Eine Frage des Glaubens

(A Question of Believe)

Der Mann stand am Rand der Klippe, wiegte sich sanft vor und zurück und starrte auf die wogende See hinunter.

Auf den ersten Blick glaubte der Reverend, der Kerl genieße nur die wunderschöne Aussicht. Schließlich war sie der Grund, weshalb auch Reverend Bill Blight hier heraufgekommen war. Er machte seinen üblichen Spaziergang entlang der Klippen und genoss den Zauber des Meeres.

Als er sich dem Mann jedoch näherte, bemerkte der Reverend dessen zerfledderte Kleidung. Sie flatterte und tanzte im Wind, einige Stofffetzen wurden nur noch von sehr dünnen Fäden zusammengehalten.

Nun wusste er, dass dieser Mann nicht hier war, um die Aussicht zu genießen – definitiv nicht.

Der Reverend spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Einen so unglücklichen Mann wie diesen zu sehen, der ganz offensichtlich mit der Welt abgeschlossen hatte, machte ihn traurig. Er hatte in seinen 40 Jahren als Geistlicher schon mit vielen entmutigten Seelen zu tun gehabt und kannte die Anzeichen beginnender Selbstzerstörung nur zu gut.

Es war seine Pflicht, diesem Mann zu helfen. Genau diese Aufgabe stand schließlich im Mittelpunkt seines Lebens und seiner Arbeit.

Der Reverend hielt direkt auf den Mann zu, und als er ihn beinahe erreicht hatte, wehte ihm ein beißender Geruch in die Nase. Es stank nach einer Mischung aus verdorbenem Fisch und Abfall, der zu lange in der Sonne vor sich hingerottet hatte. Der Reverend versuchte, flach zu atmen, war dabei jedoch bemüht, eine freundliche Miene aufzusetzen. Als er neben den Fremden trat, konnte er hören, wie die Brandung gegen die Felsen krachte und die Möwen in das Konzert einstimmten.

»Guten Tag, mein Sohn«, sagte der Reverend und atmete tief durch. »Eine herrliche Aussicht, nicht wahr? Was für ein wundervoller Tag.«

Der Reverend drehte sich um und sah den Mann an. Er musste unwillkürlich nach Luft schnappen. Das Gesicht des Mannes war furchtbar blass, auf seinen Wangen und an seiner Stirn erkannte er abgerissene Hautfetzen. Aus seinen Wunden sickerte eine klare Flüssigkeit.

Die Augen des Mannes waren glasig. Der Reverend erkannte keinerlei Leben in ihnen, kein Anzeichen dafür, dass er seine Umgebung bewusst wahrnahm.

Dieser Mann ist furchtbar krank.

»Es ist schon gut«, sagte er zu dem Mann und versuchte, seine Stimme betont ruhig klingen zu lassen. »Ich kann Ihnen helfen.«

Der Fremde schaukelte weiter hektisch vor und zurück und starrte aufs Meer hinaus.

»Wie heißen Sie?«

Er bekam keine Antwort.

»Mein Name ist Reverend Bill Blight. Würden Sie mir Ihren Namen verraten?«

Der Fremde hob seinen Arm und zeigte auf das Wasser hinaus. Er öffnete seinen Mund und stieß einen erstickten Schrei aus.

»Ja, das ist der Ozean«, ermutigte ihn der Reverend.

Der Mann stöhnte erneut, diesmal mit mehr Entschlossenheit.

Der Reverend nickte und lächelte.

Vielleicht ist er krank oder geistig zurückgeblieben und aus einer Klinik ausgebrochen, dachte er, obwohl er hier in der Nähe keine psychiatrische Anstalt kannte.

»Kommen Sie, ich wohne ganz in der Nähe. Sie können mit zu mir kommen und dort etwas essen.«

Der Reverend fasste den Mann sanft am Arm und spürte, dass sein Hemd klamm war. Es war nicht mehr richtig nass, sondern es fühlte sich eher an, als habe der Wind seine klatschnasse Kleidung größtenteils getrocknet. Er begann, den Mann vom Rand der Klippe wegzuführen.

Doch dieser riss sich los, stieß störrische Grunzlaute aus und kehrte an den Rand der Klippe zurück.

Der arme Mann scheint sich dem Meer zutiefst verbunden zu fühlen, dachte der Reverend. Er lächelte und packte den Mann erneut am Arm.

»Kommen Sie. Ich kann Sie später wieder hierher bringen, wenn Sie etwas gegessen und sich richtig gewaschen haben.«

Dieses Mal folgte der Mann dem Reverend ohne Gegenwehr, wimmerte jedoch leise, als dieser ihn von der Küste wegführte.

Das Haus des Reverends war lediglich einen gemütlichen, zehnminütigen Spaziergang vom Meer entfernt. Das hohe, dünne Gras, das die Klippen bedeckte, säumte auch den gesamten Weg hin zu seinem Haus. Der dunkle, sandige Boden ließ keine üppig grüne Vegetation zu. Hinter seinem Haus erhob sich eine kleine Gruppe von Hügeln wie Klumpen aus grünem Lehm. Hier hatte er sich sein kleines Nest gebaut, war nicht zu weit von der Stadt oder der Kirche entfernt. Bis vor wenigen Jahren war er hier zufrieden und geborgen gewesen. Mittlerweile hingen zu viele traurige Erinnerungen daran.

Es war Spätnachmittag und die Sonne setzte am Horizont bereits zu ihrem Sinkflug an, als sie das Haus erreichten. Der Reverend führte den Mann hinein und setzte ihn an den Küchentisch.

