Ein Licht für Rose

(A Light for Rose)

Das erste Mal, als Clayton das Licht sah, dachte er sich zunächst nichts weiter dabei.

Er unternahm den verzweifelten Versuch einzuschlafen, als ihn ein greller Lichtblitz plötzlich dazu zwang, die Augen zu öffnen. Er lag da und starrte aus dem Fenster. Das Licht – oder was immer ihn geblendet hatte – war verschwunden.

Bumm, bumm, bumm, bumm … Bumm, bumm, bumm, bumm …

Während die Schritte über ihm andauerten, nahm er ein zweites Flackern wahr.

Er rollte sich auf den Rücken und starrte in die Dunkelheit hinauf.

Vielleicht ein Blitzschlag?, dachte er, obwohl es eine schwüle Sommernacht war.

Er schüttelte den Gedanken mit einem Schulterzucken ab und beschloss, einen weiteren, vermutlich ebenso fruchtlosen Versuch zum Einschlafen zu unternehmen, als erneut ein Lichtschein durch seine Wohnung geisterte.

Clayton setzte sich auf.

Das Licht verschwand erneut, um wenige Augenblicke später wieder durch sein Fenster zu blinzeln, so als spiegele sich das Sonnenlicht in der Windschutzscheibe eines Autos wider.

Allerdings war es Nacht und er befand sich im fünften Stock.

Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte er. Als wäre das Trampeln nicht schon schlimm genug.

Er rieb sich das Gesicht, spürte das Kitzeln seiner Bartstoppeln und seufzte.

Bumm, bumm, bumm, bumm … Bumm, bumm, bumm, bumm …

Die Müdigkeit lastete schwer auf ihm, ebenso wie die erdrückende Hitze der vergangenen Tage. Obwohl er unbedingt einschlafen wollte, schlafen musste, hielten ihn die Schritte der Wohnungsbewohnerin über ihm wach.

Er warf einen Blick auf seinen Wecker. Die roten Zahlen starrten ihn an: 00:51.

Das Trampeln über ihm würde noch weitere zehn Minuten andauern, dann konnte er endlich einen neuen Anlauf unternehmen, in den dringend benötigten, erholsamen Schlaf zu sinken.

Aber nicht, wenn das mit diesem verdammten Licht so weitergeht.

Genau wie die Schritte schien es einem bestimmten Rhythmus zu folgen.

Wo kommt das bloß her?, fragte er sich.

Das Licht blinkte noch weitere zehn Minuten. Schließlich hörte es gleichzeitig mit den Schritten wieder auf.

»Na, endlich«, stöhnte Clayton, legte sich hin und schloss die Augen.

Nun konnte er endlich einschlafen. Die Schritte würden erst morgen Nacht zurückkehren – das seltsame Licht hoffentlich nicht.

Kurz danach dämmerte Clayton ins Land der Träume hinüber.

Das Licht kehrte um 0:50 Uhr in der folgenden Nacht zurück, genau im selben Moment, als auch die Schritte wieder zu hören waren.

Clayton saß im Bett und schaute sich irgendeinen alten Schwarz-Weiß-Film an. Er war kurz davor einzunicken, als wieder der blitzende, beinahe blendende Schein seine Pupillen streifte.

Er setzte sich auf und rieb sich fluchend die Augen.

Nicht schon wieder.

Bumm, bumm, bumm, bumm … Bumm, bumm, bumm, bumm …

Er konnte die Schritte nun nicht mehr ausblenden und wusste, dass er erst würde einschlafen können, wenn sowohl die Schritte als auch das Licht wieder verschwunden waren.

Er schaltete den Fernseher aus, schleuderte die Fernbedienung zur Seite und sprang aus dem Bett. Er machte sich nicht die Mühe, die Lampe anzuschalten – der schwache Schein des Mondes erfüllte den Raum mit ausreichend Helligkeit und er fand sich auch so zurecht.

Er blieb mitten in seiner Wohnung stehen, sah nach oben und schüttelte den Kopf.

Hör auf, dir Sorgen zu machen, Rose. Wenn du mich wach hältst, kommt er auch nicht früher nach Hause.

Natürlich wusste er, wie er das Problem von Rose und sich selbst hätte lösen können. Dazu wären nur ein wenig Mut seinerseits und Roses Bereitwilligkeit nötig gewesen.

Ja, klar. Wem mache ich was vor? Eine wunderschöne Frau wie sie wird sicher nichts von mir wissen wollen.

Dann war da auch noch Roses Mann Hal, um den er sich Sorgen machen musste. Mit ihm wollte Clayton ganz bestimmt keinen Ärger bekommen.

