Gestohlene Leben

(Stolen Lives)

»Wer war das am Telefon?«, wollte Jerry wissen.

Ray, der neben der Wohnzimmertür stand, antwortete nicht. Er starrte seinen Freund nur an, der vor dem Fernseher saß und in der einen Hand ein Bier hielt, während er sich mit der anderen im Schritt kratzte.

Nach einiger Zeit des Schweigens wandte Jerry seinen Blick schließlich doch von dem Footballspiel ab und schaute Ray an. »Also? Wer war dran? Kim?«

Ray schüttelte den Kopf. »Nicht direkt.«

Kim, Rays Frau, und seine 16-jährige Tochter Rebecca waren nicht zu Hause gewesen, als Ray und Jerry vor etwa einer Stunde in die Wohnung gekommen waren. Seither hatte Ray verzweifelt darauf gewartet, dass seine Frau sich meldete.

»Was zur Hölle ist denn los mit dir? Geht’s dir nicht gut?«

Jerry hatte ein albern wirkendes Lächeln im Gesicht. »Sie sind entführt worden«, sagte Ray.

Jerry runzelte die Stirn und trank einen Schluck von seinem Bier. »Wer?«

»Kim und Rebecca.«

Jerry schüttelte den Kopf und sein langes, fettiges Haar wehte um sein mageres Gesicht. »Scheiße, du bist echt zum Brüllen, Ray«, kicherte er. »Entführt.«

»Ich mach keine Witze«, sagte Ray und begann zu weinen. Er weinte nicht oft. Er hatte nicht geweint, als sein Vater gestorben war. Auch nicht, als sein Bruder gestorben war. Oder als seine erste Frau gestorben war. Nicht mal, als …

Aber in diesem Moment konnte er nicht anders.

Nach einem kurzen, aber heftigen Weinkrampf gewann Ray endlich die Kontrolle über sich zurück. Er wischte sich die Tränen und den Rotz ab und schaute zu Jerry hinüber.

Jerry sah schockiert aus, wahrscheinlich eher aufgrund der Tatsache, dass er seinen besten Freund hatte weinen sehen, als über die Nachricht von der Entführung. Er erhob sich, stellte sein Bier auf dem Tisch ab und ging zu Ray hinüber. »Wer war das am Telefon?«

»Der Entführer«, sagte Ray.

»Was hat er gesagt?«

»Dass er meine Frau und meine Tochter hat.«

»Und was will das Arschloch? Geld? Mein Gott, du schwimmst ja nun nicht gerade in Scheinen. Du bist nur einen Schritt von der Armutsgrenze entfernt. Du lebst in einem Drecksloch von einer Wohnung, genau wie wir anderen auch. Was kann er also bitte von dir wollen?«

Ray zuckte mit den Schultern. »Das hat er nicht gesagt.«

Jerry fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Oh, Mann. Was für ’ne Scheiße. Ich kann nicht glauben, dass das wirklich passiert. Das war also wirklich er am Telefon? Jetzt gerade?«

»Ja, verdammt noch mal«, brüllte Ray. Jerry war sein bester Freund, und das schon seit über 20 Jahren, aber manchmal konnte er wirklich ein debiler Idiot sein.

»Denkst du, wir sollten die Bullen rufen?«

»Auf keinen Fall«, antwortete Ray und ging zur Couch hinüber. Er setzte sich und ließ den Kopf hängen. »Er wird sie beide umbringen, wenn ich die Bullen rufe.«

»Warum sollte er denn wissen, dass wir sie gerufen haben?«

»Darum«, erwiderte Ray. »Gib mir ’n Bier, ja?«

Jerry griff nach einer ungeöffneten Dose Melbourne Bitter und reichte sie Ray. Die Dose war nicht mehr eiskalt, aber es war auch die letzte. Ray hatte gerade losgehen und Nachschub holen wollen, als der Kidnapper angerufen hatte. Er öffnete die lauwarme Dose und nahm einen ausgiebigen Schluck. Es schmeckte furchtbar, aber es erfüllte seinen Zweck. »Wie spät ist es?«, fragte er Jerry.