»Wir sollten erst mal Ihre Wunden versorgen, mein Freund.« Der Reverend ging ins Badezimmer, griff nach einer Tube mit antiseptischer Salbe, einigen Pflastern und einer Tüte mit Wattebällchen. Er ging zu dem Mann zurück und legte alles auf den alten Holztisch.

»Das brennt jetzt vielleicht ein bisschen, in Ordnung?«

Der Mann starrte mit leerem Ausdruck auf die Tür.

Der Reverend verteilte ein wenig Salbe auf ein Wattebällchen und tupfte damit vorsichtig die blutigen Wunden ab. Der Mann zuckte jedoch nicht zusammen oder kreischte vor Schmerzen auf. Erstaunt fuhr der Reverend fort, ihn zu säubern und zu verbinden.

Als Nächstes ließ er die Badewanne mit dampfend heißem Wasser volllaufen. Er half dem Mann, sich auszuziehen – seine nasskalte Kleidung warf er in den Müll – und in die Wanne zu steigen. Er reichte ihm ein Stück Seife und schloss die Badezimmertür, um ihm ein wenig Privatsphäre zu geben. Im Schlafzimmer suchte der Reverend ein paar alte Klamotten zusammen und ging dann in das kleine Wohnzimmer hinüber, wo er das Telefonbuch nach Kliniken in der Umgebung absuchte. Es gab nur zwei, die nächstgelegene war eine Autostunde weit entfernt.

Er rief die erste Nummer an. Dort lagen keine Meldungen über vermisste Patienten vor. Als er mit der zweiten Klinik telefonierte, sagte man ihm dasselbe.

Er bedankte sich für die Auskunft und legte verwundert wieder auf. Wer war dieser Mann?

Vielleicht war er ja auch in einem privaten Heim untergebracht. Wenn das zutraf, dürfte es schier unmöglich werden, herauszufinden, woher der Fremde kam. Er hatte die Taschen in der abgerissenen Kleidung des Mannes durchsucht, bevor er sie weggeworfen hatte, jedoch keinen Ausweis oder andere Dokumente vorgefunden.

Alles, was er entdeckt hatte, war ein kleines, zerfetztes Tagebuch in der hinteren Hosentasche. Die Seiten waren völlig durchnässt und klebten aneinander. Er hatte es zum Trocknen auf ein Regal im Wohnzimmer gelegt.

Der Reverend entfernte sich vom Telefon und ging zum Badezimmer zurück.

Er klopfte an die Tür und trat ein.

Er runzelte die Stirn. Der Mann verharrte unverändert in genau der Position, in der er ihn zurückgelassen hatte – mit angezogenen Knien, das Stück Seife fest in seiner Hand.

Der Reverend schüttelte den Kopf und grinste. »Sie sehen noch genauso dreckig aus wie vorhin, als ich Sie gefunden habe.«

Er stieß einen kurzen Seufzer aus, tat einen Schritt auf die Badewanne zu und nahm dem Mann die Seife aus der Hand.

Als der Reverend anschließend die Küche betrat, stand der Mann am Fenster und starrte auf den zunehmend dunkleren Himmel hinaus. Er trug die alte Kleidung des Reverends und roch entschieden sauberer. Aufgrund der vielen Pflaster wirkte er trotzdem ziemlich abschreckend.

Der Reverend schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln und gesellte sich zu ihm. »Morgen bringe ich Sie zurück an den Strand, alles klar?« Er fasste den Mann am Arm und spürte, dass dieser sich wehrte. »Kommen Sie, jetzt können Sie doch sowieso nicht mehr viel sehen. Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie morgen wieder zum Meer begleite. Dann können wir den ganzen Tag dort verbringen.«

Er führte den Mann zum Tisch hinüber, wo er sitzen blieb, während der Reverend das Abendessen zubereitete.

»Wie klingt Rindereintopf?«, rief der Reverend über seine Schulter. Er wusste zwar ganz genau, dass er keine Antwort erhalten würde, aber das störte ihn nicht. Es gefiel ihm, ein wenig Gesellschaft zu haben, auch wenn diese Gesellschaft ziemlich einfältig war. Er drehte sich wieder um und begann das Fleisch zu schneiden.

Eine Stunde später trug der Reverend einen großen Teller mit Eintopf zu dem Mann hinüber und stellte ihn vor diesem ab.

»Bitte schön«, sagte er mit einem Nicken. »Lecker und herzhaft.«

Der Mann saß nur da und starrte auf den Berg, der vor ihm stand. Er schien keine Ahnung zu haben, was er damit anfangen sollte.

Der Reverend griff nach dem Löffel und steckte ihn dem Mann in die Hand. Dann zeigte er ihm, wie er das Besteck zum Mund führen konnte. Wie ein unwissendes Kind ahmte der Mann den Reverend nach und schob sich einen Löffel voll Eintopf in den Mund.

»So ist es richtig«, ermunterte ihn der Reverend.

Sobald der Mann den Eintopf gekostet hatte, beugte er sich jedoch nach vorne und spuckte ihn wieder aus.

Der Reverend wich zurück, um sich nicht schmutzig zu machen. Stöhnend erhob sich der Mann, warf dabei seinen Stuhl um und rannte zur Arbeitsplatte hinüber.

»Was machen Sie denn da? Was ist denn los?«

Der Reverend bekam Angst. Angst, er könnte dem Mann etwas zu essen gegeben haben, wogegen er allergisch war. Auf jeden Fall schien es, als brauchte der andere dringend einen ordentlichen Schluck Wasser.

Doch das war es nicht, was der Mann wollte.