Clayton trottete zum Kühlschrank hinüber und angelte sich ein Coors Light. Er öffnete die Bierdose und trank einen Schluck. Es schmeckte lauwarm und bitter, aber es erfüllte seinen Zweck.

Er blieb neben dem Kühlschrank stehen, beobachtete das rhythmische Flackern des seltsamen Lichts und lauschte dem regelmäßigen Stapfen von Roses Schritten.

Bumm, bumm, bumm, bumm … Bumm, bumm, bumm, bumm …

Clayton trat ans Fenster. Sirenengeheul, das Geräusch von quietschenden Reifen und gelegentliche Schreie drangen durch das offene Fenster zu ihm herauf. Irgendwo weinte ein Baby. Wenn es draußen wärmer wurde, ließ er das Fenster gerne offen stehen. Er mochte es, wenn ein Luftzug durch sein stickiges Ein-Zimmer-Apartment wehte. Der Lärm der Stadt störte ihn nicht.

Clayton blickte in die Gasse hinunter. Ihm kam der Gedanke, dass vielleicht jemand mit einer Taschenlampe herumspielte und sich einen Scherz mit ihm erlaubte. Aber er sah nichts als Schatten und dunkle Umrisse. Umrisse, bei denen es sich möglicherweise um Mülltonnen oder herumstehende Einkaufswagen handelte, welche die angrenzende Gasse verstopften – aber vielleicht verbarg sich ja auch etwas Unheimlicheres dahinter.

Was auch immer sich dort unten in der übel riechenden Gasse befand, es war ganz sicher nicht die Quelle des seltsamen Lichts.

Es blinkte ihn noch immer an.

Es erinnerte ihn an die Traumfänger, die er als kleiner Junge gehabt hatte. Das Sonnen-oder Mondlicht war von Hunderten winziger Spiegel reflektiert worden, während sie langsam im Wind tanzten.

Nun hing jedoch kein Traumfänger mehr in seinem Fenster.

Vielleicht, wenn er wieder auf die Beine gekommen war und sich ein schickes Apartment an der Upper East Side leisten konnte. Ja, wenn er endlich aus diesem Drecksloch im Village wegziehen konnte, würde er sich ein ganzes Regiment von Traumfängern kaufen.

Er sah zum Vollmond empor und trank einen weiteren Schluck Bier.

In Gedanken floh er in ein neues, besseres Leben. Als er die Dose geleert hatte, war es bereits nach ein Uhr. Die Schritte waren verstummt und auch das Licht war erloschen.

Er wandte sich vom Fenster ab, warf die Blechbüchse auf den Boden und sprang zurück ins Bett.

Clayton blieb wach, bis Hal nach Hause kam, dachte über das Licht nach und fragte sich, was – oder wer – wohl dahintersteckte. Das Licht kam nicht mehr zurück und schließlich schlief er ein.

»Ja, ich weiß. Es tut mir leid.«

Geoff seufzte. »Mein Gott, Clay. Ich organisiere diese Vorstellungsgespräche für dich und du tauchst da nicht mal auf. Was für ’ne verfluchte Botschaft sendest du damit wohl an deine potenziellen Brötchengeber, hä?«

»Hör zu, Geoff. Ich war in letzter Zeit einfach wahnsinnig müde. Ich hab nicht viel geschlafen und heute Morgen einfach verpennt. Das ist alles.«

»Das ist alles? Okay, hör zu, Kumpel, ich hab’s geschafft, dir übermorgen noch mal ein Vorstellungsgespräch bei meinem Chef zu verschaffen, Punkt acht Uhr dreißig. Glaubst du, du kriegst das hin?«

Clayton hätte ihm am liebsten gesagt, dass er den Job eigentlich gar nicht wollte, dass er keine 20 Kilo zulegen oder vorzeitig die Haare verlieren wollte wie Geoff. Aber der Junge war sein bester Freund und er legte sich wirklich wahnsinnig ins Zeug, um ihm zu helfen.

»Sicher. Danke.«

»Sei pünktlich, ja? Zieh dir ’nen anständigen Anzug an und kriech richtig zu Kreuze wegen heute Morgen, okay?«

»Das werd ich.«

»Also, jetzt erzähl mal. Was ist los? Warum bist du in letzter Zeit immer so müde? Du arbeitest nicht, du hast keine Frau, die dich wach hält, und du gehst kaum noch aus.«

»Ich schlafe einfach schlecht, das ist alles.«

»Dafür gibt’s Tabletten.«

»Ich will aber nichts nehmen. Das weißt du. Es ist nichts Ernstes. Nur …«

»Nur was?«

Clayton wusste, was Geoff dazu sagen würde, aber er musste es trotzdem jemandem erzählen.

