nichts zu tun.

Trotzdem löste er Unbehagen bei Jackson aus.

Was zur Hölle macht der da?

Jackson schluckte. »Äh, entschuldigen Sie, Sir. Können Sie mir vielleicht sagen, was hier los ist?«

Der Mann antwortete nicht.

Jackson überraschte das nicht. Schließlich hatten ihn heute Nacht auch alle anderen ignoriert, warum sollte es bei ihm hier also anders sein?

Jackson versuchte es erneut. »Haben Sie auf den Fahrstuhlknopf gedrückt? Wer sind Sie? Warum sitzen Sie da?«

Der Mann antwortete, indem er sich ein Streichholz anzündete.

Jackson verließ seine Position an der Rückwand des Aufzugs und schlich sich zur Tür. Er beobachtete, wie der Mann das Streichholz vor sein Gesicht hielt.

Er zündet sich nur eine Zigarette an, dachte Jackson etwas erleichtert.

Er wartete, dass der Mann sich die Zigarette ansteckte. Als das Streichholz jedoch abgebrannt war, zündete er nur ein weiteres an, saß da und starrte auf die kleine Flamme.

(Ich weiß alles. Alles, dein ganzes Leben, war eine einzige große Lüge. Und ich weiß alles …)

Jackson wurde unwohl. »Hol mich hier raus«, murmelte er.

Der Mann warf ein weiteres abgebranntes Streichholz auf den Boden und zündete ein drittes an.

»Hol mich verdammt noch mal hier raus, Gloria.«

Aber die Tür schloss sich nicht.

Der Fahrstuhl spielte mit ihm, quälte ihn, genau wie die Kinder, die den armen Jungen unten im dritten Stock gehänselt hatten.

»Ich will hier raus.«

Er verstand nicht, was passierte, was Gloria ihm zu sagen versuchte, aber er wusste, dass es im Gebäude heute Nacht hätte ruhig sein müssen.

Was wollen die von mir? Wer sind die? Was sind die?

Jackson zitterte. Heute Nacht hatte er nicht das Bedürfnis verspürt, seine Fantasien auszuleben. Heute Nacht war er einfach durch die Gegend gelaufen, aber er wusste, dass er morgen wieder losziehen, eine willige Mitspielerin finden und ihr zeigen musste, dass es auf der Welt wirklich Schutzengel gab, die das Leben der Menschen lenkten.

»Gloria«, brüllte Jackson, doch der Mann drehte sich noch immer nicht um.

Der Fahrstuhl schien noch düsterer und enger zu werden, als er es ohnehin schon war. Jackson wollte fliehen und die verfluchte Kabine ein für alle Mal verlassen, aber er hatte zu große Angst, an dem Mann vorbeizurennen und sein Gesicht zu sehen. Er hatte Angst davor, was er dann vielleicht erkennen würde.

Davor, wer dieser Mann vielleicht sein könnte.

Ich werde verrückt. Das ist es doch, Gloria, nicht wahr? Ich werde wahnsinnig.

(Ich dachte, du wärst auch nur so ein Mistkerl, ein verlogener, widerlicher Kerl. Aber jetzt weiß ich, dass noch mehr dahintersteckt. Es ist noch schlimmer. Viel schlimmer. Das Komische ist, das ein kleiner Teil von mir sich fragt, ob all das wirklich allein deine Schuld ist. Ob du vielleicht gar nicht allein bestimmen konntest, wie dein Leben verläuft. Vielleicht, nur vielleicht, bist du ja wirklich verrückt …)

Die Fahrstuhltür schloss sich.

Das wird auch Zeit, dachte er und war froh, als er den auf dem Stuhl sitzenden Mann nicht länger ansehen musste.

Jackson fühlte sich nicht wohl. Abgesehen von dem Zittern rann ihm nun auch der kalte Schweiß in Strömen über den Körper.

Er brauchte unbedingt etwas zu trinken.

