Der ewige Kreis

(The Cycle)

Es war vermutlich das Unglaublichste und Groteskeste, was er jemals gesehen hatte.

Auf dem Schild stand: Überfahrene Tiere zu verkaufen. Gut und frisch.

Das allein war schon grauenhaft genug, doch das, was in nicht besonders liebevoll dahingepinselten Buchstaben in verblassender roter Farbe danebenstand, empfand Craig als noch makabrer: Seelen zu verkaufen.

Craig Becker trug nur eine Jeans und eine Baseballmütze, als er aus seinem staubgelben Jeep Cherokee stieg – seine Klimaanlage hatte vor ein paar Tagen in der Nähe von Montgomery den Geist aufgegeben. Er wischte sich mit seinem schwarzen Easy-Rider-T-Shirt, das nach langen Autofahrten, billigen Motels und, passenderweise, Gras roch, den Schweiß vom Gesicht. Sein Körper war braun gebrannt und trotz der Speckfalten, die an den Seiten über seine Jeans quollen, und den allmählich ergrauenden Löckchen auf seiner Brust noch ganz passabel in Form.

Craig warf sich das feuchte T-Shirt über Nacken und Schultern, um beides vor der brennenden Sonne zu schützen. Dann trottete er durch den Kies auf den Stand am Straßenrand zu. Der beißende Gestank von totem Fleisch hing schwer in der Luft.

Im Gegensatz zu dem, was das Schild versprach, sahen die überfahrenen Tiere weder gut noch frisch aus: Fliegen umschwirrten die Ansammlung toter Opossums, Füchse, Rehe und anderer Kadaver und summten über die zahlreichen Blechdosen hinweg.

»Tagchen«, begrüßte ihn der Mann, der hinter dem Stand saß, in einem Singsang, der für die Südstaaten typisch war.

»Tag«, grüßte Craig zurück. »Heiß heute.«

Der Mann erhob sich, sah in den leuchtend blauen Himmel und nickte. »Schätze schon. Was kann ich für Sie tun?«

Der Mann war klapperdürr und hässlich. Nicht hässlich im Sinne von »dank Inzucht vollkommen missgebildet«, wie Craig es schon in unzähligen Filmen gesehen hatte, sondern schlicht und einfach hässlich im Sinne von »Der arme Mistkerl hat den Kürzeren gezogen. Der sieht ja aus, als habe man einen Affen mit einem Wiesel gekreuzt, und keine Frau, die noch halbwegs klar sehen kann, würde dem jemals zu nahe kommen«.

»Hab Ihr Schild gesehen. Dachte, ich halte mal und guck mir das an. So was wird ja nicht alle Tage zum Verkauf angeboten.«

Der Mann verzog seine dünnen Lippen und entblößte die gelben Stummel seiner Zähne. »Nein, ich schätze, so was finden Sie eher nicht daheim in … England?«

Craig schüttelte den Kopf. »Richtiger Stammbaum, falsches Land. Australien, Melbourne.«

»Aus…tra…li…en«, wiederholte der Mann dümmlich. »Was führt Sie denn in diese Gegend? Von hier sind’s bestimmt 1000 Meilen bis zum Grand Canyon.«

»Ich bin kein Tourist«, sagte Craig und zeigte auf seine Kappe. »Ich bin ein ganz normaler Typ.«

Der rattenartige Mann kniff die Augen zusammen und schaute auf seine Baseballmütze. »I love Bush«, las er. »Soll das ’n Scherz sein oder so was? Wer is’ Bush?«

Ach du lieber Himmel, dachte Craig, lächelte aber dennoch und sagte: »Das ist ein Wortspiel. Sie wissen schon … George Bush … nicht wie in ›Busch‹, also, dem weiblichen …« Craig entnahm dem leeren Blick des Mannes, dass er zwar verdammt noch mal eine Menge über überfahrene Tiere wusste, dass das aber wohl auch schon alles war, womit er sich auskannte. »Wie dem auch sei«, fuhr Craig fort und ließ seinen Blick über die Ansammlung toter Tiere schweifen, »ich fahre quer durch Amerika. Sie wissen schon, die große Odyssee. Ich versuche, das wahre Amerika zu finden, genau wie Peter Fonda und Dennis Hopper.« Craig griff nach seinem T-Shirt, entschied sich dann aber dagegen. Wenn der Typ noch nicht mal wusste, wie der amtierende Präsident seines eigenen Landes hieß, dann hatte er ganz sicher keine Ahnung, wer …

»Meinen Sie wie in diesem Film Easy Rider?«

»Ganz genau«, erwiderte Craig überrascht. »Nur dass ich in einem Jeep durchs Land fahre, nicht auf einer Harley. Längst nicht so romantisch, aber, Scheiße, ich will ja auch nicht sterben, bevor ich alles gesehen habe. Ich will ja nicht überfahren …« Craig schluckte. »Ich bin übrigens Craig.«

»Almus«, erwiderte der Mann. »Haben Sie Hunger?«

Craig hatte seit den Eiern mit Speck am Morgen nichts mehr gegessen. Er aß beides nicht besonders gerne, aber in dem Diner – Patty’s Good Eat In – hatte es kaum etwas anderes gegeben, das nicht frittiert war oder das er ohne Wörterbuch hätte identifizieren können.

»Sicher«, antwortete er. »Haben Sie hier irgendwo was auf dem Grill liegen oder was?« Craig sah an dem Stand vorbei in die Wälder, konnte jedoch nirgendwo ein Haus erkennen.

»Nein«, quiekte Almus beinahe. »Ich hab gemeint, ob Sie vielleicht eins von den überfahrenen Tieren kaufen wollen.«

Craig drehte sich der Magen um. Meinte der Typ das etwa ernst?