»Hält diese Alte, Rose, dich immer noch wach?«

»Ja.«

Geoff lachte. »Tigert die etwa nach wie vor jeden Abend auf und ab und wartet drauf, dass ihr geliebter Ehemann endlich anruft?«

»Ja.«

»Ich sag’s dir, dieser Hal ist ein verdammter Glückpilz. Was würde ich nicht alles tun, um die flachzulegen.«

»Das ist aber nicht der einzige Grund, warum ich nicht schlafen kann«, setzte Clayton nach.

»Okay. Was ist denn noch?«

»Ein Licht.«

Geoff schwieg einen Augenblick. »Hä?«

»In den letzten beiden Nächten war da so ein komisches flackerndes Licht. Es sieht aus, als ob irgendwo jemand eine Lupe vor den Mond hält und den gebündelten Strahl in meine Wohnung lenkt. Nur dass es flackert. An und aus. Ungefähr zehn Minuten lang, dann verschwindet es wieder.«

Clayton erwartete Gelächter oder abfällige Bemerkungen.

»Junge, du muss echt mal schlafen«, erwiderte Geoff stattdessen schmunzelnd.

»Aber was kann das denn sein? Ich hab keine Ahnung, wo es herkommt oder was die Ursache dafür ist. Es scheint immer genau dann aufzuhören, wenn Rose ins Bett geht.«

Geoff atmete ganz langsam ein. »Was denkst du denn, was es ist? Ein UFO?«

»Nein, natürlich nicht. Ich weiß nicht.«

Clayton hatte zwar ein paar Theorien, aber die waren allesamt lächerlich. Er wusste genau, was für eine Reaktion sie bei Geoff auslösen würden, deshalb hielt er lieber die Klappe.

»Wahrscheinlich ist es gar nichts.«

»Sicher. Es ist nichts«, erwiderte Geoff. »Hör zu, spann mal aus. Geh zu dem Vorstellungsgespräch, schinde richtig Eindruck und schnapp dir den Job, dann kannst du endlich aus Greenwich Village weg und zu mir ins Haus ziehen. Hier ist ’ne Wohnung frei, die wartet nur auf dich, Kumpel. Stell dir nur mal vor, was wir für Partys feiern könnten. Wieso gehst du nicht einfach zu Rose nach oben und leistest ihr Gesellschaft, bis Hal nach Hause kommt …?«

Wenn du wüsstest, wie oft ich genau darüber schon nachgedacht habe!

»Wenigstens hält sie dich dann nicht mehr mit ihrem Getrampel auf Trab. Du wärst viel zu müde von der ganzen …«

»Ja, ja«, unterbrach ihn Clayton. »Danke für den guten Rat.«

Geoff lachte. »Okay, Clay. Ich sollte besser Schluss machen. Melde dich nach dem Vorstellungsgespräch mal und erzähl, wie’s gelaufen ist, ja?«

»Klar.«

»Viel Glück, okay?«

»Danke.«

Clayton legte auf.

Er widmete sich wieder seinem Abendessen: Bier und Pizza.

Es war kurz nach 21:30 Uhr.

Clayton saß auf der Bettkante und wartete. Seine Augen waren schwer und er wusste genau, dass er lieber schlafen sollte, aber er wollte sehen, ob das Licht auch heute Nacht wieder zurückkehrte.

Er hatte sich das Hirn darüber zermartert, was es mit dem Licht auf sich haben konnte. Obwohl er sich ganz sicher war, dass es eine simple Erklärung dafür gab, ließ ihn der Gedanke nicht los, dass vielleicht doch etwas Aufregendes dahintersteckte. Beispielsweise, dass irgendwo jemand gefangen gehalten wurde und versuchte, auf die einzige ihm mögliche Weise zu kommunizieren – indem er ein Licht durch Claytons Wohnung flackern ließ.

Clayton wusste zwar, dass das höchst unwahrscheinlich war und seine Idee sicher nur darauf zurückzuführen war, dass er zu viele schlechte Horrorfilme gesehen hatte, aber irgendwoher musste das Licht ja kommen. Es musste einen Grund dafür geben.

Bumm, bumm, bumm, bumm … Bumm, bumm, bumm, bumm …

»Beim nächsten Schritt ist es null Uhr fünfzig«, sagte Clayton und lächelte über seinen eigenen Witz.

Er hörte zu, wie Rose auf und ab ging und stets eine kleine Pause machte, um umzudrehen, wenn sie das Ende ihrer Wohnung erreichte.

Er hat in den letzten beiden Wochen jede Nacht angerufen. Er wird auch heute Nacht wieder anrufen.