Es war die längste Fahrstuhlfahrt, die Jackson je erlebt hatte. Er schwor sich, dass er diesen Lift nie wieder benutzen würde. Künftig würde er nur noch die Treppe nehmen, auch wenn sie noch so düster, widerwärtig stinkend und voller Junkies war. Selbst in Nächten, in denen er seinen Bedürfnissen nachgab, würde er in Zukunft über die Treppe gehen, ganz egal, wie viel Überwindung es ihn auch kosten mochte.

Der Fahrstuhl hielt auf seiner Etage.

Mit 18 zog er schließlich doch zu Hause aus, aber nicht, weil er von Belford oder seinen Eltern die Nase voll hatte. Nein, er liebte sie immer noch, auch seinen Onkel Walter. Er hatte einfach nur das Gefühl, dass es an der Zeit war, die Welt kennenzulernen und etwas aus sich zu machen. Er fuhr mit dem Zug nach New York, um Michael zu besuchen. Eigentlich sollte es nur ein kurzer Besuch werden. Er wollte nur für ein paar Tage bei ihm vorbeischauen und Hallo sagen, alles erleben, was New York zu bieten hatte, und es richtig krachen lassen, wie man so schön sagte. Aber die Stadt gefiel ihm so gut, dass er sich zum Bleiben entschloss. Anfangs wohnte er bei seinem Bruder, aber Michael verliebte sich schon kurze Zeit später in eine schwarze Barsängerin, sodass er sich eine eigene Wohnung suchen musste, was er auch tat: zwei winzige Zimmer mitten in Queens. Er fand einen Job in einer Wurstfabrik und versuchte nebenbei herauszufinden, was er mit seinem Leben anfangen wollte.

Die Arbeit war nicht gerade weltbewegend und die Bezahlung alles andere als üppig, aber er lernte ein paar wirklich tolle Jungs kennen, mit denen er jeden Abend feiern ging und jede Menge Spaß hatte. Jetzt erkannte auch er die Reize dieser fantastischen Stadt und verstand, warum sein Bruder gewollt hatte, dass er zu ihm zog. Zuerst verliebte er sich in den Big Apple und ein Jahr später in eine atemberaubende Brünette.

Das Leben war großartig.

Mit einem letzten Ruck kam die Fahrstuhlkabine zum Stehen, während sich die Tür langsam öffnete.

Scheiß Fahrstuhl!, fluchte Jackson, war jedoch erleichtert, dass er es bis in den obersten Stock geschafft hatte.

Morgen würde er dem Hausmeister sagen, dass das Ding eine Generalüberholung nötig hatte.

Aber im Moment wollte er nur noch in seine Wohnung und …

Jackson stieß ein lautes Kreischen aus, als er sie sah.

Nein, nein, nein, nein, nein, nein …

Er blieb wie angewurzelt im Fahrstuhl stehen und starrte mit ungläubigem Entsetzen auf den schrecklichen Anblick, der sich ihm bot.

Jackson hatte in seinem Leben schon viel Mord und Totschlag gesehen, aber beim Anblick des Blutbads, das sich über den orangebraunen Teppichboden ergoss, wurde ihm übel.

Es kam ihm irreal vor, so als würde lediglich ein Film vor ihm ablaufen: die Frau auf dem Boden, der Mann, der über ihr kniete und ihren leblosen Körper aufschlitzte.

Er hatte ein überwältigendes Gefühl von Déjà-vu. Ihm war furchtbar übel und er fühlte sich vollkommen verwirrt.

Hilf mir, Gloria. Bitte, hilf mir!

Der Mörder erhob sich, drehte sich zu ihm um und trat aus den Schatten auf Jackson zu.

»Lass mich in Ruhe«, schrie Jackson. Er rannte zum Fahrstuhl zurück und trommelte panisch auf den Knopf für das Erdgeschoss.

Nichts passierte.

Er griff nach dem roten Notfalltelefon und hielt sich den Hörer ans Ohr.

Das Rauschen dröhnte in seinen Ohren. Der Hörer knallte gegen die Wand, als er Jackson aus der Hand fiel.

