Die Gegend, die Einheimische unter dem Namen Little Lon kennen, ist für ihre Laster und ihre Verbrechen berüchtigt. Es ist eine dunkle, übel riechende Enklave mit einer Ansammlung schmutziger, dicht an dicht gebauter Holzhäuschen und Backsteingebäuden. Billige Absteigen und Opiumhöhlen drängen sich dicht an dicht mit den schäbigsten Kneipen in ganz Melbourne. Dieses kleine Elendsviertel am Stadtrand liegt meilenweit von den Theatern und Boutiquen der Collins Street entfernt. Obwohl man es nicht ganz mit den heruntergekommenen Armenvierteln des Londoner East End vergleichen kann, in denen Tausende trauriger, von Armut gebeutelter Männer, Frauen und Kinder in entsetzlichem Elend hausen, ist doch auch Little Lon kein Ort, den ein anständiger Mensch nach Einbruch der Dunkelheit freiwillig besuchen würde. In ärmlichen Baracken inmitten des erdrückenden Gestanks aus verrottendem Abfall und Industrieabgasen leben ganz gewiss auch anständige Familien. Aber sie sind gegenüber den betrunkenen, von Drogen vernebelten Einwohnern, die in der Dunkelheit aus ihren Löchern kriechen und die Nacht in einem Dunst der Sittenlosigkeit vergeuden, eindeutig in der Minderheit.
Hier sind auch die zahlreichen Bordelle einer gewissen Caroline Hodgson zu finden, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Madame Brussels. Die meisten dieser Bordelle sind in zweistöckigen Holzreihenhäusern und großen Ziegelsteingebäuden untergebracht und scheinen die gesamte Lonsdale Street abzudecken. Darunter mischen sich einzelne Kaschemmen, etwa »The Duke on Little Lonsdale«, wo sich die raubeinigsten Kerle bis in die frühen Morgenstunden mit Bier und Gin betrinken. Abseits der spärlichen Beleuchtung der Hauptstraßen warten dunkle Gassen, in denen das Laster und der unverkennbare Gestank von Opium die faule Atmosphäre zusätzlich verpesten.
Es war in einer dieser finsteren Gassen, wo man in den frühen Morgenstunden des 31. August die Leiche der ersten ermordeten Prostituierten entdeckte. Die 42-jährige Emma Doyle stammte ursprünglich aus Irland und wurde mit durchschnittener Kehle und aufgeschlitztem Bauch gefunden. Ihre Eingeweide quollen aus der Wunde hervor. Doyle, eine aktenkundige Amüsierdame, wurde zuletzt gesehen, als sie gegen zwei Uhr morgens alleine auf der Little Lonsdale Street in Richtung Osten schlenderte. Kurz nach halb vier stieß ein Mann, der sich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause befand, auf dem Pflaster vor seinem winzigen Backsteinhäuschen in Castletown Place, einer dunklen, schmalen Seitengasse der Little Lonsdale Street, auf die Leiche.
Die Uhrzeit und das Datum des Mordes sowie die zugefügten Verletzungen stimmen vollständig mit denen des dritten Mordopfers von Jack the Ripper, Mary Ann Nichols, überein, deren verstümmelte Leiche in der Buck’s Row in Whitechapel auf dem Trottoir lag.
Während ich vor der Reihe aus sechs roten Backsteinhäusern in Castletown Place stehe, erlebe ich ein Déjà-vu der besonderen Art. Die Gegend gleicht auf unheimliche Art und Weise dem Tatort in der Buck’s Row, an dem sich vor vier Jahren einer der Whitechapel-Morde ereignete. Es kommt mir beinahe so vor, als wäre ich durch die Zeit an einen anderen Ort zurückgereist. Ich leuchte mit meiner Blendlaterne auf den Boden vor dem Backsteinhaus und kann noch immer Blutspuren auf dem Kopfsteinpflaster und im Rinnstein erkennen. Ich glaube fast, den verrückten Mörder vor mir zu sehen, der sich über die arme Frau beugt, ihr zunächst die Kehle aufschlitzt und sich dann an ihrem Bauch zu schaffen macht. Genau wie bei den abgeschlachteten Opfern von Jack the Ripper hat auch hier niemand etwas gesehen oder gehört – und das, obwohl ein halbes Dutzend Familien in den Reihenhäusern wohnt, neben denen die Frau ermordet wurde.