Rays Uhr war kaputt. Das Glas der Abdeckung war eines Tages zerbrochen, als er betrunken auf den Bürgersteig gestürzt war. Er war gerade dabei, für eine neue zu sparen.

»9:38 Uhr«, antwortete Jerry.

»Okay, dann hab ich noch ein bisschen mehr als 20 Minuten Zeit, um mich zu entscheiden«, murmelte Ray und trank einen weiteren Schluck.

»20 Minuten, um was zu entscheiden?«, wollte Jerry wissen. Er setzte sich auf den Sessel gegenüber von Ray.

Ray leerte den Rest seines Biers und schleuderte die Dose durchs Zimmer. Sie krachte mit einem dumpfen Scheppern gegen die Wand. Er sah Jerry an. »Er wird entweder Kim oder Rebecca umbringen. Ich muss entscheiden, wen.« Er begrub sein Gesicht in den Händen und begann erneut zu weinen.

Diesmal gewann er seine Fassung schneller wieder.

»Wir müssen die Polizei anrufen, Ray«, sagte Jerry vorsichtig.

»Er ruft um zehn wieder an. Wenn ich nicht drangehe, dann bringt er sie alle beide um. Die Polizei hat überhaupt nicht genügend Zeit, um was zu unternehmen. Das reicht noch nicht mal, um eine Fangschaltung für meinen Anschluss einzurichten.«

»Aber was willst du denn machen? Wir können doch nicht einfach hier sitzen und nichts tun. Scheiße! Er hat deine Frau und deine Tochter. Wir müssen doch irgendwas machen.«

»Was können wir schon machen?«, fragte Ray. »Ich weiß nicht, wer er ist oder wohin er sie gebracht hat.«

»Aber du kannst dich nicht auf dieses Spiel einlassen. Das steht fest.«

»Doch, das muss ich«, erwiderte Ray.

Jerry starrte ihn an und sein dürres Gesicht war so verzerrt, dass er aussah wie ein böser kleiner Gnom. »Warum? Er wird sie wahrscheinlich sowieso beide umbringen.« Er wimmerte. »Tut mir leid, Ray. Aber es ist die Wahrheit.«

»Das Risiko darf ich nicht eingehen«, sagte Ray. »Er hat gesagt, wenn ich keine Wahl treffe, dann entscheidet er für mich.«

»Na und? Immer noch besser, als wenn du eine Tote auf dem Gewissen hast.«

Ray schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht.« Er atmete tief ein. »Wenn ich keine Wahl treffe oder nicht ans Telefon gehe oder er das Gefühl hat, ich hätte doch die Bullen gerufen, dann wird er Kim und Rebecca auf die schmerzhafteste Weise töten, die man sich nur vorstellen kann. Folter in jeder Form, hat der Kidnapper gesagt.«

»Und wenn du eine Wahl triffst?«

»Dann bringt er diejenige, für die ich mich entscheide, ganz schnell um. Mit einem einzigen Kopfschuss. Und lässt die andere gehen.«

Jerry nickte langsam. Allmählich schien ihm die ganze Situation klar zu werden. »Das ist echt krank«, sagte er.

»Deshalb muss ich entscheiden, welche von beiden ich opfere, und zwar schon bald.«

»Wie wär’s denn, wenn ich ein bisschen durch die Gegend fahre? Nachschaue, ob ich sie irgendwo finde. Oder wenigstens auf irgendeinen Hinweis stoße.«

»Das wäre reine Zeitverschwendung«, entgegnete Ray. »Du würdest nichts finden. Schon gar nicht Kim und Rebecca.«

»Aber ich kann’s doch wenigstens versuchen«, sagte Jerry und stand auf.