Der Mörder kam immer näher.

»Was willst du?«, brüllte Jackson. »Lass mich in Ruhe. Ich werd’s niemandem sagen. Wie könnte ich auch? Ich bin wie du.«

Der Mörder blieb stehen, als er den Fahrstuhl erreichte. Er starrte zu Jackson in die Kabine.

Jackson starrte zu dem Mörder hinaus. Und sah …

(Wer bist du wirklich? Ich weiß es nicht. Und ich glaube, du weißt es auch nicht. Du lebst in zwei Welten, in zwei Wirklichkeiten. Und jetzt, wo ich hier stehe, weiß ich nicht, ob ich dich bemitleiden oder hassen soll …)

Er schrie.

Ein mächtiges, knarrendes Donnern brachte Jackson zum Verstummen. Der Fahrstuhl begann zu beben. Jackson wich in eine Ecke zurück und hockte sich hin. Tränen liefen über seine Wangen.

Das kann nicht sein, das kann nicht sein, das kann nicht sein …

Er musste es sich eingebildet haben – es war schlicht nicht möglich.

Während der Fahrstuhl weiter wie eine Achterbahn auf einem Jahrmarkt vibrierte, gelangte Jackson zu dem Schluss, dass es sich bei dem, was er gerade erlebt hatte, um eine Halluzination handeln musste. Vielleicht hatte er sich das Ganze ja nur eingebildet – dort draußen lag gar keine Leiche auf dem Boden und es war auch kein Killer hinter ihm her.

Nur mein Verstand, der mir einen Streich spielt.

Der Fahrstuhl war hingegen keine Sinnestäuschung. Er wurde tatsächlich wie von einem heftigen Anfall durchgeschüttelt, und Jackson musste zusehen, dass er verdammt noch mal ausstieg, ehe er ernsthaft verletzt wurde.

Er wischte sich über die Augen und stand auf. Beinahe wäre er ausgerutscht, aber es gelang ihm, sich auf den Beinen zu halten.

Da draußen ist nichts, sagte er sich. Da ist kein Killer und auch sonst niemand. Alles nur Einbildung.

Er riss sich zusammen, öffnete die Augen und sah hinaus.

Er schnappte nach Luft.

Sie stand da und starrte ihn direkt an. Ganz allein. Da waren keine Schnittwunden und es klebte kein Blut an ihr. Sie sah genauso schön aus wie immer – weiche, weiße Haut, wallendes, rabenschwarzes Haar. Und diese Augen … engelsgleiche, wissende Augen.

»Gloria«, murmelte Jackson.

Er hatte seit Jahren nicht mehr an sie gedacht. Hatte sie komplett aus seiner Erinnerung verbannt. Vor fünf Jahren war sie ihm das letzte Mal begegnet, sah aber noch genauso aus, wie er sie in Erinnerung hatte. Kein bisschen verändert.

»Was machst du hier?«, fragte Jackson.

»Dein ganzes Leben war eine Lüge«, sagte sie und in ihrer Stimme lag ein Anflug von Traurigkeit. »Und ich habe die Wahrheit herausgefunden, Jackson …«

Mit einem Mal hing der Fahrstuhl in völliger Dunkelheit. Jackson kreischte.

Funken regneten auf ihn herab. Der Lift tanzte weiter hin und her, dann war ein furchteinflößender, metallischer Knall zu hören, bevor die Kabine mit einem Ruck nach unten sackte.

Jackson stürzte auf den Korridor zu, aber als er in der Öffnung nach draußen stand, wurde er von einer unsichtbaren Wand zu Boden geworfen, die sich anfühlte wie eine zähflüssige Masse.

Sie würde ihn nicht entkommen lassen.

»Hilf mir«, rief er Gloria zu.