Statt zum Spülbecken zu gehen, schnappte er sich den Klumpen rohes Fleisch, das von der Zubereitung des Eintopfs noch übrig war, und stopfte ihn sich in den Mund.

»Meine Güte«, entfuhr es dem Reverend vor Schreck.

Der Mann machte sich über das Fleisch her wie ein ausgehungertes wildes Tier. Blut rann über sein Gesicht und tropfte auf seine Brust.

Dem Reverend wurde von dem Anblick ganz übel. Er hastete zu dem Mann hinüber und entriss ihm das Fleisch.

»Lassen Sie das«, befahl er.

Der Mann, sein Gesicht orangefarben verschmiert, senkte den Blick.

Plötzlich schien er sich für sein Verhalten zu schämen. Der Reverend warf das angekaute Stück Fleisch in den Abfalleimer und wusch sich am Spülbecken sorgfältig die Hände. Dann führte er den Mann ins Badezimmer, wo er ihm Gesicht und Hände mit Seife säuberte.

Anschließend setzte er ihn in sein Schlafzimmer und schloss die Tür.

Er war der Ansicht, der Mann könne ein wenig Erholung gut gebrauchen.

Die Nacht wurde allmählich kühler. Der Reverend saß am Kamin und las im Tagebuch des Mannes. Die Wärme des Feuers hatte die durchnässten Seiten getrocknet, aber ein Großteil der Einträge war trotzdem kaum noch zu entziffern.

Die Nässe hatte die Schrift verschmiert. Der Reverend war überrascht gewesen, als er das Tagebuch gefunden hatte, denn es bewies, dass der Fremde nicht geistig zurückgeblieben war, wie er zunächst angenommen hatte. Inzwischen hatte der Reverend die meisten Seiten des Tagebuchs, deren Inhalt noch nicht dem Wasser zum Opfer gefallen war, gelesen, aber nichts Interessantes darin gefunden.

Er blätterte eine der zerknitterten Seiten um und sah, dass die Buchstaben zu undeutliche Schemen verlaufen waren.

Er schlug die nächste Seite auf.

18. Mai 19 –

Dies ist meine zweite Nacht an Bort der »Coup L’Aire«. Die andern Jungs, es sind so um die 35, scheinen recht nett zu sein. Der Käpt’n ist ein bisschen rupig, aber sind sie das nicht alle?

Mein Boss, sie nennen ihn den Franzosen, ist in Ordnung. Ich weiß nicht, warum sie ihn so nennen, einen Akzent hat er nämlich nicht.

Heute Nacht schreibe ich nur einen kurzen Eintrag, ich bin hundemüde. Morgen halten wir in Hati (jedenfals glaube ich, dass das so geschrieben wird), um Kisten mit Zuker an Bort zu nehmen. Das sollte ein Spaß werden: Ich hab von den Jungs gehört das da immer jede Menge nackige Frauen rumrennen und da alle auf Zaubersprüche und Vodoo und solches Zeug stehen.

Ich hab den ganzen Tag damit verbracht die Maschinen zu reparieren und Seile zu prüfen. Keine besonders glamuröse Arbeit aber die Bezahlung is gans okay.

Der Reverend lächelte. Er würde dem Mann in den nächsten Tagen ein wenig Rechtschreibung und Grammatik beibringen müssen. Er blätterte weiter.

20. Mai 19 –

Junge, was war das heute für ein Tag und eine Nacht! Es gibt jede Menge zu erzälen, deshalb beeil ich mich lieber. Ich will nicht den ganzen Tag mit schreiben vergeuden. Sonst werd ich bestimt gefeuert.

Gestern sind wir also in Hati angekommen. Wir sind alle in einem Ort namens Port-au-Prince, ich habs abgeschrieben, raus, wo wir die Kisten mit dem Zuker abgeholt haben. Na ja, wir haben dann den ganzen Tag haufenweise Zukerkisten auf das Schiff gebracht – und ich will hier mal festhalten, das Zuker verdammt schwer ist – bis wir endlich alle an Bort hatten. Ich fand diesen Ort gleich von Anfang an unheimlich. All diese Schwarzen in ihren komischen Klamoten, die diese seltsame Sprache sprechen. Ich bin kein Rassist oder so. Aber ich hab nun mal so ein komisches Gefühl.

Hinterher hat der Käpt’n uns dann gesagt wir können über Nacht hierbleiben. Er meinte, wir könnten die Erholung alle gut brauchen. Da musste ich ihm recht geben!

Ein paar von den alten Jungs haben mir gesagt, sie wollten per Anhalter rüber nach Mariani (schreibt man das so?) fahren, wos angeblich Vodoopriester und echte Zombies gibt (ja, klar!).

Ich hab gelacht und ihnen gesagt, dass ich lieber mit den andren in der Stadt bleibe (viele waren aber nich übrig, weil die meisten mit nach Mariani gefahrn sind). Aber ich war einfach totmüde.

Jedenfalls sind sie um zwei Uhr morgens total aufgeregt zurückgekomen und haben nach Alkohol gestunken. Sie haben ein paar von uns gewekt und uns erzählt was sie erlebt haben.

Sie meinten, sie hätten eine Weile getrunken und dann gemeinsam beschlossen, das es Zeit wär, endlich ein paar echte Zombies zu sehen. Sie sind durch das kleine Kaff gelaufen und standen plötzlich im Wald. Dann sind sie an ein großes Feld gekommen, auf dem warscheinlich der ganze Zuker angebaut wurde, den wir verladen haben, und da haben sie ein paar echt seltsame Sachen gesehen. Sie haben sich versteckt und so eine merkwürdige Zeremonie beobachtet, bei der auch gesungen und getanzt wurde. Sie haben behauptet, sie hätten wirklich ein paar echte Zombies gesehen, aber ich hab da so meine Zweifel. Jedenfalls wirds jetz noch unheimlicher.