Wenn er natürlich den Mut dazu hätte …

Ein Licht schien in Claytons Apartment. Er richtete sich kerzengerade auf, starrte darauf und wurde sich bewusst, dass er den Atem anhielt. Er atmete langsam aus, während der strahlende Kegel erneut durch seine Wohnung wanderte.

Sein geheimnisvolles Licht war zurückgekehrt – und das Muster war dasselbe wie schon bei den letzten Malen.

Er stand auf und während er zum Fenster hinüberging, kam ihm seine Idee, bei dem Licht handele es sich um eine Form von Hilferuf, plötzlich viel logischer vor. Es wirkte wirklich wie eine Art Signal.

Auch in dieser Nacht war es wieder warm und der Mond schien hell. Clayton spürte, wie eine sanfte Brise zu ihm hereinwehte. Er blickte in die Gasse hinunter und nahm eine Bewegung in den Schatten wahr. Sein Herz begann zu rasen. Was, wenn er recht hatte und dort unten wirklich jemand gefangen war, der versuchte, ihn zu erreichen?

Das entfernte Geräusch einer scheppernden Mülltonne drang zu Clayton in die Wohnung hinauf.

Als er sich in der Hoffnung, weitere Details ausmachen zu können, nach vorne beugte, blendete erneut ein Licht seine Augen.

Obwohl es kurz darauf wieder verschwunden war, schien es ihm in diesem Moment absolut sicher zu sein, dass der Ausgangspunkt des Lichts direkt vor ihm lag und nicht unten in der Gasse.

Wahrscheinlich nur ein paar Katzen, dachte er, als der Lärm nicht verstummte.

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder nach vorne.

Sein Fenster blickte wie das aller anderen Wohnungen auf dieser Seite des Gebäudes auf ein altes Lagerhaus, das schon seit Jahren leer stand. Das ZU VERMIETEN-Schild war schon länger durch Graffiti verunstaltet und die dunklen, leeren Räume boten hin und wieder Obdachlosen und Junkies ein kurzzeitiges Zuhause. Es war groß, dreckig, leer und hässlich. Nicht unbedingt der schönste Ausblick, den man sich vorstellen konnte, aber wenn man bedachte, in was für einer Mietskaserne er selbst wohnte, war er angemessen.

Das Licht schien aus dieser Richtung hinüberzuleuchten, aber Clayton konnte trotzdem nicht mit Sicherheit sagen, woher es genau kam. Da das Licht ständig an-und wieder ausging, konnte es von überall stammen.

Aber was steckt denn nun wirklich dahinter?

Clayton starrte so lange und angestrengt in die dunklen Fenster des Lagerhauses, dass seine Augen begannen, ihm Streiche zu spielen. Er bildete sich ein, die dunklen Umrisse einer Person zu sehen – einer Person, die in einem der Räume saß.

Clayton blinzelte und schüttelte den Kopf.

Mein Gott, jetzt habe ich schon Halluzinationen.

Er sah erneut in den Raum, in dem er glaubte, die dunkle Gestalt wahrgenommen zu haben, sah jedoch nichts als tiefe Schwärze.

Er lächelte.

Schon unglaublich, was dein Verstand so alles heraufbeschwört, wenn du in die Dunkelheit starrst.

Das Licht flackerte erneut auf und verschwand dann wieder.

Von oben hörte er die gedämpfte Stimme von Rose.

Scheint, als hätten wir eine weitere Nacht unbeschadet überstanden.

Mit einem Seufzen wandte Clayton sich vom Fenster ab. Er ging zurück zu seinem Bett und legte sich auf die Matratze.

Fragen wirbelten in seinem Kopf herum. Fragen, auf die er immer noch eine Antwort suchte, als er 20 Minuten später in den Schlaf sank.

Es war ein langer und öder Tag gewesen. Clayton hatte einen Spaziergang zum Laden gemacht und Schokolade, Kaffee, Brot, Zigaretten und ein paar Bier gekauft. Da er ziemlich knapp bei Kasse war, konnte er sich nur das Allernötigste leisten. Das einzig Interessante an diesem Tag war, dass er Rose gesehen hatte. Sie hatte draußen an der Hauswand gelehnt und geraucht. Da Hal nicht dabei gewesen war, hatte Clayton angenommen, dass er oben in der Wohnung lag und schlief. Rose hatte ihn angelächelt, als er mit seinen Einkaufstüten die Stufen zur Eingangstür des Gebäudes hinaufgestapft war. Er hatte etwas Geistreiches sagen wollen, dann aber nur zurückgelächelt und ihr zugenickt. Er war noch nicht einmal stehen geblieben.