Ein Schrei in der Ferne unterbrach Almus’ kurzen Lachanfall. Es hatte nach einer Wildkatze oder nach einem Wolf geklungen. Almus warf einen Blick über seine Schulter. Als er sich wieder umdrehte, wirkte er verstört. »Tschuldigung«, sagte er schließlich. »Ich wollte Sie nicht auslachen.«

»Vergessen Sie’s. Dann kaufen die Leute die toten Tiere hier also … um sie zu essen?«

»Natürlich. Wozu denn sonst?«

Craig dachte einen Augenblick lang darüber nach. »Um sie auszustopfen und irgendwo hinzustellen?«, bot er an.

»Die kann man prima essen. Sie wären überrascht, wie schmackhaft die Viecher sind. Und sie sind ein gutes Geschäft. Ihre Anschaffung kostet mich überhaupt nichts. Ich warte einfach, bis irgendein Tier überfahren wird, dann kratz ich’s von der Straße ab, mach’s ein bisschen sauber und verkauf es.«

»Verkaufen Sie viele davon?«

»Ich bin zufrieden.« Er drehte sich zu den aufgereihten Kadavern um, jeder von ihnen flach wie ein Pfannkuchen mit schlaff herunterhängendem Schwanz, blutigem Fell und toten, starren Augen. »Also, ich hab hier ’nen Fuchs, ’nen Biber, ’ne Wildkatze, Rehe …«

»Danke. Aber nein, danke«, unterbrach ihn Craig, dem die heiße Nachmittagsluft allmählich das Atmen erschwerte. Alles, was er riechen konnte, war bratendes Fleisch. »Ich bin auf einmal gar nicht mehr so hungrig.«

Almus zuckte mit den Schultern. »Wie Sie meinen.« Ein funkelnder Glanz stahl sich in seine ansonsten eher glasigen Augen. Er stellte sich hinter den Tisch, der neben seinem Angebot an überfahrenen Tieren postiert war. Craig folgte ihm. »Hätten Sie dann vielleicht Interesse an einer von denen?«

Blechdosen in den unterschiedlichsten Größen standen übereinandergestapelt auf dem abgesplitterten Tisch. Insgesamt waren es etwa 20: Die Kleinste hatte ungefähr die Größe einer Kaffeedose, die Größte erinnerte an eine Farbdose. Die meisten von ihnen waren verrostet und mit Dellen übersät. Auf einigen klebten noch immer die Etiketten, auch wenn die meisten Markennamen verblasst waren. Von denen, die Craig noch entziffern konnte, hatte er noch nie etwas gehört.

»Sind das die Seelen?«, fragte Craig.

Almus nickte und der Glanz in seinen Augen flackerte noch deutlicher auf.

Dieser Mann hatte etwas äußerst Seltsames an sich – und es war nicht allein die Tatsache, dass er etwas schlicht wirkte oder irgendwo in Nirgendwo, USA, überfahrene Tiere und Seelen am Straßenrand verkaufte. Craig spürte, dass noch mehr dahintersteckte. Eine tiefere Intelligenz, die er verzweifelt zu verbergen versuchte.

»Wenn ein Tier stirbt, dann entweicht seine Seele aus dem Körper und schwebt in den Himmel hinauf … oder hinunter in die Hölle, je nachdem, was Gott für richtig hält. Aber wenn man schnell genug ist, kann man die Seele der toten Kreatur einfangen. Aber man muss wirklich sehr schnell sein, sonst verpasst man den richtigen Moment. Und man muss genau wissen, wie man sie einfangen kann.«

»Und Sie wissen das?«

»Ich hab schließlich die hier, oder nicht?«

Craig betrachtete erneut das Sortiment von aufgestapelten Blechdosen und konnte sich das Lachen kaum verkneifen. Er war fasziniert von dem Mann und davon, was sein bizarrer Verkaufsstand symbolisierte. Dies war Kapitalismus in seiner primitivsten Form. Yes, Sir! Er hatte definitiv den Geist Amerikas gefunden.

»Und wessen Seelen sind das?«

»Die meisten stammen von den überfahrenen Tieren hier.«

»Kann ich eine sehen?«

Almus schüttelte den Kopf. »Leider nein. Sie müssen erst eine Dose kaufen, bevor Sie sie öffnen dürfen. So eine Seele ist eine mächtige Sache. Da steckt eine Menge Kraft drin. Das hier mögen vielleicht nur die Seelen einfacher Tiere sein, aber es sind trotzdem Seelen.«

»Und was macht man damit?«

»Kaufen Sie eine und finden Sie’s raus.«

Natürlich war das alles völliger Unsinn. Craig wusste, dass das nur eine clevere, wenn auch sehr morbide Masche war, dummen und ebenso morbiden Touristen ihr Geld aus der Tasche zu ziehen. Während seiner zweimonatigen Fahrt durchs Land hatte er schon Straßenhändler gesehen, die in Flaschen abgefüllte Luft verkauften. Oder Wasser, das angeblich Krebs heilte. Und sogar Locken vom Schamhaar angeblicher Jungfrauen. In einem Land, in dem man wirklich alles kaufen konnte und nichts zu absurd war, war der Einfall, die Seelen toter Tiere zu verticken, nur eine weitere Variante, auch das letzte Quäntchen Milch und den letzten Tropfen Honig aus dem reichen, schier endlosen Vorrat herauszuquetschen.

Craig konnte allerdings gut auf das verrottende Aas verzichten, das hier zum Verzehr angeboten wurde …

Die Leute kaufen doch nicht wirklich diese Tiere, um sie zu essen …

Der Gedanke, dass man Seelen einfangen und einsperren konnte, um sie dann am Straßenrand zu verkaufen, war allerdings ebenso verblüffend wie grauenhaft. Was für ein Hirn denkt sich nur so etwas aus?, fragte sich Craig. Entweder ein wirklich cleveres oder irgendein wirrer Junkie, der ernsthaft glaubte, er biete das Wesentliche des Lebens selbst zum Verkauf an. Craig hatte sich noch nicht entschieden, in welche Kategorie er Almus einsortieren musste.