Als das Ritual zuende war und die ganzen Leute wieder in ihren Häusern verschwunden waren, haben die Jungs sich auf das Feld geschlichen und angefangen, mit dem Zukerrohr rumzuspielen.

Sie haben sich total albern aufgefürt und so getan, als wären sie Zombies und haben das Ritual nachgespilt. Dann ist eine alte Frau aus ihrem Haus aufgetaucht und hat sie gesehen.

Sie hat angefangen zu schrein und mit Glasperlen rumzuwerfen. Na ja, die Jungs sind dann schnell wieder abgehaun.

Als sie mir die Geschichte erzählt haben, hab ich mich kaputgelacht. Die hatten Angst vor ner alten Frau! Aber so haben sie es erzält. Ich hör jetzt besser auf, ich hab genug geschrieben. Außerdem is Swampy krank und ich muss mich um ihn kümmern. Ich glaub, ein paar von den andren haben sich seine Grippe auch schon eingefangen, sie jammern die ganze Zeit, das sie sich ganz elent fühlen. Ich glaub die wollen sich nur vor der Arbeit drücken!

An dieser Stelle endete das Tagebuch. Der Reverend seufzte.

Was für eine Geschichte, dachte er. Irgendwann muss ich ihn mal fragen, was … Ein gequälter Schrei erschütterte das kleine Haus. Der Reverend schreckte hoch. Er ließ das Tagebuch fallen und rappelte sich aus seinem Sessel auf.

»Was um Himmels willen …?«, murmelte er, als der Schrei nicht enden wollte.

Der Reverend stürzte in einem Tempo durch das Haus, das für sein Alter eigentlich unmöglich war, und rannte zum Schlafzimmer. Schwer keuchend öffnete er die Tür und schaltete das Licht an. Der Mann wand sich auf dem Bett, sein Gesicht zu einer entsetzlichen Maske der Qual verzerrt. Er hielt sich mit beiden Händen den Kopf und stöhnte. Ein paar der Pflaster hatte er abgerissen, und es sickerte wieder Blut aus seinen Wunden. Der Reverend eilte zu dem Mann hinüber und versuchte, seine Arme festzuhalten.

»Ganz ruhig. Beruhigen Sie sich.«

»Es tut so weeeeh«, brüllte der Mann.

Der Reverend war so erstaunt darüber, dass der Mann gesprochen hatte, dass er seinen Griff löste und der Mann sich losreißen konnte. Er fuchtelte mit den Armen in der Luft herum und traf den Reverend am Kopf, der mit einem Grunzen zu Boden ging.

»TUT WEH … KOMMEN … AUFHÖREN«, schrie der Mann.

Der Reverend rieb sich die Schläfen und rappelte sich mit wackeligen Beinen wieder auf. Er blickte auf den Mann hinunter und legte die Stirn in Falten. Was war nur mit ihm los? Warum sprach er plötzlich? Es war beinahe, als sei er in Trance gewesen und erst jetzt wieder daraus erwacht.

»Be… beruhigen Sie sich«, keuchte der Reverend. Er packte die Arme des Mannes und hielt ihn wieder fest. »Es ist ja gut. Haben Sie sehr starke Schmerzen?«

»Kommen«, stieß er hervor. »Gehen weg … tut so weeeeeh«, schluchzte sein Gegenüber.

»Was?«, fragte der Reverend. »Kommen? Wer kommt?«

Ohne Vorwarnung setzte der Mann sich auf und befreite sich mit einem Ruck aus dem Griff des Reverends.

Der Mann, der nun noch blasser geworden war, atmete rasselnd. Er öffnete den Mund.

Der Reverend hielt sich zurück, beobachtete ihn aufmerksam und wartete darauf, was er als Nächstes sagen würde. Stattdessen gab der Mann jedoch nur ein Gurgeln von sich und Blut floss aus seinem Mund.

Der Reverend eilte zu ihm. »Oh, bitte, Gott. Hilf diesem Mann.«

Dickes, eitriges Blut strömte aus dem Mund des Mannes und seine Augen füllten sich mit Tränen.

»Ich rufe einen Notarzt«, sagte der Reverend. »Machen Sie sich keine Sorgen.«

Aber der Mann packte den Reverend am Unterarm und hielt ihn mit aller Kraft fest. »Lassen Sie mich los«, krächzte der Reverend. »Ich muss den Notarzt rufen.« Er versuchte, die Finger des Mannes zu lösen, aber sie gaben nicht nach. »Hören Sie auf!«, brüllte der Reverend.

Doch der Mann packte ihn noch fester, so fest, dass der Reverend erwartete, jeden Moment das Geräusch seiner brechenden Knochen zu hören.

Er klammerte sich an der Hand des Mannes fest, und gerade, als er schon aufgeben wollte, hörte der Mann auf, zuzudrücken. Das Blut, das aus seinem Mund strömte, verfärbte sich schwarz und seine angsterfüllten Augen quollen weit aus ihren Höhlen hervor.

Mit einem letzten Husten fiel der Mann rückwärts aufs Bett. Die Hand, mit der er den Reverend festgehalten hatte, baumelte über dem Boden.

Der Reverend blieb einen Moment lang völlig fassungslos und wie vom Blitz getroffen stehen.

