96
Aurum
Es war still im Haus; Mr. Wemyss war zur Mühle gegangen und hatte Lizzie und Mrs. Bug mitgenommen, und es war schon so spät am Tag, dass in Fraser’s Ridge nicht mehr mit Besuch zu rechnen war- die Leute waren jetzt beschäftigt, die Tiere wurden gefüttert und für die Nacht eingestreut, man holte Holz und Wasser und schürte das Feuer für das Abendessen.
Mein persönliches Tier war bereits gefüttert und weich gebettet; Adso lag als schlummernde Kugel in einem Fleck aus spätem Sonnenlicht auf der Fensterbank. Er hatte die Füße unter sich gezogen und die Augen in gesättigter Ekstase geschlossen. Mein Beitrag zum Abendessen - ein Gericht, das Fergus elegant als lapin aux chanterelles bezeichnete (und das dem gemeinen Volk als Karnickeleintopf bekannt war) - blubberte schon seit dem frühen Morgen fröhlich im Kessel vor sich hin, ohne meiner Aufmerksamkeit zu bedürfen. Was das Schrubben der Fußböden, Fensterputzen, Abstauben und ähnliche Plackereien anging... nun, wenn die Arbeit einer Frau sowieso nie getan war, wie das Sprichwort besagte, warum sollte ich mir darüber Gedanken machen, wie viel davon genau jetzt nicht getan war?
Ich holte mir Papier und Tinte und das große, in schwarzes Tuch gebundene Notizbuch aus dem Schrank und ließ mich bei Adso nieder, um mir die Sonne mit ihm zu teilen. Ich verfasste eine sorgfältige Beschreibung einer Verwachsung am Ohr des kleinen Geordie Chisholm, die ich im Auge behalten musste, und fügte die jüngsten Messdaten von Tom Christies linker Hand hinzu.
Christie hatte Arthritis an beiden Händen, und seine Finger waren leicht gekrümmt. Doch nachdem ich ihn beim Abendessen genau beobachtet hatte, war ich mir beinahe sicher, dass die Symptome an seiner Hand nicht auf Arthritis hindeuteten, sondern auf eine Dupuytren’sche Kontraktur - eine seltsame, hakenartige Verkrümmung des Ringfingers und des kleinen Fingers zur Handfläche hin, verursacht durch eine Sehnenverwachsung der Hohlhand.
Normalerweise hätte ich mir sicher sein sollen, doch Christies Hände waren von jahrelanger, körperlicher Arbeit so schwielig, dass ich das typische Knötchen an der Ringfingerwurzel nicht fühlen konnte. Doch der Finger hatte sich irgendwie verkehrt angefühlt, als ich mir die Hand zum ersten Mal angesehen hatte - beim Nähen einer Schnittwunde an der Handwurzel -, und ich hatte ihn kontrolliert, wann immer ich Tom Christie zu Gesicht bekam und ihn überreden konnte, mich einen Blick darauf werfen zu lassen - was nicht besonders oft vorkam.
Jamies Bedenken zum Trotz hatten sich die Christies bis jetzt als ideale Pächter erwiesen, die sehr ruhig lebten und sich weitgehend für sich hielten, abgesehen von Tom Christies Schulstunden, die er streng, aber effektiv zu gestalten schien.
Mir wurde bewusst, dass etwas oder jemand hinter meinem Kopf lauerte. Der Sonnenstrahl hatte sich weiterbewegt, und Adso mit ihm.
»Denk erst gar nicht daran, Kater«, sagte ich. In der Nähe meines linken Ohrs setzte ein brummendes Schnurren der Vorfreude ein, und eine große Pfote streckte sich aus und tätschelte mir vorsichtig den Scheitel.
»Oh, na gut«, sagte ich resigniert. Eigentlich blieb mir auch gar nichts anderes übrig, es sei denn, ich hätte aufstehen und anderswo schreiben wollen. »Wie du willst.«