»Ich hab gesagt, lass es gut sein.«

»Warum denn, verflucht?«

»Wenn er dich kommen hört, wird er sie beide umbringen. Falls du sie überhaupt findest, was sicher nicht passieren wird. Spar dir also das Benzin.« Ray erhob sich. Er war zu mitgenommen, um einfach nur dazusitzen. Er musste sich bewegen.

»Okay, wenn du meinst«, seufzte Jerry und ließ sich wieder auf den Sessel plumpsen. »Aber was zur Hölle will dieser Typ denn? Er muss doch irgendwas wollen. Was hat es für einen Sinn, deine Familie zu entführen?«

»Er will gar nichts«, antwortete Ray. »Kein Geld, gar nichts. Nur …« Während er auf und ab ging, kreisten in seinem Kopf die Worte, die der Kidnapper zu ihm gesagt hatte.

»Nur was?«, fragte Jerry und reckte seinen Hals, um Ray sehen zu können.

»Ich hab ihn gefragt, was er will. Ich hab ihm gesagt, dass ich alles tun würde. Ihm alles geben würde. Aber er hat nur gelacht und gesagt, alles, was er wollte, sei ein bisschen Spaß.«

»Mein Gott«, sagte Jerry und wandte sich kopfschüttelnd ab.

Ray versetzte seinem alten Kartentisch, der an einer Seite des Zimmers stand und vom jahrelangen Gebrauch mit Bier-und Ascheflecken überzogen war, einen Tritt. Eines der Tischbeine brach ab. »Scheiße!«, brüllte er. »Wie konnte das passieren? Wie konnte irgendein Fremder einfach so in mein Haus eindringen und meine Frau und mein Kind mitnehmen?«

»Gott, ich wünschte, ich wüsste, wo er ist«, sagte Jerry. »Ich hab mein Gewehr im Van.«

Ray nutzte weiter den Teppichboden zwischen dem Fernseher und der Küchentür ab. »Okay, lass mich nachdenken«, sagte er.

»Worüber nachdenken?«

»Was meinst du? Wen soll ich auswählen?«

Jerry verzog das Gesicht. »Du willst dich doch nicht wirklich entscheiden, oder? Scheiße. Das kannst du nicht, Ray.«

»Ich muss. Ich muss mich für eine von beiden entscheiden, um die andere zu retten.«

»Aber … komm schon.«

»Was schlägst du dann vor?«, knurrte Ray, blieb stehen und starrte Jerry an. »Meine Frau und mein Kind sind irgendwo da draußen in der Hand dieses psychopathischen Wichsers. Und wenn ich mich nicht entscheide, welche von beiden sterben soll, dann wird er sie beide foltern. Und weißt du, was er mir noch gesagt hat? Dass er einen ganzen Kofferraum voller Werkzeuge hat – Zangen, Metallsägen, Hämmer, Nägel … Scheiße, Mann. Ich will noch nicht mal dran denken, was er damit anstellen könnte.« Ray holte tief Luft, die er dringend benötigte. Er fühlte sich ganz schwindelig. Er hätte wirklich ein Bier vertragen können. »Wir haben keine Ahnung, wo sie sind, und ich hab nur noch …« Er schaute auf Jerrys Uhr hinunter.

»14 Minuten«, sagte Jerry.

»14 verfluchte Minuten, bevor er wieder anruft und eine Antwort will.« Ray ging wieder auf und ab. »Okay. Wir machen ’ne Liste.«

»’ne Liste?«

»Du weißt schon, eine von diesen Pro-und-Kontra-Listen.«

»Du kannst doch nicht so tun, als würdest du ’nen verfluchten Einkaufszettel schreiben, Ray. Wir sprechen hier vom Leben deiner Frau und deines Kindes.«

»Das weiß ich«, erwiderte Ray, »aber das ist die einfachste Methode, die mir einfällt, um eine Entscheidung zu treffen. Oder hast du ’nen besseren Vorschlag? Was, wenn Carol und Brad entführt worden wären und du wählen müsstest, wer umgebracht werden soll? Wie würdest du das entscheiden?«

»Das is’ einfach. Brad ist ’n Loser. Ein beschissener Junkie. Ich würde ihn wählen.«