Dann streckte er vorsichtig seine zitternde Hand über den Körper des Mannes, legte sie an dessen Hals und fühlte mit zwei Fingern den Puls des Fremden.

Wie er bereits befürchtet hatte, fand er keinen. Er legte seinen Kopf auf die Brust des Mannes und horchte. Er konnte keinen Herzschlag hören.

Der Reverend bekreuzigte sich hastig und sprach ein Gebet.

Er öffnete seine Augen wieder und starrte auf den Verstorbenen hinunter. Ihm fiel auf, dass er noch nicht einmal den Namen des Mannes kannte.

Er streckte seinen Arm aus und griff nach dessen Hand.

»Es ist gut«, sagte er mit sanfter Stimme. »Der Herr wird sich um dich kümmern.« Er tätschelte die erschlaffte Hand und legte sie vorsichtig auf den blutigen Brustkorb des Mannes.

Dann drehte er sich um und verließ das Schlafzimmer. Der Reverend ging ins Wohnzimmer zurück, in dem das Feuer noch immer hoch im Kamin loderte, und ließ sich auf seinen Sessel fallen. Er würde einen Notarzt rufen müssen. Bis gerade eben hatte er geglaubt, dass er das nie wieder tun musste. Er versuchte sich zu bewegen, aber er hatte nicht die Kraft dazu. Eigentlich war es ja auch gar kein Notfall mehr.

Der Mann war bereits tot. Trotzdem: je früher, desto besser.

Er sah zu dem Bild hinauf, das an der Wand hing. Es erfüllte ihn mit entsetzlichem Kummer. Als er noch ein junger Mann gewesen war, hatte er geglaubt, alles im Leben erfülle einen bestimmten Zweck. Alle Kreaturen, egal, ob gut oder böse, hielten sich aus einem bestimmten Grund auf dieser Erde auf.

Er hatte geglaubt, jeder Moment in ihrem Leben sei für die Menschen Teil eines Lernprozesses.

Daher hatte er es auch als Weg des Herrn betrachtet, wenn jemandem eine Tragödie widerfuhr. Als etwas, das geschehen musste, damit die Menschen daraus eine Lehre zogen und anschließend – hoffentlich – ein erfüllteres, sinnvolleres Leben führten.

Früher hatte er das geglaubt.

Zum ersten Mal zweifelte er daran, als seine Frau vor zwei Jahren an einem Gehirntumor starb. Dabei zuzusehen, wie sie allmählich an Kraft verlor, war das Herzzerreißendste gewesen, was seine Augen und seine Seele je hatten verkraften müssen.

Und als sie schließlich gestorben war, hatte er diese entsetzliche Leere in sich gespürt. Der Herr hatte ihm keinerlei Trost gespendet. Er hatte keine Hilfe von der Kirche gewollt.

In der Nacht, in der sie gestorben war, hatte er auf dasselbe Bild gestarrt und zum allerersten Mal keine Freude und keinen Trost in der Gestalt Christi gefunden, der sein Leben geopfert hatte, um die Menschen zu retten.

In den folgenden Jahren hatte er seinen Glauben immer wieder infrage gestellt.

Er ging pflichtschuldig weiter zur Kirche und hielt seine Predigten, betete sogar weiterhin jeden Abend, auch wenn er sich manchmal bei dem Gedanken ertappte, dass er es nur noch aus Gewohnheit tat.

Und nun dieser Fremde.

Sein Tod schien völlig sinnlos gewesen zu sein. Welchen Sinn konnte er schon gehabt haben, wenn er selbst doch absolut willens gewesen war, dieser unglücklichen Seele zu helfen?

Je älter der Reverend wurde, desto weiter schrumpfte sein Glaube an Sinn und Vorsehung. So weit, dass er in diesem Augenblick, da er auf das glänzende Bildnis Christi blickte, nur noch Wut empfand.

Er streckte einen Arm aus und griff nach dem Telefonbuch.

Ein schwaches Licht flackerte in den Raum. Der Reverend ließ das Telefonbuch sofort wieder fallen und erhob sich.

Er ging in die Küche, schaltete das Licht jedoch nicht an, sondern stellte sich ans Fenster. Er blickte hinaus, sah aber nichts als Dunkelheit.

Kann kein Schiff gewesen sein, dachte er. Hier ist weit und breit kein Hafen.

Er wusste, dass auf dem nicht allzu fernen Meer zahlreiche Schiffe vorbeifuhren, aber stets parallel zum Land. Der nächste Anleger war zwei Stunden entfernt.

Sein nächster Gedanke war, dass sich womöglich ein Wanderer zu seinem Häuschen verirrt hatte. Er konnte jedoch keine Menschenseele entdecken, auch nicht das suchende Licht einer Taschenlampe.

Hinter ihm bewegte sich etwas.

Der Reverend drehte sich um und sah, wie eine Gestalt auf ihn zutaumelte.

Er erstarrte. Sein erster Gedanke war, dass er einem Einbrecher gegenüberstand. Er wollte ihm gerade erklären, dass er kein Geld im Haus aufbewahrte, als die Gestalt in das herabfallende Mondlicht trat.

»Unmöglich«, flüsterte er.

Der Mann, der immer weiter auf ihn zuwankte, war der Fremde.

Die Pflaster klafften bei jedem seiner Schritte auf. Aus seinem Mund, der die ganze Zeit über offen stand, tropfte dasselbe schwarze, triefende Zeug, das er kurz vor seinem Tod erbrochen hatte.

Oder vor seinem scheinbaren Tod, schoss es dem Reverend durch den Kopf.