Adso konnte Haaren nicht widerstehen. Ganz gleich, wessen Haar es war und ob es an einem Kopf festgewachsen war oder nicht. Zum Glück war bis jetzt Major MacDonald der Einzige gewesen, der so unüberlegt gehandelt hatte, sich mit einer Perücke in Adsos Reichweite zu setzen, und ich hatte sie letztlich zurückbekommen, auch wenn ich dazu unter das Haus kriechen musste, wohin Adso sich mit seiner Beute zurückgezogen hatte; kein anderer traute sich, sie ihm aus den Fängen zu reißen. Der Major hatte den Zwischenfall ausgesprochen humorlos aufgenommen, und er ließ sich zwar nicht davon abhalten, dann und wann vorbeizuschauen und Jamie zu besuchen, doch zog er bei diesen Besuchen nicht länger den Hut ab. Wenn er am Küchentisch saß und Zichorienkaffee trank, behielt er jetzt den Dreispitz auf dem Kopf und heftete beide Augen fest auf Adso, dessen Bewegungen er genau verfolgte.
Ich entspannte mich ein wenig, und wenn ich auch nicht schnurrte, so fühlte ich mich doch sehr warm und angenehm. Es war sehr beruhigend, sich von der Katze mit halb versenkten Krallen kneten und kämmen zu lassen. Dann und wann hielt Adso in seiner vorsichtigen Haarpflege inne, um sein Gesicht liebevoll an meinem Kopf zu reiben. Er wurde nur dann wirklich gefährlich, wenn er sich an der Katzenminze vergriffen hatte, doch diese war sicher weggeschlossen. Mit halb geschlossenen Augen sann ich über die vertrackte Frage nach, wie ich die Depuytren’sche Kontraktur beschreiben sollte, ohne diese Bezeichnung zu verwenden, da Baron Depuytren schließlich noch gar nicht geboren war.
Nun, ein Bild sagt mehr als tausend Worte, und ich dachte, dass ich wohl zumindest eine kompetente Federzeichnung zustande bringen würde. Ich tat mein Bestes und fragte mich derweil, wie ich Thomas Christie dazu bewegen sollte, seine Hand von mir operieren zu lassen.
Es war eine ziemlich schnelle und einfache Prozedur, doch angesichts unseres Mangels an Anästhetika und der Tatsache, dass Christie strenger Presbyterianer und Antialkoholiker war... vielleicht konnte sich Jamie ja auf seine Brust setzen, Roger auf seine Beine. Wenn Brianna dann sein Handgelenk festhielt...
Ich ließ das Problem vorerst ruhen und gähnte schläfrig. Meine Schläfrigkeit verschwand jedoch abrupt, als eine fast zehn Zentimeter lange, gelbe Libelle mit einem Geräusch wie ein Hubschrauber zum offenen Fenster hineingeschwirrt kam. Adso rauschte ihr durch die Luft hinterher. Er hinterließ mein Haar als wildes Durcheinander, und mein Haarband - an dem er im Stillen herumgekaut zu haben schien - hing nass und zerknittert hinter meinem Ohr. Ich entfernte es leicht angewidert, legte es zum Trocknen auf die Fensterbank und blätterte ein paar Seiten zurück, um die gelungene Zeichnung zu bewundern, die ich von Jamies Schlangenbiss und Briannas Klapperschlangenspritze angefertigt hatte.
Zu meinem Erstaunen war das Bein sauber und gut verheilt, und es hatte zwar beträchtliche Gewebsablösungen gegeben, doch die Maden hatten sich dieses Problems so wirkungsvoll angenommen, dass die einzigen bleibenden Spuren zwei kleine Hautvertiefungen an der Stelle der ursprünglichen Bisswunden waren, sowie eine schmale, gerade Narbe am Unterschenkel, wo ich einen Einschnitt gemacht hatte, um mein Debridement durchzuführen und die Maden einzusetzen. Jamie humpelte immer noch schwach, aber ich ging davon aus, dass sich das mit der Zeit von selbst legen würde.
Zufrieden summend blätterte ich weiter zurück, bis ich schließlich planlos in den letzten Seiten von Daniel Rawlings’ Notizen stöberte.
 