Ich bin ein Idiot, dachte er, als er nun in der Dunkelheit seines Apartments saß, eine Dose Coors Light in seiner verschwitzten Hand. Da hab ich mal die Gelegenheit, mich mit ihr zu unterhalten, und was mache ich? Ich grinse nur wie ein Volltrottel und gehe weiter.

Es war jedoch ein Trost, dass Rose ihn ebenfalls angelächelt hatte. Andererseits dachte er, dass sie eben so ein Mensch war – nett und freundlich und mit einem Lächeln für jeden, der ihr begegnete.

Trotzdem gefiel ihm der Gedanke, dass sich ihre Mundwinkel nach oben gezogen hatten, weil sie auf ihn stand. Dass sie ihm damit ein Zeichen gegeben hatte, heute Abend zu ihr nach oben zu kommen, wenn ihr Mann gegangen war.

Und genau das sollte ich jetzt auch tun, anstatt hier herumzusitzen und auf das Licht zu warten.

Clayton erschrak, als die Schritte anfingen. Er stieß ein nervöses Kichern aus.

Bumm, bumm, bumm, bumm … Bumm, bumm, bumm, bumm …

Er wusste nicht, warum er sich heute Nacht so angespannt fühlte. Er war ziemlich aufgekratzt, seit er Rose am Nachmittag gesehen hatte.

Er nahm einen Schluck und sah zum Fenster.

Sie ist aber auch echt heiß.

Er rief sich in Erinnerung, wie sie am Nachmittag ausgesehen hatte – enges weißes Schlauch-Top und kurze, abgeschnittene Jeans.

Ein Glück, dass Sommer ist!, dachte er und wartete weiter.

Als das Licht noch immer nicht auftauchte, nachdem er Rose oben bereits ein paar Minuten lang gehört hatte, seufzte Clayton enttäuscht.

Wo ist es denn?

Er drehte sich um und sah auf die Uhr. Sie verriet ihm die Antwort. Es war erst 0:30 Uhr. Wenn er von den drei vergangenen Nächten ausging, würde sich das Licht erst um 0:50 Uhr zeigen.

Erst in 20 Minuten.

Rose war zu früh dran.

Die arme Frau, dachte Clayton. Sie wird von Nacht zu Nacht nervöser.

Er fragte sich, in welchem Zustand sie sich wohl nach einem Monat des Wartens und Auf-und-ab-Gehens befinden würde.

Vielleicht wäre sie dann ja wirklich dankbar für ein bisschen Gesellschaft. Immerhin hatte sie ihn angelächelt, also wusste sie ganz offensichtlich, dass er ebenfalls im Haus wohnte, und betrachtete ihn als freundlichen Nachbarn.

Ich kann nicht. Das bin ich nicht. Ich hab noch nie bei einer praktisch völlig Fremden geklingelt und sie gefragt, ob sie vielleicht gern ein wenig Gesellschaft hätte. Sie wird mich für verrückt halten oder noch Schlimmeres.

Trotzdem erregte ihn der Gedanke.

Bumm, bumm, bumm, bumm … Bumm, bumm, bumm, bumm …

Sie war ganz allein dort oben. Jung, wunderschön und verängstigt. Wahrscheinlich brauchte sie dringend einen starken Arm, der sie tröstete und wärmte, bis ihr Ehemann wieder nach Hause kam.

Er dachte an seine Unterhaltung mit Geoff am vergangenen Abend. Daran, was Geoff zu ihm gesagt hatte – »Wieso gehst du nicht einfach zu Rose nach oben und leistest ihr Gesellschaft, bis Hal nach Hause kommt …? Wenigstens hält sie dich dann nicht mehr mit ihrem Getrampel auf Trab.«

Warum eigentlich nicht? Ich habe schließlich nichts zu verlieren.

Außer seinen Zähnen, falls sie ihrem Mann davon erzählte, wenn er nach Hause kam.

Aber er kommt frühestens in einer Stunde nach Hause. Stell dir das doch nur mal vor – eine ganze Stunde mit Rose. Ich muss endlich mal beweisen, dass ich Eier in der Hose habe, und hin und wieder was riskieren.

Er beschloss, dass es wert war, ein paar Zähne zu verlieren, wenn er dafür ein bisschen Zeit mit Rose verbringen konnte.

Clayton erhob sich und ging zur Tür. Er trug noch immer seine Jeans und sein T-Shirt und musste sich daher nicht umziehen. Er machte trotzdem einen Abstecher zum Bad, um sein Deo aufzufrischen und mit Mundspülung zu gurgeln, bevor er die Wohnung verließ.