Es ist kurz nach zehn Uhr abends. Der Nebel liegt wie ein dicker Schleier über der Stadt und der starke, beißende Geruch von vermoderndem Abfall hängt schwer in der Luft. Als ich mit einigen der Einwohner spreche, erfahre ich, dass man in Little Lon keine Sperrstunde kennt. Laut einem Mann, der regelmäßig im Black Eagle Hotel in der Lonsdale Street verkehrt, wimmelt es in diesem kleinen Viertel ständig von Menschen. Dabei besteht kein Unterschied zwischen zehn Uhr morgens und drei Uhr nachts. Ein leichtes Mädchen, dem ich zufällig begegne, bestätigt das: Hier sind überall Menschen, zu jeder Tages-und Nachtzeit. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Und dennoch will den Mord an Doyle niemand gesehen oder gehört haben.
Es stimmt, dass Castletown Place eine besonders finstere Gasse ist, in der ungefähr auf halber Strecke eine einsame Gaslaterne steht, was große Teile des Weges unbeleuchtet lässt. Aber dennoch kann ich in dieser kühlen Frühlingsnacht ständig Menschen auf der Little Lonsdale Street vorbeischlendern sehen. Es vergehen selten mehr als zehn Minuten, bis mir jemand in der Gasse begegnet – entweder befindet er sich auf dem Weg von der Arbeit oder zur Arbeit oder er nutzt die Gasse für geschäftliche Zwecke. Es ist schwer vorstellbar, dass hier jemand eine Frau ermorden und aufschlitzen kann, ohne dabei auf frischer Tat ertappt zu werden.
Aber genau das ist in Castletown Place passiert.
Und genau das ist in der letzten Woche beim zweiten Melbourner Prostituiertenmord wieder passiert.
Er wurde nur eine Meile von Castletown Place entfernt verübt – in einer anderen Gasse im Norden von Little Lonsdale, verborgen zwischen den engen Häusern und dem Schmutz dieses Elendsviertels.
Cumberland Place ist die längste Hauptstraße in einem aus sechs Blocks bestehenden Raster. Und sie gehört zu den breiter angelegten Verkehrswegen in Little Lon. Hier wohnen Familien aus Irland, China und Osteuropa. Barfüßige Kinder rennen kreischend und lachend durch die verwinkelten Gassen und sind ebenso dreckig wie die Straße selbst. Pferdemist türmt sich neben Müll und Abfall auf. In den Hinterhöfen und oft sogar in den kleinen Vorgärten der Häuser stehen schwer beladene Wäscheleinen. Trotzdem sich die Einwohner alle Mühe geben, ihre Häuser sauber zu halten, sind es doch nicht viel mehr als heruntergekommene Baracken, die aussehen, als würden sie schon beim kleinsten Windstoß in sich zusammenfallen.
Während ich an der Ecke Cumberland und McCormack Place stehe und die kühle Morgenluft allmählich einem hellen, ungewöhnlich warmen Septembertag Platz macht, stelle ich mir die Frage, warum der Mörder ausgerechnet hierher gekommen ist, mitten ins Herz dieses Labyrinths namens Little Lon. Das nächste Bordell liegt mehrere Straßen entfernt und selbst wenn in der Nachbarschaft mehrere Kneipen zu finden sind, empfinde ich sie längst nicht als so verrucht wie jene auf den wichtigsten Hauptschlagadern, beispielsweise der Lonsdale Street. Und dennoch wurde hier irgendwann in den frühen Morgenstunden des 8. dieses Monats eine Frau auf brutale Weise im Hinterhof des Eckhauses in Cumberland Place abgeschlachtet. Wie schon bei dem eine Woche zuvor begangenen Mord und bei den Taten in Whitechapel hat niemand etwas gesehen oder gehört – obwohl zur Tatzeit eine fünfköpfige Familie in dem betreffenden Haus schlief.