Ray stieß ein kurzes, beinahe wahnsinniges Lachen aus. »Schlechtes Beispiel.«

»Wie dem auch sei. Bei dir ist das anders. Du hast eine tolle Tochter und eine tolle Frau.«

»Deshalb mach ich ja auch ’ne Liste«, sagte Ray. Er stürzte in die Küche, schnappte sich einen Notizblock und einen Bleistift und brachte beides ins Wohnzimmer. Er setzte sich auf die Couch und zeichnete eine einfache Tabelle auf. Vier Spalten – je einmal Pro und Kontra für Kim und für Rebecca. »Fangen wir mit Kim an«, sagte er. »Okay. Pro – ich liebe sie.«

»Du liebst sie beide.«

»Ja, es ist ja auch nur ein Anfang. Mein Gott. Okay, wie ist es damit: Ich kenne sie schon länger, deshalb werde ich sie auch mehr vermissen.« Er kritzelte es auf das Papier.

»Wenn du meinst«, sagte Jerry. »Aber man kann das auch anders sehen: Da du sie schon länger kennst, hast du schon mehr Zeit mit ihr verbracht. Das ist ein Kontra.«

Zögernd schrieb Ray es auf.

»Außerdem hatte sie schon ein längeres Leben. Sie hat schon mehr gesehen und mehr erlebt.«

Er notierte es in der Kontra-Spalte. »Okay, noch ein Pro: Sie ist meine Seelenverwandte. Ich kann doch meine Seelenverwandte nicht töten.«

Jerry nickte.

Ray fügte es der Pro-Spalte hinzu.

»Sex, du wirst den Sex vermissen.«

»Da hast du absolut recht«, stimmte Ray zu. »Ein dickes Pro.«

»Aber du könntest auch jederzeit wieder heiraten.«

»Ich kann auch jederzeit noch ’ne Tochter kriegen«, setzte Ray ihm entgegen.

»Vergiss es. Das schreibst du nicht auf die Liste.« Er warf einen Blick auf den Notizblick. »Okay, bis jetzt sind das vier Pros und zwei Kontras. Wie viel Zeit haben wir noch?«

»Sieben Minuten.«

»Okay, Rebecca. Pro – ich liebe sie. Und sie ist noch nicht so lange auf dieser Welt. Erst 16 Jahre. Sie hatte noch gar keine Chance, richtig zu leben.«

»Hier gilt auch wieder die Kehrseite: Weil sie noch nicht so lange am Leben ist, wird sie es auch nicht so sehr vermissen.«

Ray runzelte die Stirn. »Das ist verflucht noch mal bescheuert, aber okay.« Er schrieb es auf. »Kontra. Es wird sie schlimmer treffen, ihre Mum sterben zu sehen, als es Kim treffen wird, Rebecca sterben zu sehen.«

»Meinst du?«

»Ich glaube, dass es sie auf lange Sicht total kaputtmachen wird, ja. Vielleicht tu ich ihr ja sogar einen Gefallen, wenn ich sie umbringe. Ich meine, zuzusehen, wie ihrer Mum der Kopf weggeschossen wird, ist so schlimm, wie hundertmal selbst zu sterben.«

Jerry zuckte mit den Schultern. »Vielleicht.«

»Ich schreib es auf«, sagte Ray.

»Glaubst du wirklich, dass dieser Typ eine von beiden gehen lassen wird? Ich meine, die haben schließlich sein Gesicht gesehen. Seine Stimme gehört. Das Risiko wird er nicht eingehen.«

»Nur ein Mensch mit einem sehr kranken Hirn würde überhaupt so etwas tun. Wer weiß schon, wie sein Verstand gepolt ist? Vielleicht gibt es ihm einen Kick, dass ich mich entscheiden muss. Vielleicht ist das Töten nur der Schlussstrich unter die bedeutendere Tat, mich dazu zu bringen, bis ans Ende meiner Tage in dem Wissen zu leben, dass ich den Befehl zur Ermordung eines Mitglieds meiner Familie erteilt habe.«

Jerry zuckte erneut mit den Schultern.