»Sind Sie verheiratet?«

Craig blickte in Almus’ altes Gesicht. »Nein. Ich meine, das war ich, aber meine Frau ist … tot.«

Der Schmerz schien Craigs Brust zu zerreißen.

Es tut mir leid, Rachel.

»Ich dachte nur, dann hätten Sie ja auch eine für Ihre Frau kaufen können. Wäre doch ein schönes Geschenk gewesen.«

»Ich habe auch keine Kinder.«

Und das ist auch besser so, dachte er. Es wäre furchtbar gewesen, wenn sie mit Rachel das hätten durchmachen müssen, was ich durchmachen musste.

Craig war unangenehm berührt, weil Almus Erinnerungen heraufbeschworen hatte, die er mit größter Anstrengung zu verdrängen versucht hatte – Erinnerungen, wegen derer er unzählige Meilen durchs Land gefahren war, um sie hinter sich zu lassen. Er entschied, dass es nun wieder Zeit für ihn war, sich auf den Weg zu machen. Er fischte den Geldbeutel aus der Gesäßtasche seiner Jeans. »Wie viel kostet so eine Dose?«

»Kommt auf die Seele an. Je größer die Dose, desto größer das Tier und desto größer und mächtiger auch die Seele.«

Craig ließ seinen Blick über die Blechdosen-Sammlung schweifen. Er blieb an der großen Dose hängen. »Die Große da, was war das für ein Tier und wie viel kostet die?«

Wenn er schon eine kaufen würde, wieso dann nicht gleich das Maximum aus dem Geschäft herausholen? Er konnte es sich leisten und der Typ sah aus, als könne er das Geld gebrauchen.

Almus holte langsam seufzend Luft. Als er lächelte, zitterten seine Lippen. »Freut mich, dass Sie fragen.«

Ein Heulen, lang und sorgenvoll, schnitt durch die stille Nachmittagsluft wie eine Klinge durch Fleisch. Es jagte Craig einen eiskalten Schauer über den Rücken.

Er bemerkte Almus’ Grinsen und als das Heulen verstummte, sagte der Alte: »Diese Dose enthält die mächtigste Seele von allen. Sie ist menschlich.«

Craig erbleichte. »Menschlich? Wollen Sie damit sagen, sie stammt von einer richtigen, echten Person? Einem menschlichen Wesen?«

»Genau das.«

Das trieb das Spielchen dann doch ein bisschen zu weit, aber Craig musste trotzdem nachhaken: »Und wo ist die Leiche?«

»Schon lange weg«, antwortete Almus. »Außerdem wäre das absolut geschmacklos, hier einen Menschen aufzuhängen, so als sei er nur irgendein überfahrenes Tier.«

Craig musste beinahe lachen.

Geschmacklos? Schau dich hier doch mal um, Kumpel.

Er schätzte, dass es eigentlich keine Rolle spielte, was sich angeblich in der Dose befand – schließlich war die ganze Sache ohnehin purer Unfug. Er machte sowieso nur zum Spaß bei diesem Spielchen mit – nicht, weil er ernsthaft glaubte, dass die Dose irgendwelche magischen Kräfte enthielt.

Verdammt, wenn da wirklich eine menschliche Seele drinsteckt, vielleicht könnte ich sie dann mit nach Hause nehmen und sie Rachel geben. Vielleicht hilft ihr das ja. Craig spürte ein Stechen des Bedauerns. Nicht komisch, ermahnte er sich.

»Okay, wie viel?«

»Zwan… 30 Dollar.«

Craig war daran gewöhnt, um Preise zu feilschen. Zu Hause arbeitete er in einem Gebrauchtwagenhandel und er hatte sein Verhandlungsgeschick während seiner Reise quer durch die USA schon unzählige Male unter Beweis stellen können. Diesmal entschied er jedoch, sich nicht damit aufzuhalten. Schließlich waren 30 Dollar ein guter Preis für eine menschliche Seele.

Craig reichte Almus das Geld.

Almus bedankte sich und übergab Craig die Blechdose.

Sie war schwerer, als er erwartet hatte.

»Tja, ich schätze, das war’s dann«, verkündete Craig und klemmte sich die Dose unter den Arm.

»Und vergessen Sie nicht: Eine Seele ist eine mächtige Sache«, zwinkerte Almus ihm zu.

»Richtig«, erwiderte Craig. »Ich werde vorsichtig sein.«

»Sie haben die richtige Wahl getroffen. Ich glaube, Sie werden sehr glücklich damit sein.«

Ich werde sie benutzen, um unterwegs reinzupinkeln, aber trotzdem danke.

»Sind Sie sicher, dass Sie keins von den überfahrenen Tieren kaufen wollen? Ich mach Ihnen ’nen Sonderpreis. Ich hab hier ein ganz frisches Exemplar, das erst heute Morgen getötet wurde. Hier in der Gegend gibt’s nicht viel Auswahl, was das Essen angeht, und es wird bald dunkel. Wenn Sie irgendwo campen wollen, hätten Sie vielleicht gern ein bisschen frisches Fleisch.«

Craig hatte tatsächlich vor, heute Nacht zu campen. Er hatte ausreichend Vorräte im Jeep, die er nach seinem Frühstück im Patty’s in einem Laden gekauft hatte – ein bisschen Trockenfleisch, Käse und ein paar Cracker, einen Schokoriegel und ein Sixpack Bier – aber ein Stück Fleisch klang wirklich verdammt verlockend. Craig warf einen letzten Blick auf die von Fliegen übersäten Kadaver, stellte sich vor, wie er den Fuchs über dem Lagerfeuer grillte und wusste, dass er das einfach nicht fertigbringen würde.