Eine der Bewohnerinnen führt mich in den Hinterhof des grünen Holzhauses, eine Dame namens Joyce Snell. Der Hof ist von der Straße aus über eine Seitentür zugänglich, die laut Mrs. Snell niemals abgeschlossen ist. »Hier in der Nachbarschaft schließt niemand seine Türen ab«, erklärt sie. »Hier kennt jeder jeden, hier herrscht immer ein Kommen und Gehen, Tag und Nacht. Man braucht keinen Schlüssel, wenn man in den Hinterhof möchte. Jeder kann die Tür einfach aufmachen und reingehen.«
Der Hinterhof selbst ist, wie viele andere in dieser Gegend, winzig. Abgesehen von einer Toilette in der hinteren Ecke und einem Tisch, der an der Wand steht, hat er nicht viel zu bieten. Ein Pfad aus Pflastersteinen führt von der Hintertreppe zu dem kleinen Toilettenhäuschen. Mrs. Snell zeigt mir die Stelle, an der die Frau umgebracht wurde.
»Mein ältester Sohn hat die Leiche gefunden«, berichtet Mrs. Snell und ihre Stimme zittert. Ganz offensichtlich steht sie immer noch unter Schock. »Er ist gegen sechs Uhr morgens nach draußen gegangen und hat an der hinteren Mauer irgendetwas auf dem Boden liegen sehen.«
Mrs. Snell deutet auf eine Stelle aus zerbröckeltem Beton in der Nähe der Steinmauer, die an Providence Place grenzt, eine Parallelgasse zum Cumberland Place. Auf der Mauer, zwischen den Rissen, sind noch immer verschmierte, rotbraune Flecken zu erkennen. »Zuerst hat er gedacht, es sei nur ein Haufen Müll, den jemand in unserem Hinterhof abgeladen hat, oder irgendein Betrunkener aus der Gegend. Mein Sohn ist dann hingegangen, um sich die Sache im Schein seiner Kerze aus der Nähe zu betrachten. Da hat er gesehen, dass es sich um die Leiche einer Frau handelt. Sie war komplett aufgeschlitzt.«
Die 46 Jahre alte Tess Haynes, eine weitere stadtbekannte Prostituierte, wurde mit beinahe vollständig abgetrenntem Kopf und aufgeschlitztem Bauch aufgefunden. Der Täter hatte ihr die Eingeweide aus dem Körper entfernt und über ihrer rechten Schulter ausgebreitet. Von einigen Organen fehlte jedoch jede Spur.
»Es war das Entsetzlichste, was ich je gesehen habe, und ich werde diesen Anblick bis an mein Lebensende nicht vergessen. Wann immer ich meine Augen schließe, sehe ich diese arme Frau mit offenem Bauch und heraushängenden Eingeweiden vor mir.«
Dann hat weder sie noch ein anderes Mitglied ihrer Familie etwas gehört? Einen Kampf? Einen Hilfeschrei?
»Nein«, beteuert Mrs. Snell schweren Herzens. »Wir haben alle einen leichten Schlaf und trotzdem hat keiner von uns etwas gehört. Dabei muss es nicht lange, nachdem Johnny zur Toilette ging, passiert sein – mein Mann war gegen fünf Uhr noch im Hinterhof, aber er hat nichts Ungewöhnliches bemerkt. Ich bin mir sicher, dass er die Leiche an der Wand hätte liegen sehen, wenn sie bereits dort gewesen wäre.«
Laut Mrs. Snell wird der Hinterhof oft von Prostituierten für ihre geschäftlichen Angelegenheiten genutzt. Viele dieser abgelegenen Ecken in der Gegend sind bekannte Treffs für sexuelle Vergnügungen – Orte, an denen die Prostituierten und ihre Freier zumindest ein wenig Privatsphäre genießen und sich nicht im direkten Blickfeld der Polizei befinden.