Josephus Howard... Hauptbeschwerde ist eine Fistel des Rektums, die schon so lange besteht, dass sich ein schlimmer Abszess gebildet hat, dazu ein fortgeschrittener Fall von Hämorrhoiden. Behandlung mit einem Aufguss aus Alehuf, vermischt mit gebranntem Alaun und einer geringen Menge Honig, das Ganze mit Ringelblumensaft verkocht.
 
Eine weitere Notiz auf derselben Seite, einen Monat später datiert, verwies auf die Wirksamkeit dieser Mischung, ergänzt durch Illustrationen, die den Patienten vor und nach der Anwendung zeigten. Ich betrachtete die Zeichnungen mit hochgezogenen Augenbrauen; Rawlings war auch kein größerer Künstler als ich, doch es war ihm gelungen, die Unannehmlichkeit dieser Erkrankung mit bemerkenswerter Genauigkeit einzufangen.
Ich tippte mir mit dem Federkiel an den Mund, überlegte, dann fügte ich sorgsam eine Randbemerkung an, in der ich zusätzlich zu dieser Behandlung eine Ernährung empfahl, die viel ballaststoffreiches Gemüse enthielt und sowohl zur Vorbeugung von Verstopfung als auch ihrer ernsteren Komplikationen diente - es gab doch nichts Besseres als ein wenig Anschauungsunterricht!
Ich wischte den Kiel ab, legte ihn hin und blätterte um, wobei ich mich fragte, ob Alehuf wohl eine Pflanze war - und wenn ja, was für eine - oder eine gärende Erkrankung des Pferdehufes. Ich konnte Jamie in seinem Studierzimmer rascheln hören; ich würde gleich zu ihm gehen und ihn fragen.
Fast hätte ich es übersehen. Es stand auf der Rückseite des Blattes mit der Zeichnung von Mr. Howards Fistel, offenbar ein beiläufiges Postskriptum nach vollbrachtem Tagewerk.
 
Habe mit Mr. Hector Cameron aus River Run gesprochen, der mich anfleht, zu kommen und die Augen seiner Frau zu untersuchen, da ihr Augenlicht stark getrübt ist. Der Weg zu seiner Plantage ist weit, doch er wird ein Pferd schicken.
 
Diese Zeilen setzten der einschläfernden Atmosphäre des Nachmittags mit einem Schlag ein Ende. Fasziniert setzte ich mich gerade hin und blätterte weiter, um herauszufinden, ob der Doktor Jocasta tatsächlich untersucht hatte. Ich hatte sie - unter großen Schwierigkeiten - ein einziges Mal dazu bewegen können, dass sie mir gestattete, ihre Augen zu untersuchen, und ich war neugierig, zu welchem Schluss Rawlings gekommen war. Ohne Ophtalmoskop gab es keine Möglichkeit, den Grund für ihre Erblindung mit Sicherheit zu bestimmen, doch ich hatte einen Verdacht - und Dinge wie den Grauen Star oder Diabetes konnte ich mit ziemlicher Sicherheit ausschließen. Ich fragte mich, ob Rawlings irgendetwas gesehen hatte, was mir entgangen war, und ob sich ihr Zustand seit seiner Visite merklich geändert hatte.
 
Habe den Schmied zur Ader gelassen, seiner Frau Sennaöl (1/6 Drachme) als Abführmittel verabreicht, dazu der Katze 1/20 Drachme derselben Substanz (gratis), da ich im Kot des Tiers ein Gewimmel von Würmern beobachtet hatte.
 
Bei diesen Zeilen lächelte ich; ganz gleich, wie rudimentär seine Methoden waren, Daniel Rawlings war ein guter Arzt. Ich fragte mich erneut, was aus ihm geworden war und ob es mir jemals vergönnt sein würde, ihm zu begegnen. Ich hatte das traurige Gefühl, dass es nicht geschehen würde; ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Arzt nicht zurückkommen würde, um einen Satz derart schöner Instrumente, wie es die seinen waren, wieder an sich zu bringen, wenn es ihm nur irgendwie möglich war.
Da ich ihn in meiner Neugier immer wieder bedrängt hatte, hatte Jamie pflichtschuldigst Nachfragen angestellt, ohne jedoch Erfolg gehabt zu haben. Daniel Rawlings war nach Virginia aufgebrochen, hatte die Truhe mit seinen Instrumenten zurückgelassen - und sich in Luft aufgelöst.
Die nächste Seite, der nächste Patient; Aderlass, Abführmittel, geöffnete Brandblasen, die Entfernung eines entzündeten Nagels, eine Zeichnung eines Zahnabszesses, die Kauterisierung einer chronisch wunden Stelle am Bein einer Frau... Rawlings hatte in Cross Creek gut zu tun gehabt. Doch war er je bis nach River Run gekommen?
Ja, da war es, eine Woche und mehrere Seiten später.
 