»Tut mir leid. Vielleicht nächstes Mal.«

Almus lächelte ihn an und nickte.

Es war ein hinterhältiges Lächeln, in dem einige Geheimnisse zu lauern schienen.

Zum zweiten Mal, seit er an diesem Straßenstand angehalten hatte, machte sich in Craig ein Gefühl breit, dass der Verkäufer mehr wusste, als er sagte.

Das ist nur die Hitze, redete sich Craig ein, drehte sich um und ging zu seinem Jeep zurück. Die grillt dein Gehirn.

Trotzdem konnte er den Gedanken an Almus und sein Lächeln nicht abschütteln, auch nicht, als er bereits sehr weit von den toten Tieren und den billigen Seelen entfernt war.

Die Sonne ließ den Horizont in rosafarbenem Glanz erstrahlen. Die Welt bereitete sich auf die nächtliche Ruhe vor und Almus saß noch immer hinter seinem Stand. Und wartete.

Es war schon Stunden her, dass der Mann in seinem schicken Jeep über den verlassenen Highway verschwunden war, ohne zu wissen, was sich tatsächlich in seinem Besitz befand. Wie lange würde er noch damit warten, die Dose zu öffnen? Selbst wenn der Mann aus Australien nicht glaubte, dass das, was sich in der Dose befand, tatsächlich echt war, musste die menschliche Neugier inzwischen doch überhand genommen haben.

Das Warten brachte Almus beinahe um. Nicht wörtlich natürlich, aber der bittere Schmerz, den er bereits seit Tausenden von Sonnenuntergängen durchlitt, war nichts im Vergleich dazu, nun untätig abwarten zu müssen.

Hoffentlich würden die Schmerzen heute Nacht ein Ende finden.

Als die Sonne durch den Mond ersetzt wurde, entzündete Almus die Gaslaterne und die violette Landschaft versank in schwarzer Finsternis. Er brauchte das Licht nicht mehr, da er nun nicht mehr darauf angewiesen war, dass vorbeifahrende Autos sein Schild wahrnahmen – nicht dass auf diesem Abschnitt des Highways überhaupt noch irgendwer vorbeikam. Der Mann war wirklich ein absoluter Glücksfall für ihn gewesen. Aber das Licht schreckte die Bestien ab, zumindest bildete er sich das ein.

Als die Mücken begannen, das Licht zu umschwärmen, sah Almus auf die zusammengeknüllten Geldscheine hinunter, die vor ihm auf dem Tisch lagen: ein Zwanziger und ein Zehner. Er lächelte.

Er war der Ansicht gewesen, 30 klänge nach einem fairen Preis. Der Mann schien bereit gewesen zu sein, diesen Preis zu bezahlen.

Mehr als bereit, dachte Almus und fragte sich, was der Mann wohl zu verbergen hatte. Vor welchem Kapitel aus seiner Vergangenheit er davonzulaufen versuchte.

Es hatte irgendetwas mit seiner Frau zu tun, da war Almus sich sicher. Tot? Nein. Sie war nicht tot, das spürte Almus. Er hatte schon viele Menschen gesehen, während er hier am Straßenrand gesessen hatte, aber keiner von ihnen hatte gekauft, was der Mann gekauft hatte. Nur eine ganz besondere Art von Mensch tauschte seine Seele ein: leidende, verlorene Menschen.

Mit Schmerzen kannte Almus sich nur allzu gut aus.

Nicht mehr lange, hoffte er.

Er machte sich keine allzu großen Sorgen. Er wusste, dass der Mann die Dose letzten Endes öffnen würde.

Neben dem Geld, mit dem der Mann bezahlt hatte, lag ein weiterer Zehn-Dollar-Schein. Nur dass er sehr viel älter war: Alexander Hamilton verblasste bereits und Knicke durchzogen das grüne Papier wie Risse einen zerbrochenen Spiegel. Ein Erinnerungsstück. Als hätte Almus wirklich noch eines gebraucht.

Damals war alles viel billiger, dachte Almus melancholisch.

Er hatte dem Mann aus Australien wirklich den perfekten Hinterwäldler vorgespielt. Almus war vielleicht nicht unbedingt das, was man einen Intellektuellen nennen würde, aber er war auch nicht der Trottel, für den der Mann ihn nun vermutlich hielt. Es war einzig und allein um den Verkauf gegangen und Almus hatte ganz genau gewusst, was er tun und sagen musste, um ihn abzuschließen, ohne den Mann zu nötigen, die Blechdose zu kaufen.

Die Nacht hatte ihren schwarzen Mantel inzwischen vollständig ausgebreitet und die Bestien begannen wie aufs Stichwort mit ihrem Kanon: Die Wölfe jaulten, die Füchse bellten, die Eulen riefen und die Grillen zirpten.

»Ich höre euch«, gab Almus zurück. »Quält mich, solange ihr wollt, ich werde nicht klein beigeben.«

Er konnte es spüren – sie alle wussten, dass er noch heute Nacht gehen würde.

Und er nahm wahr, dass ihn hinter dem Schein der Lampen 1000 Augen anstarrten, die ihn hassten und ihn verfolgten.

Sie wünschten sich, das zu haben, was er hatte. Oder besser gesagt: dass der Mann stattdessen eine ihrer Dosen gekauft hätte.

Almus blickte zu den über ihm hängenden, mit Insekten bedeckten Kadavern empor.

Das Gejaule, Heulen und Zischen klang wie eine Symphonie der Verachtung, aber sie konnte Almus nichts mehr anhaben. Genau wie den ständigen Schmerz, der immer wieder durch seinen ausgezehrten Körper schwappte, würde er auch sie schon sehr bald los sein.