»Du wurdest in Belford geboren, so weit entspricht es der Wahrheit, aber alles andere, was du mir erzählt hast, war Blödsinn. Dein Vater war Alkoholiker und deine Mutter eine kalte, lieblose Frau. Sie hatten auch keine Tierhandlung. Dein Vater arbeitete in einem Beerdigungsinstitut, während deine Mutter fremde Männer mit nach Hause brachte, die auf der Durchreise waren …«

»Das ist nicht wahr«, brüllte Jackson. »Meine Mum hat mich geliebt …« Er rutschte aus, als er versuchte, wieder aufzustehen. Gloria stand nur da, sah ihm zu und sprach weiter.

»Deine Mum wäre bei deiner Geburt beinahe gestorben. Das hat sie dir nie verziehen. Als du noch ein Baby warst, hat sie dich in deiner Wiege in ihrem Schlafzimmer allein gelassen, während sie irgendwelche Fremden gefickt hat. Dein Bruder ist oft nach Hause gekommen, hat sie in flagranti erwischt und sich um dich gekümmert. Er hat dich mit auf sein Zimmer genommen, die Tür zugemacht und geweint. Er sagte, du hättest die ganze Zeit nur an die Wand gestarrt und dabei apathisch hin-und hergeschaukelt. Er hat dich geliebt, Jackson, aber er hat sich auch Sorgen um dich gemacht. Dein einziger Trost schien eine streunende Katze zu sein. Aber du hast sie getötet, als du fünf Jahre alt warst. Deine Mutter fand dich an ihrer Seite kauernd, ihr Genick war gebrochen …«

»Du lügst!«

»Dein Bruder ist mit 16 von zu Hause ausgezogen. Er hat die Misshandlungen nicht mehr länger ertragen. Du hast nie wieder etwas von ihm gehört. Du bist mit deinem saufenden Vater und deiner herumhurenden Mutter allein geblieben …«

»Schlampe! Ich wusste doch, dass es einen Grund gab, wieso ich dich verlassen habe.« Jackson versuchte erneut aufzustehen, aber der bebende Fahrstuhl warf ihn wieder um.

»Du bist zu einem sehr distanzierten Kind herangewachsen. Du hattest keine Freunde in der Schule und wurdest ständig gehänselt und verprügelt …«

»Ich hatte eine Menge Freunde!«

»Mädchen hatten kein Interesse an dir und je älter du wurdest, desto weiter hast du dich in dein Schneckenhaus zurückgezogen. Mit 15 hast du angefangen, Häuser anzuzünden und deine Eltern haben dich in eine Besserungsanstalt irgendwo in der New Yorker Provinz geschickt …«

»Nein!«

»Und sie haben dir gesagt, du sollst nie wieder zurückkommen. Mit 18 hast du die Besserungsanstalt verlassen und bist nach New York gezogen, wo du tatsächlich einen Job in einer Wurstfabrik gefunden hast, aber du hast nie bei deinem Bruder gewohnt und hattest auch keine Freunde …«

»Um Himmels willen, hilf mir, Gloria! Hilf mir aus diesem Fahrstuhl!«

»Du bist von einer Jugendstrafanstalt in die nächste gewandert, ein paarmal warst du sogar im Gefängnis. Du hast das traurige Leben eines Kleinkriminellen in irgendeinem Drecksloch in Queens geführt, als du mich kennengelernt hast …«

»Ich hab keine Ahnung, wovon du da redest.«

»Eine Zeit lang hast du mich erfolgreich aufs Glatteis geführt, hast es sogar geschafft, dass ich mich in dich verliebte und dich für etwas hielt, was du gar nicht warst. Hast mir jede Menge verlogene Geschichten über dein beschissenes, gescheitertes Leben erzählt, aber ich habe die Wahrheit trotzdem herausgefunden. Ich kenne auch die Wahrheit über deinen Onkel Walter. Ich weiß, warum er dir wirklich all diese Geschenke gekauft hat …«