»Jedenfalls muss ich hoffen, dass das der Fall ist. Und davon abgesehen haben sie sein Gesicht vielleicht gar nicht gesehen. Ist doch möglich, dass er sie bewusstlos geschlagen und ihnen die ganze Zeit über die Augen verbunden hat, oder so.«

»Wahrscheinlich. Also, was hast du jetzt? Jeweils zwei für Rebecca?«

Ray blickte auf das Blatt Papier hinunter. Er nickte. Er versuchte noch weitere Gründe zu finden, nicht seine Tochter auszuwählen. »Mir fällt nichts mehr für sie ein«, gestand er nach einer Weile.

»Mir auch nicht«, erwiderte Jerry. »Und was heißt das jetzt?«

Mit einer Stimme, die eher wie die eines kleinen Kindes klang, sagte Ray: »Das heißt, dass ich Rebecca wählen werde.«

»Bist du sicher? Scheiße, Mann, sie ist deine Tochter. Deine Tochter!«

»Das weiß ich«, knurrte Ray. »Aber was soll ich denn sonst machen?«

Jerry antwortete nicht.

»Eben.«

In den nächsten Minuten sprachen sie kein Wort. Die Stille wurde erst vom Klingeln des Telefons durchbrochen. Es klang laut, lauter als sonst. Ray starrte Jerry an.

»Das ist er.« Er erhob sich und eilte in die Küche. Jerry folgte dicht hinter ihm.

»Er ist zu früh«, sagte Jerry.

Beim fünften Klingeln hob Ray ab. »Ja?«

»Begrüßt man so seine Mutter?«

»Mum?« Ray schnappte nach Luft.

Er hörte, wie Jerry hinter ihm »Scheiße« murmelte.

»Ja. Ist alles in Ordnung, Raymond? Du klingst so …«

»Hör zu, Mum, ich kann jetzt nicht reden. Ich warte auf einen sehr wichtigen Anruf. Ich ruf dich morgen an.«

»Ist das zu glauben? So behandelst du deine Mutter?«

»Es tut mir leid. Aber ich muss auflegen.« Er drehte sich zu Jerry um, der bestätigend seinen Arm hob und auf seine Uhr deutete.

Ray nickte hektisch. »Ich ruf dich morgen an, okay? Bis dann, Mum.« Er legte auf. »Scheiße! Wie spät ist es?«

»Punkt zehn.«

Ray schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, der Kidnapper hat nicht versucht anzurufen. Er denkt bestimmt, ich hätte mit den Bullen telefoniert. Verdammt!«

»Du hättest einfach sofort auflegen sollen, als du gehört hast, dass es deine Mum ist.«

»Ich kann doch nicht einfach auflegen, wenn meine Mut…« Das Telefon klingelte. Ray griff nach dem Hörer. »Hallo?«

»Hallo noch mal.« Es war die Stimme des Entführers.

Ray schluckte. »Sie sind pünktlich.«

»Das hab ich ja gesagt. Also, hast du eine Entscheidung getroffen?«

»Ja«, antwortete Ray.

»Gut. Und du hast auch niemanden angerufen, den wir nicht dabei haben wollen, oder?«

»Nein. Ich schwöre es. Ich habe Wort gehalten.« Ray spürte heißen Atem an der Seite seines Gesichts. Er drehte sich um und stellte fest, dass Jerry sich ganz dicht zu ihm herangebeugt hatte und versuchte, die Unterhaltung mitzuhören. »Hau ab«, flüsterte Ray. Jerry wich zurück.

»Wer war das?«, wollte der Kidnapper wissen. »Ist jemand bei dir?«

»Nein. Hier ist niemand außer mir.«

»Ich hatte den Eindruck, du hättest mit jemandem gesprochen.«

»Nei… nein«, stotterte Ray und sein Herz zersprang beinahe in seiner Brust.