Die Stelle an seinem Hinterkopf, an der ihn die Kugel getroffen hatte, bereitete ihm den größten Kummer. Aber auch der Rest seines Körpers, der von einem Auto überfahren worden war, machte es ihm schier unmöglich, sich zu bewegen, ohne dass ein entsetzlicher Schmerz hindurchschoss. Es gab nichts, was er gegen diesen Schmerz tun oder einnehmen konnte. Alles, was ihm blieb, war das, was er nun schon seit mehr als 30 Jahren tat – er wartete.

Craig öffnete eine Dose Coors Light und nahm einen dringend benötigten Schluck.

Das Bier war für seinen Geschmack zu warm, aber es half, der schmerzlichen Erinnerung, die Almus unwissentlich heraufbeschworen hatte, den Stachel zu ziehen. Außerdem würde ihn nach einem halben Dutzend Dosen nicht mehr interessieren, ob es lauwarm war oder nicht.

Überfahrene Tiere zu verkaufen. Gut und frisch.

Seelen zu verkaufen.

Mein Gott, dachte Craig.

Rachel.

Gottverdammt.

Er musste aufstoßen. Sein Rülpsen schmeckte nach einer Mischung aus Trockenfleisch, Käse und Snickers – das beinahe komplett geschmolzen gewesen war – und er trank einen weiteren Schluck von seinem Bier. Sein Zelt war aufgebaut und er hatte etwas gegessen. Als die Nacht kühler geworden war, hatte er ein Feuer auf der kleinen Lichtung angezündet, über die er auf der Suche nach einem guten Platz für sein Nachtlager gestolpert war. Es gab nun nichts mehr für ihn zu tun – außer seine Erinnerungen zu ertränken und zu versuchen, ein wenig Schlaf zu finden.

Die Kreaturen der Nacht riefen einander etwas zu, dessen Bedeutung nur sie allein entschlüsseln konnten. Für Craig klangen ihr Gejaule und ihr Geheul wie höhnisches Gelächter. Irgendwie schienen sie über Rachel Bescheid zu wissen. Darüber, was aus ihr geworden war und wie er sie im Stich gelassen hatte. Sie wussten von seinem Zwischenstopp bei Almus. Von der Blechdose, die er gekauft hatte. Von dem hinterhältigen Grinsen auf dem schweinehässlichen Gesicht dieses Hinterwäldlers, das Craig auch jetzt noch verfolgte, wenn er in die orangefarben züngelnden Flammen starrte.

30 Mäuse! Die Tiere unterhielten sich lachend. Der australische Trottel hat 30 Dollar für eine leere Blechdose bezahlt. Ha! Was wollte er denn damit bloß beweisen? Für wen hat er sie denn wirklich gekauft? Für sich selbst? Wohl kaum. Was hat er sich nur dabei gedacht? Was für ein Narr. Ha!

Es war alles die Schuld dieses Hinterwäldlers. Ihn zu fragen, ob er verheiratet sei. Wen außer Craig ging das bitte etwas an? Er hatte eben erst begonnen, sich sein Leben zurückzuerobern. Es gefiel ihm unterwegs zu sein – ohne Verantwortung, ohne Arbeit, ohne Frau …

Nun war all das vorbei. Nur wegen Almus.

Woher hätte er es auch wissen sollen?, dachte Craig. Er wusste nichts über Rachel, darüber, wie sie sich verändert hatte. Wusste, nicht was für ein Mensch sie einst gewesen war.

Craigs Kehle schnürte sich zusammen, als er sich an ihr Lachen erinnerte – ein süßes Kichern, das sich erst langsam zu einem herzhaften Ausbruch steigerte.

Er trank sein Bier aus und wischte sich mit der Hand über die Augen.

Das Lachen war seltener erklungen, als die manischen Episoden ihr Leben allmählich überschatteten. Oh sicher, die Ärzte hatten behauptet, sie sei nicht manisch und leide auch nicht an Demenz.

Trotzdem konnten sie ihre gewalttätigen, beleidigenden Ausbrüche nicht erklären. Oder ihre hasserfüllten Tiraden, durchzogen von Flüchen und Schimpfwörtern, die sie früher nie benutzt hatte.

Ihre gesamte Sicht auf das Leben hatte sich verändert. Die Menschen in ihrer Umgebung, diejenigen, die sie am meisten liebten, wurden zu ihren Feinden – jedenfalls in ihrer Vorstellung.

Craig war die Zielscheibe für den Großteil ihres Hasses.

»Ich wünschte, ich hätte dich nie kennengelernt«, brüllte sie dann. »Du verfluchter, beschissener Wichser! Unser Sohn wäre nicht gestorben, wenn ich dir niemals begegnet wäre!«

Irrational.

Ihr gemeinsamer Sohn war bei der Geburt gestorben. Die folgenden Jahre waren für sie beide schwer gewesen, aber ihre Liebe hatte sie wie Superkleber zusammengehalten.

Bis zu ihrer Veränderung.

Eine Veränderung, die Craig zu ertragen, zu verstehen und zu akzeptieren versucht hatte.

Aber er hatte es nicht geschafft. Er war einfach nicht stark genug gewesen.

Wäre die Veränderung ihrer Persönlichkeit das frühe Symptom eines Hirntumors gewesen, er wäre bei ihr geblieben.

Sie hatte sich untersuchen lassen. Kein Krebs.

Abgesehen von ihrer Persönlichkeitsveränderung ging es ihr gesundheitlich ausgezeichnet.

Es war, als sei sie über Nacht zu einem anderen Menschen geworden. Als sei die Rachel, die es einst gegeben hatte, tot.

Deshalb hatte Craig sie verlassen und war nach Amerika gereist, um von all dem wegzukommen … um von ihr wegzukommen. Er wollte eine größtmögliche Distanz und da erschien es ihm als die beste – wenn auch vielleicht nicht die richtige – Lösung, in ein anderes Land zu reisen.

»Ich musste mich selbst finden, genau wie in dem Film«, erklärte Craig den Bäumen.