Er öffnete die Tür einen Spaltbreit und lugte hinaus auf den düsteren Korridor. Alles war ruhig. Er trat hinaus, schloss die Tür hinter sich und schlich zur Treppe, die in den obersten Stock hinaufführte.

Eigentlich hätte er nicht so leise sein müssen, schließlich kamen und gingen im Haus die ganze Nacht über Leute – hier spielten sich noch ganz andere Sachen ab als Szenen, in denen ein Mann einer armen, hilflosen Frau zu Hilfe eilte –, aber er kam sich irgendwie hinterhältig vor und schämte sich sogar ein bisschen.

Schließlich war er unterwegs, um einer verheirateten Frau einen Besuch abzustatten.

Vorsichtig erklomm Clayton jede einzelne Stufe. Als er das Ende der Treppe erreichte, war er erleichtert, dass ihm unterwegs keine nächtlichen Besucher begegnet waren.

Er wischte sich seine verschwitzten Handflächen an der Jeans ab und ging den Flur entlang.

Normalerweise wäre Clayton einer der Ersten gewesen, die sich über die schlechte Beleuchtung im Gebäude beschwerten, aber heute Nacht war er dankbar dafür.

Vor Apartment 612 blieb er stehen.

Ich bin gekommen, um dir zu helfen, Rose.

Aber auch seine guten Absichten konnten seine Nervosität nicht verbergen. Er blickte auf die Reihen aus Türen in seinem Rücken und erwartete, dass sich jeden Moment eine von ihnen öffnen, eine neugierige Nachbarin ihren Kopf herausstrecken und ihm sagen würde, er solle verdammt noch mal verschwinden. Ihr Mann sei nämlich Polizist und er solle bloß aufpassen, was er tat.

Er hob seinen Arm, klopfte aber nicht.

Ihm fiel wieder ein, dass er, falls er tatsächlich erfolgreich sein und Rose ihn einlassen sollte, sein Licht verpassen würde.

Komm schon, Clay. Was ist wichtiger? Mit einer schönen Frau zu schlafen oder irgendein komisches Licht zu beobachten?

Er kannte die Antwort, aber während er dort mit zum Klopfen erhobenem Arm im Korridor stand, erschien ihm die ganze Idee plötzlich furchtbar lächerlich und kindisch. Vielleicht würde jemand wie Geoff die Sache wirklich durchziehen können, aber Clayton war nicht wie Geoff und bis zu diesem Augenblick war er darüber eigentlich auch ganz froh gewesen.

Bumm, bumm, bumm, bumm … Bumm, bumm, bumm, bumm …

Die Schritte klangen gedämpft, hallten jedoch laut in Claytons Herz wider. Er wusste, dass er nie wieder zurückkehren würde, wenn er sich jetzt umdrehte. Dies war seine einzige Chance. Seine einzige Gelegenheit, mit jemandem zusammen zu sein, der so attraktiv war wie Rose. Verflucht, vielleicht würde er hinterher ja endlich wieder ein bisschen Schlaf finden.

Es war im besten Interesse aller, wenn er jetzt anklopfte.

Irgendwo unter ihm fiel eine Tür mit lautem Knallen ins Schloss.

Clayton zuckte erschrocken zusammen.

Es hatte wie die Haustür geklungen.

Clayton stellte sich vor, wie Hal früher nach Hause kam und die sechs Treppen erklomm. Er stellte sich vor, wie Hal die Wohnung betrat und ihn mit Rose im Bett erwischte. Und er stellte sich das unvermeidbare Blutbad vor, das sich an die Szene anschließen würde.

Sie geht immer noch auf und ab. Er hat noch nicht angerufen.

Clayton kam der Gedanke, dass Hal sie womöglich überraschen wollte. Dass er irgendwo angehalten und Blumen und Pralinen gekauft hatte.

Das war zu viel.

Clayton ließ seinen Arm sinken und seufzte.

Feigling.

Lieber ein gesunder Feigling, als ein verprügelter, aber befriedigter Mann, dachte er.

Clayton drehte sich um und eilte zurück ins Treppenhaus. Als er die Stufen hinunterstürzte, war ihm egal, wie viel Lärm er dabei machte.

Er wollte wieder in seiner Wohnung sein, bevor sein imaginärer Hal den fünften Stock erreichte.

Clayton begegnete niemandem, während er zu seiner Wohnung rannte. Er öffnete die Tür, trat in die vertraute Dunkelheit und fühlte sich sicher.

Er keuchte, schwitzte heftig und stellte fest, dass es bereits 0:52 Uhr war.

Bumm, bumm, bumm, bumm … Bumm, bumm, bumm, bumm …

Oben waren noch immer die Schritte zu hören. Sie waren genauso laut wie vorher, aber nun erinnerten sie Clayton an eine verpasste Gelegenheit. Er wünschte sich mehr als je zuvor, sie würden endlich aufhören.