Ich habe eben seinen Puls nicht gefunden, das ist alles. Und sein Herz muss einfach zu schwach geschlagen haben, als dass ich es hätte wahrnehmen können.

»G… geht’s Ihnen gut?«, erkundigte sich der Reverend, obwohl er wusste, dass er keine Antwort erhalten würde.

Der Mann kam immer näher. Seine starren Augen waren völlig ausdruckslos. Er hinterließ eine dunkle Blutspur, als seine Füße über den Holzboden schabten.

Er stank erbärmlich. Der widerliche Geruch, der den Reverend nun umhüllte, war doppelt so intensiv wie der vor einigen Stunden, als er den Mann gefunden hatte.

Auch wenn es jedem gesunden Menschenverstand widersprach, sagte ihm irgendetwas tief in seinem Inneren, dass dieser Mann nicht mehr am Leben war. Er war sich sicher, dass er keinen Puls mehr gefühlt hatte, und der Reverend war dem Tod schon oft genug begegnet, um seine hässliche Fratze zu erkennen. Dies war eine Kreatur, die der Teufel persönlich geschickt hatte, und sie schlurfte immer weiter auf ihn zu.

Der Reverend drehte sich um und suchte verzweifelt nach einer geeigneten Waffe.

Er durchwühlte die Schubladen, bis er ein großes Küchenmesser fand. Als er sich wieder zurückdrehte, war das Ding keine zwei Meter mehr von ihm entfernt.

»VERSCHWINDE!«, brüllte er und fuchtelte mit dem großen Messer in der Luft herum. »LASS MICH IN RUHE!«

Doch das Ungeheuer blieb nicht stehen.

Schwarzes Blut pladderte aus seinem Mund und während es sich dem Reverend noch weiter näherte, hob es seine Arme wie in der kranken Parodie einer Umarmung.

»Bitte, geh weg«, flehte er.

Mit steifen, kalten Händen umschloss das Biest die Kehle des Reverends und drückte fest zu.

Der Reverend zerrte an seinen Händen, um sich zu befreien, aber der Griff um seinen Hals war zu stark. Er bekam keine Luft mehr und wehrte sich verzweifelt, doch er spürte, dass seine Kräfte ihn schnell verließen. Er musste irgendetwas unternehmen, bevor das Leben vollständig aus seinem Körper gequetscht wurde.

Der Reverend ließ das Messer niedersausen und trieb die Klinge mit solcher Wucht durch die Schädeldecke der Kreatur, dass es ihm gelang, das Messer bis zum Griff hineinzujagen.

Das Vieh ließ ein ohrenbetäubendes Brüllen hören und aus seinem Mund quoll noch mehr Blut. Es legte seine Hände um das im Schädel begrabene Messer, was von einer tiefroten Lawine quittiert wurde. Es stieß einen letzten Schrei aus, dann wurde sein Körper vollkommen schlaff und sank zu Boden.

Mit weit aufgerissenen Augen und blutüberströmtem Gesicht stand der Reverend vollkommen reglos und ungläubig da. Ungläubig, dass dieser Mann wirklich auf ihn zugewankt war und er selbst diese Tat vollbracht hatte. Er war ein Mörder. Er hatte eines von Gottes Geschöpfen getötet, auch wenn es abscheulich anzusehen gewesen war.

»Was habe ich nur getan?«, wimmerte er.

Dafür werde ich furchtbar bestraft werden.

Er wandte sich von der ausgestreckt auf dem Boden liegenden menschlichen Hülle ab und eilte zur Tür in die milde Nachtluft hinaus. Im hohen Gras fiel er auf die Knie und übergab sich lange und heftig.

Als sein Magen schließlich leer war, wischte sich der Reverend den Mund ab und erhob sich wieder. Die leichte Brise fühlte sich gut an, als sie über den kalten Schweiß wehte, der von seinem Gesicht tropfte.

Aus dem Augenwinkel nahm er ein flackerndes Leuchten wahr. Er blickte in Richtung Strand und sah dort tatsächlich ein Licht. Es war nicht besonders hell und wirkte, als lodere eine Wolke aus gelbem Nebel in der Dunkelheit auf.

Der Reverend ging in Richtung des Ozeans. Für eine kleine Weile vergaß er, was sich in seinem Haus befand und dort tot auf dem Küchenfußboden lag. Im Moment interessierte ihn nur die Quelle des seltsamen Lichtscheins.

Vielleicht ist doch jemand mit einer Taschenlampe unterwegs, ging ihm durch den Kopf. Er oder sie könnte verletzt sein.

Das Licht erlosch.

Der Reverend blieb stehen und überlegte stirnrunzelnd, warum das geheimnisvolle Licht so unvermittelt verschwunden war.

Selbst wenn jemand dort draußen ist, kann ich ihn oder sie jetzt nicht mit zu mir nach Hause nehmen.

Trotzdem ging er weiter.

Er stapfte weitere fünf Minuten über den sandigen Boden, ehe er die Klippe erreichte, auf der er dem verstorbenen Mann zum ersten Mal begegnet war.

Er konnte niemanden mit einer Taschenlampe sehen, trat noch näher an den Abgrund und schaute auf den Ozean hinab.

Der Reverend war überrascht, als er ein Schiff entdeckte. Es lag ein kleines Stück vom Strand entfernt vor Anker und er konnte beobachten, wie mehrere Gestalten von Bord gingen. Einige hatten das Schiff bereits verlassen und trotteten über den finsteren Strand, während andere noch die steilen Stufen hinunterkletterten, die zum Sand führten.