Allmählich beschlich ihn jedoch der Gedanke, dass er nach mehr suchte als nur nach Freiheit.

Nach einer alten Blechdose zum Beispiel?

Craig lugte zum Jeep hinüber, der drei Meter entfernt von ihm parkte.

»Was soll’s?«, sagte er und stand auf.

Er öffnete die Hintertür und fand die zerbeulte Dose versteckt zwischen all dem Müll, den er bislang unterwegs angesammelt hatte. Er war erneut überrascht, wie schwer sie war, selbst für eine Dose dieser Größe. Craig machte die Tür des Jeeps wieder zu und ging zurück ans Feuer.

Er setzte sich auf einen Baumstamm und hielt die Dose in seinen Händen. Neugierig, aber noch immer unsicher, ob er sie öffnen sollte.

Da ist nichts drin, sagte er zu sich. Warum machst du sie also nicht einfach auf?

Er schenkte Almus und seinem ganzen Gerede über eingesammelte Seelen, die man einfangen konnte, bevor sie aus dem Körper entflohen, keinen Glauben. Aber der Mann hatte etwas Ungewöhnliches an sich – dieses Lächeln, diesen wissenden Glanz in seinen Augen –, das Craig einfach nicht richtig einordnen konnte.

Hatte Almus ihm wirklich eine leere Blechdose verkauft?

Dann überlegte er: Was, wenn sich darin irgendetwas befand, das nur darauf wartete, sich mit tödlichen Klauen auf ihn zu stürzen? Oder auf acht haarigen Beinen über ihn hinwegzukrabbeln? Oder ihm mit einem tödlichen Stachel einen Stich zu versetzen?

Er war hier draußen ganz allein, meilenweit von der nächsten Stadt, einem Arzt oder einem Krankenhaus entfernt. Das Einzige, das hier draußen einem Stück Zivilisation gleichkam, war – soweit Craig wusste – Almus mit seinem Verkaufsstand an der Straße.

Kein sehr tröstlicher Gedanke.

Craig konnte sich nicht daran erinnern, neben dem Stand ein Auto oder wenigstens ein Fahrrad gesehen zu haben.

Entweder wohnte der alte Kauz in der Nähe oder er musste einen langen Fußweg auf sich nehmen, wenn er zur Arbeit ging.

Craig hielt den Deckel ganz fest und schüttelte die Dose. In ihrem Inneren klapperte nichts.

Er stieß ein nervöses Seufzen aus. Ist wirklich leer.

Er kicherte.

Er stellte die Dose ab, beugte sich nach vorne und schnappte sich eine neue Bierdose. Er öffnete sie und leerte sie mit großen Schlucken, während er dem prasselnden Feuer und den Schreien der Tiere lauschte.

Kein Gelächter mehr, dachte Craig. Ihre Schreie klangen nun intensiver, fast lockend.

Sie wollten, dass er die Dose öffnete.

Danach hast du die ganze Zeit gesucht, schienen sie ihm zuzurufen. Du hast dafür bezahlt, warum machst du sie nicht auf? Sie gehört dir. Bist du denn kein bisschen neugierig?

Vielleicht hält sie ja ein paar Antworten für dich bereit. Du willst Rachel doch hinter dir lassen, nicht wahr?

Öffne sie und finde es heraus.

»Ach, drauf geschissen«, murmelte Craig, tauschte in seiner Hand Bierdose gegen Blechdose und öffnete den Deckel.

Ein fauler Geruch, eine Mischung aus Sumpfgas und totem Fleisch, strömte Craig entgegen und legte sich wie eine dichte Wolke um seinen Kopf.

»Igitt!«, keuchte er und warf die Dose auf den Boden. Sie rollte auf das Feuer zu. Craig wollte nicht, dass sie in den Flammen landete. Er sprang auf, aber die Dose blieb vor dem Feuer liegen.

Der Gestank verzog sich nicht.

Craig wandte sich von den Flammen ab und würgte. Er hatte Angst, bereits zu viel von dem eingeatmet zu haben, was er aus der Dose befreit hatte – was immer das auch gewesen sein mochte.

Aber wie viel ist wohl zu viel? Scheiße, ich weiß ja noch nicht mal, was es ist, was ich da inhaliert habe. Chemikalien? Gefährliches Gas? Die Überreste von verschimmeltem Käse?

Er spuckte Schleimklumpen auf den Boden und wusch sich anschließend das Gesicht mit dem übrig gebliebenen Bier ab. Er konnte den ranzigen Geruch noch immer riechen und auf der Zunge schmecken.

Ich habe 30 Dollar für eine giftige Dose ausgegeben!

Das würde er Almus heimzahlen. Er würde zurück zu diesem Straßenrand fahren, sämtliche Dosen öffnen und Almus’ abstoßende, geldgierige Fresse in jede einzelne seiner faulig riechenden Dosen drücken, bis er daran erstickte.

Mit einem Mal wurde die Nacht totenstill.

Sämtliche Tiergeräusche verstummten. Allein das Knistern des Feuers hallte in den düsteren, schattigen Wäldern wider.

Craigs Herz, das ohnehin bereits wie wild raste, klopfte noch schneller und kalter Schweiß triefte aus jeder einzelnen Pore seines Körpers.

Es war viel zu still.

Dann eine Stimme: »Ich danke dir.«

Craig schnappte nach Luft. »Wer ist da?« Er starrte auf die Bäume, in die Richtung, aus der die Stimme gekommen zu sein schien. »Ich bin bewaffnet, also zeig dich besser.«

Er hatte weder eine Pistole noch irgendeine andere Waffe. Er glaubte nicht an Waffen.

Jetzt wünschte er sich allerdings, er täte es.

Denn aus den Wäldern trat Almus.

Nur dass er ganz anders aussah.

»Bleib stehen«, warnte Craig ihn mit bebender Stimme.