Was die ganze Sache noch schlimmer machte, war, dass das Licht nirgends zu sehen war.

Clayton trat ans Fenster und schaute zu dem alten Lagerhaus hinüber. Die Uhrzeit stimmte, aber nirgendwo blitzte ein Licht.

Er fühlte sich traurig, so als habe er einen kleinen Teil von sich selbst verloren.

Trotzdem wartete er am Fenster, bis die Schritte aufhörten und er Rose über sich reden hören konnte.

Das Licht kehrte nicht zurück. Nun würde er niemals erfahren, was wirklich die Ursache dafür gewesen war.

Zu allem Überfluss schien er auch noch falsch damit gelegen zu haben, dass Hal früher nach Hause gekommen war, um Rose zu überraschen.

Ich hätte anklopfen sollen, dachte er.

Clayton kam sich vor wie ein Narr und ein Feigling, als er sich, enttäuscht von sich selbst, auszog und in sein Bett stieg.

Trotz allem, was passiert war – oder vielleicht gerade deswegen – schlief er beinahe sofort ein.

Obwohl er sich am nächsten Morgen wie gerädert fühlte, schaffte Clayton es, rechtzeitig für das Vorstellungsgespräch aufzustehen. Er duschte und rasierte sich, trank zwei Tassen Kaffee zum Frühstück und zog seinen einzigen anständigen Anzug an. Als er kurz noch einen kontrollierenden Blick in den Spiegel an seinem Kleiderschrank warf, gefiel ihm, was er sah.

Ich werd sie vom Hocker reißen.

Er griff nach seiner Aktentasche und ging zur Tür.

Er erlitt einen kleinen Schock, als er sah, dass der gesamte Flur voller Polizisten war. Einige von ihnen sprachen mit Bewohnern des Hauses, andere gingen die Treppe zum sechsten Stock hinauf oder hinunter und Clayton sah, dass am Treppengeländer ein gelbes Absperrband befestigt war.

»Clayton!«

Clayton drehte sich um und erkannte Herbert Jones. Herbert wohnte ebenfalls im fünften Stock und wusste immer gerne über alles Bescheid, was im Haus passierte.

»Mein Gott, ist das ein Zirkus hier«, sagte der alte Mann mit einem schiefen Grinsen und schüttelte den Kopf. Er trug noch immer seinen Morgenmantel.

Clayton starrte den kleinen, grauhaarigen Mann an. »Was zur Hölle ist denn hier passiert?«

»Hast du’s etwa noch nicht gehört?«

Clayton schüttelte den Kopf.

»Die kleine Rose Hawkins wurde letzte Nacht ermordet.«

In Claytons Kopf drehte sich alles. »Ermordet? Rose?«

»Das hab ich doch grade gesagt. Sie wurde abgeschlachtet. Im Schlaf. Die Bullen glauben, dass es ein Serienkiller war. Du weißt schon, der Typ, der diese ganzen Frauen in ihren Wohnungen abgemurkst hat, während sie geschlafen haben.«

»Das glauben sie?«

Der alte Mann grinste und zeigte seine krummen, gelben Zähne. »Nee, eigentlich nicht. Aber ich glaube das. Und ich wette, ich habe recht.«

Clayton beobachtete das Geschehen wie durch einen Schleier: die umhereilenden Polizisten, die Aussagen aufnahmen und nach Spuren suchten. Es war alles so surreal.

»Ich wette, die Bullen werden auch mit dir reden wollen«, sagte Herbert.

»Hä?«

Clayton verfiel in Panik. Glaubten sie etwa, er habe es getan? Hatte ihn letzte Nacht doch jemand gesehen?

»Die Bullen. Die werden mit dir reden wollen. Ich meine, Scheiße, du wohnst doch direkt unter dem armen Mädchen.« Herbert beugte sich ganz dicht zu ihm heran. Er roch nach Schweiß und Kaffee. »Hast du denn letzte Nacht irgendwas gehört?«

Clayton schüttelte den Kopf und entspannte sich ein wenig. »Nein. Nur ihre Schritte.«

»Während sie auf Hal gewartet hat?«

Clayton nickte.

»Er hat sie gefunden. Furchtbar, zu Hause so was vorzufinden, was?«

»Ich hab gehört, wie sie mit ihm gesprochen hat«, fuhr Clayton fort, während seine Gedanken abschweiften und er an die letzte Nacht zurückdachte.