»Wir mussten schon oft kopulierende Pärchen aus unserem Hof verscheuchen«, bestätigt Mrs. Snell. »Es ist nicht ungewöhnlich, mitten in der Nacht hier herauszukommen und einen Mann und eine Frau bei ihrem wollüstigen Treiben vorzufinden. Manchmal wird der Hinterhof auch von Betrunkenen genutzt, die entweder zu viel Angst haben oder einfach zu voll sind, um nachts noch nach Hause zu gehen. Sie torkeln dann einfach hier rein und rollen sich in einer Ecke zusammen, um ihren Rausch auszuschlafen.«
Werden sie und ihre Familie von nun an die Tür zum Hinterhof abschließen?
»Guter Gott, nein«, schnaubt Mrs. Snell. »Es ist wirklich schrecklich, was da passiert ist, aber es wäre nicht sehr sinnvoll, die Tür abzuschließen. Wer kann sich denn auch so ein Schloss leisten? Allerdings habe ich es allmählich satt, dass ständig Leute hier vorbeikommen und in meinen Hinterhof glotzen. Es ist einfach makaber, wie scharf die darauf sind, einen Blick auf den Tatort zu werfen. Und es sind nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene, Männer wie Frauen. Und die sollten es wirklich besser wissen.«
In der kurzen Zeit, die ich im Hinterhof der Snells verbracht habe, sind mindestens ein Dutzend Köpfe über dem Zaun aufgetaucht oder die Schaulustigen haben sogar direkt den Hof betreten, um einen Blick auf den Tatort des zweiten Mordes zu erhaschen.
Da sie die Leiche ja gesehen hat: Glaubt Mrs. Snell an einen aus dem Jenseits zurückgekehrten Mörder oder doch eher an einen Nachahmungstäter?
»Ich glaube nicht an Geister und was ich an jenem Morgen gesehen habe, war eindeutig real. Ich bin mir sicher, dass es irgendein Verrückter war, der entweder denselben Ruhm wie Jack the Ripper sucht oder die ganze Sache als kranken Scherz betrachtet. Mit all dem Gerede in den Zeitungen darüber, dass Deeming Jack the Ripper sein soll, und mit seinen schrecklichen Verbrechen und seiner Hinrichtung vor einiger Zeit – da muss man sich nicht wundern, dass der eine oder andere verrückt spielt. Und dabei könnte es jeder sein, sogar einer aus der Nachbarschaft, den ich schon mein Leben lang kenne – es könnten auch genauso gut Sie sein.«
Mrs. Snell lacht mich an. Ich lache zurück und sage ihr, dass das ein vollkommen absurder Gedanke ist. Ich stamme ja noch nicht einmal aus dieser Gegend.
»Ich weiß. Aber für jemanden, der sich in den Straßen hier nicht auskennt, haben Sie mein Haus ziemlich schnell gefunden. Normalerweise brauchen die Journalisten den ganzen Tag und müssen sich bei den Nachbarn durchfragen, um unser kleines Zuhause zu finden.«
Ich könne Blut aus meilenweiter Entfernung riechen, versichere ich Mrs. Snell scherzhaft. Das sei der Journalist in mir.
Es gibt also zwei Delikte, die den berüchtigten, vier Jahre zurückliegenden Whitechapel-Morden sehr ähneln, sowohl hinsichtlich des Datums und der Uhrzeit als auch des Modus Operandi. Haben wir es mit einem Nachahmungstäter oder mit dem Geist von Mad Fred Deeming zu tun?