»Ich hoffe, du lügst mich nicht an.«

»Ich schwöre es. Ich bin ganz allein.«

Stille. Dann: »Okay. Ich glaube dir. Jetzt zu deiner Entscheidung. Deine Frau und deine Tochter sterben beinahe vor Neugier.« Der Kidnapper lachte.

»Woher weiß ich, dass Sie Ihren Teil der Abmachung auch einhalten?«, fragte Ray. »Woher weiß ich, dass Sie die andere gehen lassen?«

»Weil ich dir mein Wort gebe, Ray.«

»Und Sie versprechen, dass es nur ein Schuss sein wird? In den Hinterkopf? Kein unnötiges Leid?«

»Ja. Es sei denn, du versuchst, mich irgendwie auszutricksen. Dann werden deine beiden Schätzchen erfahren, was wahrer Schmerz ist. Kapiert?«

»Ja.«

»Gut. Also … wer ist der glückliche Gewinner?«

Ray nahm all seine Kraft zusammen, um zu sprechen. »Rebecca«, sagte er leise.

»Eine überraschende Wahl«, erwiderte der Entführer. »Deine Tochter. Okay, so soll es sein. Mach’s gut.«

»Nein, warten Sie. Wann werde ich meine Frau wiedersehen?«

»Schon bald.«

Die Verbindung wurde getrennt.

Ray hielt den Hörer noch lange fest, bis Jerry ihn schließlich aus seiner Hand nahm und wieder auflegte.

»Du hast getan, was du tun musstest«, sagte Jerry. »Es tut mir so leid, Ray.«

Es war mit Abstand das Emotionalste, was Ray Jerry je hatte sagen hören.

»Ich kann’s nicht glauben«, sagte Ray. »Meine Tochter ist tot. Ich werde sie nie wiedersehen.«

Jerry packte Ray an den Schultern. Ray konnte nicht anders. Er ließ alles raus. Er weinte so lange, dass es ihm wie eine Ewigkeit vorkam.

Sie saßen im Wohnzimmer und tranken kaltes Bier, das Jerry vor über einer Stunde im Laden besorgt hatte, als es kurz, aber lautstark an der Wohnungstür klopfte.

Ray sprang auf, verschüttete dabei sein Bier auf dem Fußboden und rannte zur Eingangstür. Er riss sie auf und sah Kim.

Kim, die alt, müde und schmutzig aussah. Weinend fiel sie in seine Arme.

»Es ist okay. Jetzt bist du in Sicherheit. Alles ist gut.« Ray hob sie hoch und trug sie ins Wohnzimmer, wo er sie auf die Couch legte. »Hol ein Glas Wasser«, bat er Jerry.

Jerry, der völlig verwirrt aussah, nickte nur und verschwand in die Küche. Kurz darauf kam er wieder und streckte Ray das Glas hin.

Ray reichte es Kim. Sie leerte es mit einem Zug.

»Ich kann’s nicht fassen«, sagte Jerry. »Dieses Arschloch hat die Wahrheit gesagt. Er hat sie gehen lassen.«

Ray nickte. Er strich Kim eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie war blass, aber sie hatte aufgehört zu weinen.

»Er hat mich gezwungen, sie zu erschießen«, sagte Kim mit rauer Stimme. »Dieses Schwein hat mich gezwungen, meine eigene Tochter zu erschießen. Er hat mir gesagt, ich müsste es tun, sonst …« Ihre Stimme brach und sie begann zu schluchzen.

Ray hielt sie ganz fest. »Jetzt ist alles vorbei, Liebling. Mach dir keine Vorwürfe, es war nicht deine Schuld.«

»Farm«, sagte sie zwischen zwei Schluchzern.

»Farm? Was für eine Farm?«, fragte Ray.

»Da hat er uns hingebracht. Da ist Rebecca.«

Ray schaute zu Jerry hinüber. Das wilde Funkeln in Jerrys Augen sagte ihm, dass er dasselbe dachte. »Welche Farm? Wo ist die?«, hakte Ray nach.