»Ich wusste, dass du sie früher oder später öffnen würdest«, sagte Almus und grinste. »Das liegt in der menschlichen Natur. Ich weiß das.« Während er sich Craig weiter näherte, zwinkerte er ihm zu, aber dabei rollte sein Augapfel aus der Höhle und blieb abrupt in der Luft hängen, als der Nerv, an dem er noch hing, nicht mehr weiter reichte. Wie ein blutiges Jo-Jo hüpfte der Augapfel ein paarmal auf und ab, bevor er auf Almus’ Brust zur Ruhe kam.

Craig wimmerte. Das Bier, das er getrunken hatte, wollte sich unaufgefordert wieder aus ihm herausdrängen.

»Schon komisch, dass du dir gerade diese Lichtung ausgesucht hast. Hier draußen in den Wäldern habe ich meinen Körper beerdigt. Weißt du, ich bin auch nicht anders als all die Tiere an meinem Stand«, erklärte Almus. »Ich bin auch überfahren worden.« Almus humpelte weiter auf ihn zu und der Schein des Feuers offenbarte sein wahres Äußeres.

Sein Schlüsselbein hatte sich durch seinen Hals gebohrt und stand heraus, sodass sich sein Kopf zur Seite neigte. Einer seiner Arme fehlte. Er war am Ellbogen abgerissen, während sich der andere in einem makabren Winkel nach hinten bog und merkwürdig wackelte, wenn Almus sich bewegte. Sein Oberkörper war blutverschmiert und durch seine zerrissenen Kleider konnte Craig mehrere tiefe, übel aussehende Wunden erkennen. Aus ihnen schienen Flüssigkeiten in allen Farben des Regenbogens zu tropfen, während sein Unterleib nur noch aus einer wirren Ansammlung von Eingeweiden, Fett und Muskeln bestand. Irgendein glänzendes, matschiges Organ rutschte aus der Öffnung in seinem Bauch und klatschte auf den Boden. Mit einem Lächeln zerquetschte Almus es, als er weiter auf den fassungslosen Craig zutaumelte, der noch immer befürchtete, sich übergeben zu müssen.

Almus schnupperte in die Luft. »Ah, der Duft der Freiheit!«, rief er aus und stellte seine schwarze, geschwollene Zunge zur Schau. Er legte eine Hand auf seinen Kopf, der nur noch aus blutigen Haaren und zersplitterten Schädelknochen bestand. »Der alte Wilmer war fix, das muss man ihm lassen. Und weißt du, was? Seine hat noch viel widerlicher gestunken als meine. Du hast Glück gehabt. Wilmers Seele war fast 100 Jahre in ihrer Dose gefangen, bevor ich gekommen bin. Hab auch eine ganz schöne Summe dafür bezahlt.«

Craig wusste, dass er den Jeep oder die Straße erreichen musste, dass er vor dieser … Kreatur, diesem Wahnsinnigen fliehen musste.

»Ich bin weder ein Geist noch eine Seele. Ich bin eine Art seelenlose, physische Erscheinung meines toten Selbst. Ohne Seele kann ich diese Welt nicht verlassen. Aber all das wirst du selbst noch herausfinden. Siehst du, du hast die Dose gekauft und sie geöffnet – nun musst du die Folgen tragen. Eine Seele ersetzt die andere. So wie meine die von Wilmer ersetzt hat. Wilmer war nicht der Erste und du wirst nicht der Letzte sein.«

Almus’ zerschmetterter Körper schwankte weiter auf ihn zu.

Craig nahm die widerlichen Dämpfe, die der Dose entwichen, längst nicht mehr wahr. Alles, was er nun noch riechen konnte, war Almus: seine intensiven, noch ekelhafteren Ausdünstungen. Eine Mischung aus Blut, Fäkalien und Tod.

Eine innere Stimme brüllte Craig zu: Renn weg!

»Du bist mein Erlöser, Craig. So wie ich Wilmers Erlöser war. Da ist nur noch eine allerletzte Sache, die erledigt werden muss, bevor ich vollkommen frei bin.«

Craig rannte. Er rannte zum Highway, ließ Almus’ verstümmelte Gestalt zurück – oder wer immer dort hinten wirklich stand. Ließ sie allein in ihrer verrückten Welt aus Seelen und überfahrenen Tieren, während sie ihm nachrief: »Wer wird dein Erlöser sein, Craig?«

Craig rannte an Kiefern vorbei und sprang über Büsche hinweg. Der Mond wies ihm den Weg zum sicheren Highway. Die Nacht blieb still, als würde er von sämtlichen Kreaturen beobachtet. Sobald er die Straße vor sich erkannte, rannte er noch schneller – mit voller Blase und Tränen in den Augen, während in seinem Kopf ein Wirbelsturm aus Entsetzen und Verwirrung tobte. Er hörte Almus’ Lachen, ein fröhliches Gackern, und dann schien ihm plötzlich ein blendendes Licht in die Augen. Die Kreatur, die sich auf ihn stürzte, stieß einen kreischenden Schrei aus, die Lichter wurden immer größer und …

Craig spürte einen entsetzlichen Schmerz, so als werde sein ganzer Körper auseinandergerissen … und dann fühlte es sich an, als würde noch etwas ganz anderes auseinandergerissen, aber da war kein Schmerz mehr. Nur das Gefühl, als verlasse er seinen Körper, dann das Lächeln eines Mannes, ein hinterhältiges, wissendes Lächeln …

Ein Auto fuhr auf den Seitenstreifen: ein Kombi mit einer Rückbank voller Kinder und auf dem Dach festgebundenen Koffern. Der Fahrer, ein rundlicher, rotgesichtiger Mann, sagte etwas zu der Frau, die neben ihm saß, stieg dann aus dem Wagen und wackelte auf den Stand zu.