»Definitiv mit einem Nachahmungstäter«, versichert mir Constable Adam Neil. »Ich habe den Tod schon oft genug gesehen, um zu wissen, dass ein Mensch hinter den brutalen Taten in Little Lon steckt, kein verdammter Geist. Und seien Sie versichert, dass wir alles, was in unserer Macht steht, tun werden, um diesen Wahnsinnigen zu fassen, bevor er wieder tötet. Ich meine, bei Gott, wer immer dieser Kerl auch ist, er ahmt die Ripper-Morde nicht sonderlich gut nach – er hat schließlich mit dem dritten Opfer angefangen. Was sagt Ihnen das?«
Vielleicht hat Jack die ersten beiden Frauen damals ja gar nicht getötet, schlage ich Constable Neil als Erklärung vor. Ich bin schon seit Langem der Ansicht, dass der Ripper nur für fünf der Morde verantwortlich zeichnet, nicht für alle neun, die dem Verbrecher von Whitechapel in der Regel zugeschrieben werden. Nichols wäre demnach das erste, Kelly das letzte Opfer gewesen. Und wenn diese Annahme zutrifft, würde das dann nicht auch bedeuten, dass der Nachahmungstäter tatsächlich eine Menge über die Ripper-Morde weiß? Und würde es andererseits nicht auch die These unterstützen, dass die Morde doch vom Geist des Rippers begangen wurden – vom Geist von Fred Deeming?
»Ha!«, entfährt es Constable Neil und tiefe Falten graben sich in seine junge Stirn. »Das ist wirklich ein starkes Stück, das muss ich schon sagen. Der Ripper hat neun Frauen umgebracht und Geister gibt es nicht. Und der Irre, der diese Prostituierten aufgeschlitzt hat, wer immer er auch sein mag, ist deshalb einfach nur ein Narr, der seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Wir werden ihn ganz sicher schnappen, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«
War Deeming nun also Jack the Ripper?
Wir wissen, dass Deeming zu einem Mord in der Lage war, sogar zu besonders gewalttätigen und kaltblütigen Taten. Aus diesem Grund hat es auch nicht lange gedauert, bis Zeitungen in aller Welt eine Verbindung zwischen Deeming und Jack the Ripper herstellten. Immerhin ist er Brite und hat seine beiden Frauen und seine drei Kinder getötet, indem er ihnen die Kehle aufschlitzte. Er gab außerdem zu, in der Zeit, zu der sich die Morde ereigneten, mehrere Messer in Whitechapel gekauft zu haben. Eine Londoner Schneiderin identifizierte Deeming darüber hinaus als den Mann, mit dem sie in der Nacht des Doppelmordes in Whitechapel als auch am Morgen danach zusammen gewesen war. Er hatte ihr gegenüber ein auffallend detailliertes Wissen über die Eddowes-Morde an den Tag gelegt. Allem Anschein nach suchte er sie also nicht nur am 30. September auf, sondern auch am darauffolgenden Morgen. Obwohl Deeming sich der Dame als Mr. Lawson vorstellte, identifizierte die Schneiderin den Mann, der bei ihr gewesen war und ihr mit seinen Berichten über die Verstümmelungen entsetzliche Angst eingejagt hatte, als Fred Deeming, als man ihr ein Foto von ihm zeigte. Es ist außerdem interessant zu wissen, dass Deemings Vater mehrfach versuchte, sich das Leben zu nehmen, indem er sich seine Kehle mit einem Messer aufschnitt.
»Er hasste seinen Vater zutiefst«, berichtet Dr. Shields, ein Arzt im Gefängnis von Melbourne. »Frederick wurde von seinem Leumund verprügelt, als er noch ein Kind war. Diese heftigen Prügel müssen bleibende Schäden bei dem Jungen hinterlassen haben, sowohl körperliche als auch seelische. Er klammerte sich an seine Mutter, zu der er eine sehr enge Beziehung hatte. Sie war Lehrerin in der Sonntagsschule und bläute ihm ihre Ansichten über Sünde und Strafe ein. Er hat mir erzählt, wie sehr er seine Mutter geliebt hat und wie verzweifelt er war, als sie ’75 starb. Frederick war damals Anfang 20. So stark die Zuneigung zu seiner Mutter jedoch war, der Hass auf seinen Vater war ungleich stärker. Wenn ich ihm im Gefängnis begegnete, kam er mir abgestumpft und launisch vor. Er sagte mir, er denke oft über seine Vergangenheit nach und stelle sich vor, seine Mutter sei noch am Leben. Er hat mir anvertraut, dass er oft mit ihr spricht, jede Nacht um zwei Uhr, und dass sie ihm verschiedene Dinge aufträgt. Sie habe ihm auch gesagt, er solle seine beiden Ehefrauen und seine Kinder umbringen.