»In der Nähe der Taylor Road.«

»Die kenn ich«, sagte Jerry. »Willst du, dass ich die Bullen anrufe?«

»Scheiß auf die. Du bist schneller dort draußen als die.«

Jerry lächelte ihn flüchtig an und rannte zur Wohnungstür. »Wenn ich ihn finde, bring ich ihn her. Dann können wir uns selbst um diesen Wichser kümmern.«

»Tu das«, rief Ray ihm nach und dann war Jerry verschwunden. Ray hörte, wie Jerrys Van ansprang, die Reifen in der Einfahrt quietschten und er in die Nacht davonraste.

»Er wird mindestens eine Stunde lang weg sein«, sagte Ray.

Kim wischte sich die Tränen aus den Augen, setzte sich auf und lächelte. »Vollidiot. Wahrscheinlich versucht er jetzt die ganze Nacht lang, den Kidnapper zu finden.«

Ray kicherte. Er strich Kim über ihr blondes Haar. »Er meint es gut. Und immerhin ist er unser einziger Zeuge. Er ist wichtig für uns.«

»Du hast recht«, sagte Kim. »Hast du noch ’n Bier? Ich könnte wirklich eins vertragen. Die ganze Zeit mit dieser Stimme zu sprechen, hat mir echt die Stimmbänder versaut.«

Ray sprang auf, ging in die Küche und schnappte eine Dose aus dem Kühlschrank. Er trottete wieder zurück ins Wohnzimmer und reichte es seiner Frau. »Und du warst dabei wirklich sehr überzeugend. Manchmal hab ich schon fast geglaubt, dass ich wirklich mit einem Mann spreche.«

Kim öffnete die Dose und trank einen Schluck. »Ah, schon besser. Ich kam mir echt wie ein Idiot vor, damit du’s weißt. Diese ganze Schauspielerei. Ein paarmal musste ich beinahe lachen.«

»Tja, das hast du aber nicht«, meinte Ray. »Weil du wusstest, dass ich dann auch gelacht hätte. Und das hätte unseren ganzen Plan zunichte gemacht.«

Kim nickte. »Ich weiß.«

»Aber er hat funktioniert. Du hättest mich sehen sollen«, sagte er und küsste Kim auf die Lippen. »Ich war großartig. Ich hab geweint, ich bin wütend geworden, hab noch mal ein bisschen geweint. Die sollten mir für meine schauspielerische Leistung einen verdammten Oscar verleihen. Und es war gut, dass ich dir gesagt hab, du sollst wie ein echter Kidnapper reden. Unser guter Freund Jerry saß mir im wahrsten Sinne des Wortes im Nacken. Wahrscheinlich hat er den Großteil unserer Unterhaltung gehört.«

»Wusste ich doch, dass ich eine Stimme gehört habe. Dann hast du mich also doch angelogen?«

Sie lachten beide.

»Also ist also alles nach Plan verlaufen?«, fragte Ray.

»Perfekt. Unsere liebe Tochter ist genauso tot wie die Pferdescheiße auf der verfluchten Weide.«

Ray nickte. »Gut. Dann müssen wir uns also keine Sorgen mehr machen.«

»Keine Sorgen mehr«, bestätigte Kim. »Hey, was ich dich noch fragen wollte: Mit wem hast du telefoniert?«

»Hattest du schon mal versucht, anzurufen?«

»Ja. Auf meiner Uhr war’s schon zehn.«

»Mit meiner Mum. Sie hat angerufen, als wir auf deinen Anruf gewartet haben.«

Kim lachte. »Gute alte Mum. Ich wette, du hast dir in die Hose geschissen.«

»Quatsch. Aber ich bin ziemlich sicher, dass sie sauer auf mich ist.«

»Aber merkwürdig, dass sie so spät noch anruft. Ich meine, normalerweise geht sie doch schon um halb neun ins Bett, oder?«

Ray nickte. Dann grinste er. »Vielleicht hat sie ja die kleine Rebecca gefunden?«

»Mach ja keine Witze darüber«, sagte Kim und trank ihr Bier leer.