»Er wird abstürzen! Hilf mir! Ich werde sterben, wenn du mir nicht hilfst!«

»Aber ich hätte nie gedacht, dass du dazu fähig bist, jemanden zu vergewaltigen, Jackson. Gott, sieh dich nur an. Ich wette, in ein paar Jahren wirst du dich nicht einmal mehr daran erinnern. Ich wette, du wischst das alles einfach beiseite und denkst dir irgendeine Fantasiegeschichte aus, so, wie du es immer getan hast. Nun, ich hoffe, du bleibst für immer hinter diesen Gittern und kommst nie wieder raus. Denn ich hasse den Gedanken daran, was passieren könnte, wenn du je wieder frei herumläufst. Deine Schwäche wird dein Untergang sein, vergiss das nie. Leb wohl, Jackson.«

Während er in der Dunkelheit des Fahrstuhls lag und die Funken auf ihn herabregneten, unfähig zu entkommen, sah Jackson zu, wie die Umrisse von Gloria allmählich verblassten. »Gloria, warte …« Aber sie war bereits verschwunden.

Er blieb mit nichts als seinen verdrängten Erinnerungen und einem kaputten Fahrstuhl zurück.

Plötzlich hörte er ein ohrenbetäubendes Knallen, als das Kabel doch noch riss.

Nur der Nachtportier war noch wach und wurde Zeuge der Verwüstung, die der Fahrstuhl anrichtete, als er sechs Stockwerke tief in seine letzte Ruhestätte in der Lobby hinunterrauschte.

Und die Wahrheit wird dich frei machen …

Schließlich fand er einen guten Job in der Werbebranche, kurz nachdem er und Gloria in einem Apartment in Manhattan zusammengezogen waren. Sie lebten ganz in der Nähe seines Bruders und dessen Frau, gingen gemeinsam in Bars, sahen zu, wenn die Band seines Bruders spielte, und lauschten den Auftritten von dessen Frau.

Es war ein großartiges Leben.

Irgendwann, ganz langsam, hielt eine Veränderung Einzug. Er liebte Gloria noch immer, aber sie wurde zunehmend distanzierter, kam spätabends nach Hause und flirtete in Bars mit anderen Männern.

Er sagte ihr, sie müsse ausziehen – er bezahlte die Miete –, als er sie mit einem anderen Kerl im Bett erwischte, und obwohl sie ihn anflehte, ihr noch eine Chance zu geben, weigerte er sich. Schließlich ging sie doch.

Er behielt die Wohnung, auch als das Gebäude immer mehr vor die Hunde ging, und hatte nur noch One-Night-Stands. Er wollte nicht noch einmal in eine Beziehung investieren und das Risiko eingehen, wieder verletzt zu werden.

Fünf Jahre vergingen und er hatte Gloria beinahe vergessen.

Er verliebte sich in das Singleleben, ging jeden Abend aus und gierte nach neuen Eroberungen.

Dazu war er bestimmt, das erkannte er nun.

In den ruhigen Nächten, in denen er alleine in seiner Wohnung saß und über sein bisheriges Leben nachdachte, wusste er, dass er ein gutes Leben sehen würde, wenn er eines Tages vor seinen Schöpfer gerufen und seine komplette Reise noch einmal vor seinem inneren Auge ablaufen würde, so, wie es angeblich kurz vor dem Tod geschah – erfüllt mit Sinn, Glück und Freude. Die Wahrheit.

Genau so, wie sein Schutzengel es ihm immer versprochen hatte.

NOTIZEN ZUR ENTSTEHUNG:

Das Meeresrauschen in der Muschel gehört zu einer Handvoll Geschichten, die in New York spielen, und ist eine von vielen, die von Serienkillern handeln – beides Themen, die mich unendlich faszinieren. Dies ist meine Version des »Dein Leben läuft noch einmal vor deinem inneren Auge ab«-Motivs. Und noch eine kleine Randnotiz: In dieser Geschichte ist von der erfundenen Kleinstadt Belford die Rede. Auch wenn ich sie hier nur flüchtig erwähnte, wird sie doch in Zukunft als Schauplatz einiger meiner Werke erneut zum Einsatz kommen. Allen voran in dem Roman über das Erwachsenwerden, an dem ich derzeit arbeite.