Als ich ihn nach seinem Vater fragte, bekam er ein knallrotes Gesicht. Er war vollkommen außer sich und brüllte mich an, wie sehr er sich wünsche, seinem Vater persönlich die Kehle aufgeschlitzt zu haben, weil er es ganz sicher richtig gemacht und nicht jedes Mal wieder vermasselt hätte wie sein Vater. Da ich mit dem Mann gesprochen habe, habe ich keinen Zweifel mehr daran, dass er von irgendeiner Form des Wahnsinns befallen war, dessen Ursachen teils in seiner Kindheit liegen, teils aber auch auf einer Geisteskrankheit beruhen, die durch eine Syphilis im Endstadium ausgelöst wurde. Er erzählte mir, er habe sich auf die Suche nach der Frau begeben, bei der er sich mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt hatte, und gestand mir, dass er die Absicht gehabt habe, sie zu töten. Dann fügte er mit seltsam klingender Stimme hinzu: ›Aber ich habe mich nicht nur an ihr gerächt, wie viele der anderen schon bald herausfinden sollten.‹ Er glaubte, man müsse all diese Frauen auslöschen.«
Als ich ihn frage, ob er Deeming für Jack the Ripper hält, bleibt mir der Mediziner eine Antwort schuldig. Er macht jedoch noch eine letzte Bemerkung über Deeming, die ebenso seltsam wie verwirrend ist:
»Seine Eltern waren nicht nur tief religiös, sie waren auch zutiefst abergläubisch. Sie glaubten an die Geisterwelt und behaupteten, selbst übersinnliche Fähigkeiten zu besitzen. Deeming erzählte mir, sein Vater habe ihm immer gesagt, er trage den Teufel in sich und werde eines Tages ein schreckliches Ende nehmen. Seine Mutter prophezeite sogar schon bei seiner Geburt, er werde irgendwann erhängt. Wann immer ich Deeming traf, klammerte er sich an seinem Gebetsbuch fest und in seiner Zelle fand man noch weitere Bücher, etwa Alte und neue Kirchenlieder und Foxes Buch der Märtyrer. Er hat es mir gegenüber zwar nie erwähnt, aber ich nehme an, dass seine Eltern ihren Glauben an die Geisterwelt und übersinnliche Fähigkeiten an ihn weitergegeben haben.«
Die mit Sicherheit vernichtendste Antwort auf meine Frage, ob Deeming der Ripper gewesen sein könnte, bekomme ich jedoch aus einer unerwarteten Ecke – von einem von Mad Freds Mithäftlingen im Gefängnis von Melbourne.
Der Mann, der darum gebeten hat, anonym zu bleiben, nahm Kontakt zu mir auf, als er von den Morden an den Prostituierten in der Stadt gehört hatte und erfuhr, dass ich an einem Artikel darüber arbeite. Da er sich endlich von der Last seines Wissens und vielleicht auch von der Schuld befreien wollte, die er in den letzten fünf Monaten mit sich herumgeschleppt hatte, erzählte er mir die folgende erstaunliche Geschichte. Er schwört, dass sie der reinen Wahrheit entspricht und direkt von Deeming selbst stammt.
»Er war wirklich ein komischer Kauz«, beginnt der Gefangene. »Wir hatten uns gerade erst vorgestellt, da hat er mir schon irgendwelche seltsamen Sachen erzählt, richtig intime Dinge, wie er seine Frau in Windsor umgebracht hat, zum Beispiel. Er meinte, sie hätte sein Geheimnis entdeckt, genau wie die erste, und dass er sie beide loswerden musste, als das passierte. Er hat mir erzählt, seine Frau habe die Briefe von Mary Kelly an ihn gefunden. Aufgrund der Sachen, die darin standen, und wegen ein paar anderer Dinge hat sie ihn gefragt, ob er was über die Morde in London weiß. Er meinte, sie hätten sich deswegen gestritten, aber es sei ihm gelungen, sie zu beruhigen und ihr zu erklären, dass er damit nichts zu tun habe.