»Wär auch egal. Inzwischen sind sowieso nur noch Knochen von ihr übrig. Sie verrottet schließlich schon seit 16 Jahren.«

»Stimmt. Trotzdem, kannst du dir vorstellen, was los wäre, wenn deine Mutter jemals ihre Überreste finden würde? Mein Gott, was haben wir uns bloß dabei gedacht, als wir sie bei deinen Eltern im Garten vergraben haben?«

»Wir waren jung. Und hatten Angst. Wir haben ein Baby bekommen und haben nicht geglaubt, dass wir es schaffen würden, uns darum zu kümmern. Und überhaupt bringt man schließlich nicht alle Tage seine eigene Tochter um.«

»Nein, nur alle 16 Jahre«, kicherte Kim.

Ray lächelte. »Dann wusste sie also, was los war?«

»Sicher. Ich meine, sie hat sich bestimmt gewundert, warum ich so weit mit ihr rausfahre, mitten ins Nirgendwo. Als ich sie gefesselt habe, ist es ihr allmählich klar geworden.«

»Wer wir sind?«

»Nein. Dass ich sie umbringen würde. Ich musste ihr sagen, was wir vor all den Jahren getan haben. Und natürlich auch, wer sie ist.«

»Wie hat sie’s aufgenommen?«

»Wie zu erwarten: schlecht. Wie dem auch sei, wenigstens wurde ihr in diesem Moment klar, warum es weder eine Geburtsurkunde noch Babyfotos von ihr aus dem Krankenhaus gibt.«

»Ich schätze, wir hätten die Sachen nicht verbrennen sollen, nachdem wir unsere Tochter getötet hatten«, sagte Ray. »Aber 16 Jahre«, sinnierte er. »Wow, irgendwie kommt es mir noch gar nicht so lange vor. Weißt du was? Das klingt vielleicht albern, aber ich werde sie vermissen. Sie war eine gute Rebecca. Hat alle aufs Glatteis geführt und überzeugt, sogar meine Mum. Eine Schande, dass sie anfangen musste, Fragen zu stellen. Wenigstens haben wir sie erwischt, bevor sie das Krankenhaus angerufen hat.«

»Tja, so ist das Leben.« Kim bemerkte den Notizblock, der auf dem Tisch lag. »Was ist das?«

»Oh, das ist meine Liste. Die habe ich gemacht, um zu entscheiden, wer von euch beiden sterben sollte. Hat irgendwie richtig Spaß gemacht. Aber Jerry ist fast durchgedreht. Er konnte nicht fassen, dass ich mit einer Liste über das Schicksal meiner Familie entscheiden will.«

Kim lächelte. »Na, schön zu sehen, dass ich gewonnen habe. Du liebst mich wirklich.«

Ray packte sie an den Schultern und zog sie ganz dicht zu sich heran. »Darauf kannst du wetten.«

NOTIZEN ZUR ENTSTEHUNG:

Das war mein Beitrag für die nicht gerade vom Schicksal begünstigte Anthologie Family Plots. Für alle, die noch nichts davon gehört haben, hier die Kurzfassung der Geschichte: Wild Roses war ein kleines Verlagshaus, das 2002 in Australien gegründet wurde. Anfangs lief alles gut und sie veröffentlichten Rage von Steve Gerlach und dann meinen Debütroman Das Motel. Eigentlich waren im Anschluss weitere Titel geplant, darunter auch The Wicked von James Newman und eben Family Plots, ein umfassender Sammelband mit Beiträgen von so ziemlich jedem Horrorschriftsteller, der damals aktuell war. Diese Bände konnte Wild Roses aber nicht mehr veröffentlichen. Auch wenn die Pleite des Verlags bei vielen Autoren und Lesern einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlassen hat, bin ich froh, dass diese Geschichte in Der Sünder nun doch noch das Licht der Welt erblicken durfte.