Es war unmöglich, all die dunklen Gestalten zu zählen, aber der Reverend schätzte, dass es mindestens 20 sein mussten. Im Inneren des Schiffs hielten sich vermutlich noch weitere auf, die er nicht sehen konnte und die darauf warteten, ebenfalls auszusteigen.

Die winzigen Bullaugen an der Seite des Schiffs waren hell erleuchtet und am Bug thronte eine riesige Fackel.

Da ist mein geheimnisvolles Licht, dachte der Reverend.

Er fragte sich, warum sie mit dem Schiff ausgerechnet hier vor Anker gegangen waren. Vermutlich war ein unerwartetes Problem aufgetreten und hatte sie gezwungen, sofort an Land zu gehen.

Er blieb noch eine Weile stehen und beobachtete, wie sich weitere Grüppchen aus dunklen Gestalten auf dem Strand verteilten. Erst, als ihm ein vertrauter Geruch in die Nase stieg, lief ein kalter Schauer durch seinen Körper und er beschloss, wieder zu gehen.

Der Reverend wandte dem Meer seinen Rücken zu und begab sich wieder in Richtung seines Häuschens.

Den Großteil des Weges legte er im Laufschritt zurück. Als er das Haus erreichte, schnaufte und schwitzte er heftig. Vor der offenen Tür blieb er stehen.

Er holte tief Luft, bevor er sein Haus betrat, machte die Tür hinter sich zu und schloss sie sorgfältig ab. Der widerliche, vertraute Gestank, den er am Meer wahrgenommen hatte, hatte eine tiefe Angst in ihm geweckt. Er hatte das starke Gefühl, dass schon bald etwas Unnatürliches geschehen würde.

Er gab seinem Instinkt nach und ging durch das ganze Haus, um sämtliche Fenster und Vorhänge zu schließen. Eine Hintertür gab es nicht, daher musste er sich lediglich um die Fenster kümmern.

Als er fertig war, ließ der Reverend sich völlig erschöpft in seinen Sessel neben dem fast vollständig heruntergebrannten Kaminfeuer fallen.

Und was mache ich jetzt mir der Leiche?, fragte er sich. Der Gedanke, die Unmengen an Blut aufwischen zu müssen, belastete sein ohnehin schweres Gemüt noch mehr.

Als er sah, dass das Feuer geschürt werden musste, erhob er sich und warf weitere Holzscheite in den Kamin. Schon bald prasselte das Feuer wieder lebendig und er lehnte sich mit einem Seufzen zurück.

Was hält diese grauenvolle Nacht wohl noch für mich bereit?, fragte sich der Reverend. Er wollte am liebsten vergessen, was vorgefallen war. Was er getan hatte. Wie konnte er nach diesem Erlebnis noch in der Kirche von Frieden und brüderlichem Miteinander predigen und Gebete anstimmen?

Über das Knistern des Feuers hinweg vernahm der Reverend ein schwaches Stöhnen. Er drehte sich um, sah zur Küche hinüber und erwartete beinahe, den Mann erneut auf sich zuwanken zu sehen, während das Messer noch immer in seinem Kopf steckte. Vor der heutigen Nacht hätte er so etwas niemals für möglich gehalten. Es jagte ihm beinahe ebenso viel Angst wie das tiefe, lang gezogene Stöhnen, das immer lauter zu werden schien.

Der Reverend erhob sich und trat in die Küche. Die Leiche lag noch immer auf dem Küchenboden, reglos und blutüberströmt.

Nun hörte er, dass das Stöhnen von draußen hereindrang. Vorsichtig ging er um die Leiche herum und stellte sich vor das Fenster. Er schob den Vorhang zur Seite und schaute hinaus.

Zunächst konnte er nichts erkennen und hörte nur das fremdartig klingende Heulen unzähliger Stimmen.

Dann sah er, wie sich die dunklen Gestalten näherten. Der Reverend hielt angstvoll den Atem an. Aus der grenzenlosen Dunkelheit trotteten mindestens 30 Männer auf ihn zu.

»Was wollen die bloß von mir?«, flüsterte er.

Erst, als sie noch näher taumelten und in den Schein des Mondlichts traten, konnte der Reverend sie richtig erkennen. Die Körper der meisten waren von grauenvollen Wunden übersät. Einigen fehlten ganze Fleischstücke am Hals, anderen schien man Teile des Gesichts abgerissen zu haben. Einem Mann war der Arm unterhalb des Ellenbogens abgetrennt worden. Ihre Kleidung war völlig zerfetzt und ein paar von ihnen trugen nichts als einige Fetzen Stoff am Körper.

Ob das die Männer vom Schiff sind?

Sie müssen es sein, dachte er.

Er schloss den Vorhang wieder und drehte sich um.

»Was ist passiert?«, fragte er die Leiche auf seinem Boden. »Welche Abscheulichkeit hast du nur in mein Haus gebracht?«

Panik machte sich im Herzen des Reverends breit. Er rannte in das schwach erleuchtete Wohnzimmer. Verwirrung und Schrecken ergriffen von ihm Besitz.

Das erste Donnern an der Tür überraschte ihn völlig.

Er kreischte auf, blickte zur Haustür und hörte das dumpfe Pochen zahlreicher Menschenhände.

Nicht Menschen – Menschen sehen nicht so aus. Menschen kommen nicht zu dir nach Hause und tun so etwas.

Er hörte das Geräusch von zersplitterndem Glas. Als er sich umdrehte, sah er, wie Scherben auf seinen Küchenfußboden regneten.