Er hat dann gewartet, bis sie eingeschlafen war, bevor er die Tat begangen hat. Aber sie ist aufgewacht, als er sich an ihr Bett geschlichen hat, und weil sie ein paarmal geschrien hat, schlug er ihr den Schädel mit einer Axt ein und schnitt ihr anschließend die Kehle durch. Dann hat er mir erzählt, wie er ihre Leiche in das Loch im Boden geworfen und es mit Beton zugeschüttet hat. Also ich war natürlich total verblüfft, als der Typ mir diese ganzen Räuberpistolen aufgetischt hat. Und ohne zwischendurch auch nur einmal Luft zu holen, erzählt er mir dann noch von seiner ersten Frau und seinen Kindern. Die seien auch hinter sein Geheimnis gekommen und er habe sie deshalb alle loswerden müssen.
Als er mal kurz Luft holte, hab ich ihn gefragt: Was war das denn für ein Geheimnis, hinter das deine Frauen gekommen sind? ›Na, dass ich Jack the Ripper bin, natürlich‹, hat er mir geantwortet. Ich bin natürlich fast aus meinem Bett gefallen. Zuerst hab ich ihm nicht geglaubt – ich dachte, er macht sich nur einen Spaß mit mir. Aber dann hat er mir die Morde bis ins kleinste Detail geschildert und gesagt, er hätte sie begangen, um all diese Frauen auszulöschen, bei denen er sich die Syphilis geholt habe.
Er meinte, seine tote Mutter hätte ihm am Sterbebett gesagt, dass er sie alle vernichten soll. Er behauptete, dass er fünf Huren umgebracht hat, fünf kranke Huren, die für ihre Sünden bestraft werden mussten, und dass er aufhörte, als er diejenige erledigt hatte, von der die Krankheit stammte. Ich hätte ihm nicht geglaubt, wenn da nicht dieser Ausdruck in seinen Augen gewesen wäre, als er mir das alles erzählte. Da war so eine Art wahnsinniger Aufrichtigkeit, die mich davon überzeugte, dass er wirklich die Wahrheit sagt. Und ich bin mir jetzt noch genauso sicher wie damals – ich habe mir die Zelle mit dem Ripper persönlich geteilt!«
Ich überlasse es Ihnen, verehrte Leser, zu entscheiden, ob Fred Deeming seinem Zellengenossen die Wahrheit gesagt oder ob dieser Mitgefangene selbst gelogen hat. Falls die Geschichte den Tatsachen entspricht, dann ist nun endlich auch die Wahrheit über den Whitechapel-Mörder ans Licht gekommen. Alles, was Sie sich dann noch fragen müssen, ist, ob der Geist von Jack the Ripper tatsächlich das Haus in Windsor heimsucht und seine Verbrechen nun in Melbourne wiederholt.
Nun, da sich der 30. September mit großen Schritten nähert, halten wir alle den Atem an und warten darauf zu erfahren, ob zwei weitere Unglückliche in den Elendsvierteln von Melbourne ihr grausames Ende finden. Die Polizeipräsenz wurde verstärkt, aber wird sich der Verrückte von Melbourne davon wirklich aufhalten lassen? Wenn es sich um einen sterblichen Mörder handelt, dann vielleicht. Andererseits wurde Jack auch in Whitechapel nie geschnappt. Aber falls wirklich ein Geist am Werk ist, lässt sich wohl mit Sicherheit vorhersagen, dass er noch vor Jahresende drei weitere Frauen auf brutale Weise abschlachten wird – und dass es nicht das Geringste gibt, was jemand tun könnte, um ihn aufzuhalten. Doch was auch immer geschehen wird, wir hier bei The Argus werden Sie auf dem Laufenden halten und Ihnen stets das Allerneueste über dieses verblüffendste, grauenhafteste aller Verbrechen berichten.