»Scheint so, als sei der Mörder in ihre Wohnung eingebrochen. Das muss gewesen sein, nachdem sie mit Hal gesprochen hat, aber bevor er nach Hause kam. Ich schätze, der Kerl muss sie beobachtet haben oder so. Ich meine, wie hätte er denn sonst wissen sollen, wann er einbrechen muss, um sie allein zu erwischen?«

»Dann bin ich eingeschlafen«, sagte Clayton und seine Stimme klang abwesend.

»Also eigentlich hättest du den Krach hören müssen, nachdem Hal heimkam. Mein Gott, das ganze Haus war voller Bullen und Sanitäter. Hast du davon gar nichts mitbekommen?«

»Nein.«

Herbert stieß einen Pfiff aus. »Junge, du hast echt einen tiefen Schlaf.«

»Na ja, ich war in letzter Zeit ziemlich müde. Wissen sie schon, wer’s gewesen ist?«

»Das sind die Bullen. Was glaubst du wohl?« Herbert lachte. »Im Moment ist Hal ihr Hauptverdächtiger. Aber nicht, weil sie eindeutige Beweise hätten. Die übliche Routine eben. Sie reden schon den ganzen Vormittag mit allen hier im Haus, aber bisher haben sie noch keine Hinweise gefunden. Abgesehen von dem, den der Mörder hinterlassen hat. Scheiße, sie haben überhaupt nur einen Hinweis, weil der Mörder unvorsichtig war.«

»Was hat er denn hinterlassen?«

»Also, laut Mrs. Dally in Nummer 616 haben sie irgendeine Halskette gefunden. So ein altes Ding aus Glas. Hal behauptet, es gehöre weder ihm noch Rose. Deshalb denken sie, dass es der Mörder dagelassen hat. Natürlich geben die Bullen das nicht zu. Es hat einen Kampf gegeben, weißt du? Anscheinend hat Rose sich gewehrt wie …« Herbert unterbrach sich, als ein Polizist zu ihnen kam.

»Wer sind Sie?«

Es dauerte einen Moment, bevor Clayton klar wurde, dass der Polizist mit ihm sprach. »Clayton Patterson.«

»Wohnen Sie in diesem Apartment?«

Clayton nickte.

»Dann muss ich Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte der Polizist und klappte seinen Notizblock auf. Er warf Herbert einen Blick zu. »Würden Sie uns bitte entschuldigen, Sir?«

»Natürlich, Officer.« Herbert schlurfte davon und sein Morgenmantel flatterte hinter ihm her.

»Gut, mein Sohn. Wie war noch mal Ihr Name?«

»Ich komme zu spät zu meinem Vorstellungsgespräch«, sagte Clayton.

Der Polizist schnaubte und verzog einen Mundwinkel. »Das werden Sie ausfallen lassen müssen, mein Junge.«

Clayton ließ seine Aktentasche fallen. Sie prallte mit einem dumpfen Schlag auf den Boden und ihre Leere spiegelte seine eigenen Gefühle wider. »Ich wollte den Job sowieso nicht.«

Der Polizist nickte. »Ihren vollständigen Namen, bitte.«

Clayton sah auf seinen Wecker: 0:50 Uhr.

Er wartete. Als die Schritte ausblieben, stieß er einen Seufzer aus.

Nicht dass er sie erwartet hatte.

Trotzdem fehlte ihm jetzt etwas. Es war zu still. Es schien, als habe er sich bereits an das allnächtliche Ritual gewöhnt.

Er blickte zum Fenster des alten Lagers hinüber, beobachtete den Strahl des Mondlichts, der eine helle Linie in sein Apartment zeichnete. Auch das blinkende Licht war nirgends zu sehen.

Und es würde auch nie zurückkehren, das wusste Clayton.

Es war erloschen genau wie das Leben von Rose.

Clayton zitterte trotz der warmen Brise, die durch das offene Fenster hereinwehte. Und obwohl er völlig erschöpft war, würde er heute Nacht keine Erholung finden.

NOTIZEN ZUR ENTSTEHUNG:

Ich bin ein großer Fan von Mystery-Kriminalgeschichten und Magazinen wie Ellery Queen und Alfred Hitchcock. Ich habe diese Geschichte mit der Absicht geschrieben, sie bei Ellery Queen einzureichen. Das ist ein hart umkämpfter Markt – und tatsächlich: Ein paar Monate später erhielt ich ein erstes Ablehnungsschreiben des legendären Magazins. Aber nur kurze Zeit später trat Eric von Nocturne Press an mich heran und fragte mich, ob ich ihm eine Erzählung für die erste Ausgabe von Post Mortem anbieten könnte. Diese Geschichte war in meinem Kopf noch ganz frisch, also habe ich sie ihm geschickt. Sie gefiel ihm und er hat sie gekauft.