»Was wollt ihr von mir?«, brüllte der Reverend. »Ich bin ein Mann Gottes. Ich habe kein Geld und ich habe nichts Falsches getan!« Ich habe einen Mann getötet, rief er sich selbst ins Gedächtnis zurück.

Er sah, wie sich eine der Gestalten an das zerbrochene Fenster klammerte.

Ein weiteres Gesicht erschien, beide versuchten unter Stöhnen, ins Haus zu gelangen. Auch das dröhnende Hämmern an der Haustür riss nicht ab.

Die Schreie wurden lauter und schienen nun aus dem Inneren des Hauses zu kommen, möglicherweise aus dem Schlafzimmer. Der Reverend hörte, wie noch mehr Glas zerschmetterte.

Er schloss die Augen. Er wusste, dass sie das Haus umzingelt hatten.

Schon in wenigen Minuten würde auch der Letzte von ihnen eingedrungen sein.

Der Reverend fiel auf die Knie. Überall um sich herum hörte er entsetzliches Scharren. Dann wieder Glas, das splitterte. Jedes Donnern wurde von einem tiefen Grunzen begleitet.

Die Haustür gab allmählich nach. Eine der Türangeln brach aus dem Rahmen, ein Stück vom Korpus splitterte ab und eine Hand schlängelte sich durch den entstandenen Spalt.

Der Reverend hob seinen Kopf und sah, dass es einer der Teufel am Fenster schon beinahe ins Haus geschafft hatte. Er blutete heftig aus den unzähligen Schnittwunden, die er sich an der zerbrochenen Scheibe selbst zugefügt hatte. Dies schien ihn jedoch nicht im Geringsten zu stören.

Das Stöhnen aus dem Schlafzimmer wurde nun deutlich lauter.

Es dröhnte in den Ohren des Reverends und überdeckte das Knistern des Feuers fast völlig.

Das Feuer!

Der Reverend erhob sich, rannte zum Kamin und griff vorsichtig nach einem bereits halb abgebrannten Holzscheit. Mit seiner provisorischen Fackel eilte er ins Schlafzimmer, blieb jedoch in der Tür stehen. Ein halbes Dutzend der Kreaturen erwartete ihn bereits und näherte sich bedrohlich. Ein paar andere versuchten, durch das zerbrochene Fenster zu klettern. Über ihre ausdruckslosen Gesichter floss Blut. Einen Augenblick lang musste der Reverend wieder an den Fremden denken.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sich unvermittelt eine Hand an seinem Hemd festkrallte.

Der Reverend stieß einen angewiderten Schrei aus und versetzte der Kreatur einen Schlag mit dem brennenden Holzscheit. Sie heulte auf, taumelte zurück und kauerte sich zusammen, die Hände vor das Gesicht gepresst.

Der Reverend warf das lodernde Holz ins Zimmer, knallte die Tür zu und überließ die schreienden Ungeheuer sich selbst.

Im Wohnzimmer war die Lage noch ernster. Unter der Kraft von rund einem Dutzend der mörderischen Kreaturen hatte die Haustür schließlich nachgegeben. Auch die Küche war nun bis zum Bersten mit den entsetzlichen Gestalten gefüllt.

Er sah, dass sich ein paar von ihnen bereits über die Leiche des Fremden hermachten.

Der Reverend wandte der Armee der Teufel den Rücken zu und sah sich in seinem kleinen Wohnzimmer um, wobei sein Blick auf das Tagesbuch des Mannes fiel. Er schnappte danach, eilte zum Kaminfeuer hinüber, beugte sich in die glühende Hitze und hielt das zerfledderte Buch in die Flammen. Die Seiten fingen sofort Feuer. Mit dem brennenden Buch hastete er zu sämtlichen Vorhängen im Raum und setzte den verblichenen Stoff in Brand. Schon bald hatte sich das Haus in ein flammendes Inferno verwandelt. Der Lärm der tobenden Eindringlinge wich schmerzerfüllten Schreien, als einige der Ungeheuer von den Flammen erfasst wurden.

Als er mit den Vorhängen fertig war, verharrte der Reverend einen Moment lang vollkommen ruhig und blickte zu dem Christusbild empor. Während die Flammen um ihn herum immer höher loderten, sagte er: »Ich habe keine Ahnung, warum du es als angemessen empfindest, einen einfachen, ehrenwerten Mann wie mich auf so schreckliche Art und Weise zu quälen. Falls es eine Strafe sein soll, dann akzeptiere ich sie und übernehme die Verantwortung für das, was ich getan habe …« Er hielt einen Augenblick lang inne, bevor er fortfuhr. »… und für meinen Glauben. Möge Gott meiner Seele gnädig sein.«

Er ließ das brennende Buch auf seine Brust fallen und seine Schreie verschmolzen mit denen der Kreaturen.

NOTIZEN ZUR ENTSTEHUNG:

Religion fasziniert mich.

Ich selbst bin kein religiöser Mensch – ich wurde nicht von religiösen Eltern erzogen. Trotzdem bin ich vom Konzept einer organisierten Kirche fasziniert. Ich schätze, das hat zu einem großen Teil mit der engen Verbindung zwischen Religion und Horror zu tun. Die Bibel sollte eigentlich als erstes Horrorbuch überhaupt bezeichnet werden. Unzählige Gräueltaten wurden im Laufe der menschlichen Geschichte im Namen der Religion verübt. Auch einer der furchteinflößendsten Romane aller Zeiten – Der Exorzist, falls Sie sich gefragt haben sollten – ist eine Horrorgeschichte mit religiösem Unterbau.

Das hier ist also meine Version von kirchlichem Horror, gepaart mit meinem anderen Lieblingsthema: Zombies.