Das könnte es sein, dachte Craig. Oh, bitte, lass es ihn sein.

»Hallöchen«, sagte der Mann und wischte sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab. Er trug kurze Hosen, die viel zu eng für ihn waren, eine Baseballmütze mit dem Logo der Yankees und ein T-Shirt, auf dem Unterstützt unsere Truppen – unterstützt Bush! stand.

Im Auto lachten und kreischten die Kinder.

Der Mann drehte sich um und brüllte: »Ruhe!«

Die Kinder gehorchten.

Mit einem zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht wandte sich der Mann wieder Craig zu. »Tut mir leid. Die Kinder werden langsam unruhig und wir, na ja, wir haben uns verfahren.« Er zuckte mit den Schultern, als wolle er sagen, so etwas passiere schließlich ständig und so ein armer Kerl hinter einem Straßenstand kenne ja wohl den Weg zurück in die Zivilisation.

»Wissen Sie, wie man von hier wieder auf die Route 17 kommt?«

Craig ignorierte den permanenten Schmerz, der an seinem Körper nagte, und lächelte höflich. »Tut mir leid, Kumpel. Da kann ich Ihnen nicht helfen.«

Der Mann runzelte die Stirn und auf seinem dicken, verschwitzten Gesicht bildeten sich Falten. »Was für ein Akzent ist das denn, verdammt? Kanadisch?«

Craig hätte am liebsten laut geschrien, um diesen schwitzenden, konservativen Fleischklops wissen zu lassen, welch entsetzliche Qualen er litt. Dass er das Gefühl hatte, man habe seine Eingeweide einmal umgekrempelt, und dass sein Kopf sich anfühlte wie eine zerquetschte Tomate. Aber das konnte er nicht. Nicht, wenn er jemals wieder von diesen Schmerzen befreit werden wollte, aus diesem tristen Dasein, das er fristete. »Australisch«, antwortete Craig. »Möchten Sie was für die Kinder kaufen? Oder für Ihre Frau?«

Der Mann warf einen Blick auf das Schild und sah dann wieder Craig an. Er sah aus, als habe er eben an einem Haufen Scheiße gerochen. »Machen Sie Witze, Kumpel?«

Ganz ruhig, ermahnte Craig sich. Du darfst nicht die Nerven verlieren. Es ist bestimmt seit einem Monat keiner hier gewesen. »Vergessen Sie die überfahrenen Tiere. Wie wär’s mit einer Seele?« Er sah auf die große Blechdose hinunter – sie war inzwischen noch verbeulter als damals, als Craig sie zum ersten Mal gesehen hatte – und hoffte, dass der Mann seinem Blick folgen würde.

Ich kann ihn nicht bitten, sie zu kaufen, das muss er alleine entscheiden. Aber verdammt noch mal, es hat schließlich keiner gesagt, dass ich seine Entscheidung nicht ein bisschen beeinflussen kann.

»Beschissener Irrer«, schnaubte der Mann. »Sie sollten sich schämen. Den Leuten so einen Scheiß zu verkaufen.« Er wischte sich über seine tropfende Stirn und hustete. »Und diese Mütze ist einfach widerlich – bei mir sitzen Kinder im Wagen! Und überhaupt: Wer sind Sie denn, dass Sie sich über unseren Präsidenten lustig machen? Sie sind ja noch nicht mal Amerikaner.«

Mit einem verächtlichen Blick ging der Mann wieder zurück zu seinem Kombi und fuhr davon, während die Kinder auf der Rückbank Grimassen in Craigs Richtung schnitten.

Er seufzte.

Nicht mal Amerikaner.

Stimmt.

Craig setzte sich. Die grelle Sonne blendete ihn und er wäre sicher ins Schwitzen geraten, hätte er sie spüren können. Aber alles, was er spürte, waren die Schmerzen.

Sein Blick fiel auf das Geld, das auf dem Boden lag. Seine Bezahlung. 30 Dollar für ein Leben in der Hölle.

Er hatte versucht, die Scheine zu zerreißen, sie zu verbrennen, hatte sogar versucht, das Geld zu essen. Aber ganz gleich, wie oft er auch versuchte, sie loszuwerden: Sie kamen jedes Mal wieder zurück.

Eine ständige Erinnerung.

Genau wie die Tiere in den Wäldern – unsichtbar, aber immer da. Immer abwartend.

Darauf, dass jemand ihre Dose kaufte.

Darauf, dass Craig verrückt wurde und von diesem gottverlassenen Verkaufsstand floh. Dann würden sie ihn angreifen und Rache üben. Es würde keine Rolle spielen, dass Craig die ganze Sache nicht begonnen hatte – er hatte sie fortgeführt, genau wie Almus es getan hatte.

Selbst jetzt konnte er sie lachen hören, weil sie wussten, dass er an diesen Stand gefesselt war, bis dieser eine, besondere Mensch vorbeikam.

Craig hoffte, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde.

Sicher würde doch irgendjemand eine Seele kaufen wollen.

NOTIZEN ZUR ENTSTEHUNG:

Diese Geschichte habe ich mit den alten EC Comics im Hinterkopf geschrieben. Sicher haben Sie schon einmal von in den Fünfzigern erschienenen Serien wie Tales from the Crypt oder The Vault of Horror gehört. Ich bin selbst eine ganze Weile durch die USA gereist, deshalb dachte ich, es wäre interessant, wenn auch meine Hauptfigur kein Einheimischer wäre – auch wenn mir auf meinen Reisen nichts auch nur annähernd so Bizarres begegnete wie der Straßenstand in dieser Story. Mein dritter Roman, Die Bestien, spinnt diese Idee übrigens weiter. Wenn Sie also noch mehr von überfahrenen Tieren und billigen Seelen lesen möchten, schauen Sie einfach mal rein – Craig hat sogar einen kleinen Gastauftritt.