Habe River Run nach beschwerlicher Reise erreicht Wind und Regen hätten ein Schiff versenken können, und an manchen Stellen war die Straße fortgespült, so dass ich gezwungen war, quer durch die Landschaft zu reiten, vom Hagel gepeitscht schlammig bis zu den Augenbrauen. War in der Abenddämmerung mit Mr. Camerons schwarzem Bediensteten aufgebrochen, der mir ein Pferd gebracht hatte - erreichten das rettende Ziel erst weit nach Anbruch der Dunkelheit, erschöpft und hungrig. Wurde von Mr. Cameron empfangen, der mir Brandy gab.
 
Da er nun einmal Geld für den Besuch eines Arztes ausgegeben hatte, hatte Hector Cameron offenbar beschlossen, die Gelegenheit weidlich auszunutzen, und hatte sämtliche Sklaven und Bediensteten von Rawlings untersuchen lassen, dazu den Hausherrn selbst.
 
Dreiundsiebzig Jahre alt, von mittlerer Größe, breitschultrig, wenn auch von leicht gebeugter Statur, hatte Rawlings Hector beschrieben, die Hände vom Rheumatismus so verknöchert, dass es ihm unmöglich ist, irgendein Werkzeug zu handhaben, das feiner ist als ein Löffel. Darüber hinaus hat er sich gut gehalten und ist für sein Alter sehr rüstig. Beklagt nächtliches Aufstehen, schmerzhaften Harndrang. Ich neige dazu, eine krankhafte Blasenverstimmung zu vermuten, keinen Blasenstein und keine Erkrankung der inneren Geschlechtsorgane, da die Beschwerden zwar häufig wiederkehren, jedoch bis jetzt nie von langer Dauer gewesen sind - im Durchschnitt haben die Anfälle eine Dauer von zwei Wochen und gehen mit einem Brennen des männlichen Organs einher. Sein schwaches Fieber, seine Empfindlichkeit beim Abtasten des Unterleibs und sein schwarzer, stark riechender Urin lassen mich weiter zu diesem Glauben neigen.
Da der Haushalt über eine beträchtliche Menge an getrockneten Preiselbeeren verfügt, habe ich ihm eine Trinkkur verschrieben, dreimal täglich eine Tasse des eingedickten Saftes. Außerdem empfehle ich Labkrauttee, morgens und abends zu trinken, seiner kühlenden Wirkung wegen sowie für den Fall, dass Harngrieß vorliegt, was die Beschwerden verstärken könnte.
 
Ich ertappte mich dabei, dass ich zustimmend nickte. Ich stimmte nicht immer mit Rawlings überein, was seine Diagnosen oder Behandlungsmethoden anging, doch in diesem Fall war ich der Meinung, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Doch was war mit Jocasta?
Da war sie ja, auf der nächsten Seite.
 
Jocasta Cameron, vierundsechzig Jahre alt, Tri-gravida, gut genährt und allgemein von guter Gesundheit von sehr jugendlichem Aussehen.
 
Tri-gravida? Bei dieser beiläufigen Anmerkung hielt ich einen Moment inne. Was für ein schlichter, schmuckloser Ausdruck für das Austragen - ganz zu schweigen vom Verlust - dreier Kinder. Drei Kinder über das gefährliche Säuglingsalter hinaus aufgezogen zu haben, nur, um sie alle zugleich zu verlieren, noch dazu auf solch grausame Weise. Die Sonne war warm, doch ich spürte, wie sich bei diesem Gedanken Kälte über mein Herz senkte.
Was, wenn es Brianna wäre? Oder der kleine Jemmy? Wie ertrug eine Frau einen solchen Verlust? Ich hatte es selbst erlebt, und ich fasste es immer noch nicht. Es war schon lange her, und doch erwachte ich dann und wann des Nachts und spürte das warme, schlafende Gewicht eines Kindes auf meiner Brust, seinen warmen Atem an meinem Hals. Ich hob die Hand und berührte meine Schulter, die sich vorgeschoben hatte, als läge der Kopf des Kindes dort.
Ich nahm an, dass es einfacher war, eine Tochter bei der Geburt zu verlieren, ohne dass das Fehlen ihrer jahrelangen Gesellschaft löchrige Fetzen in das Gewebe des Alltags reißen konnte. Und doch kannte ich Faith bis ins letzte Atom ihres Wesens; mein Herz hatte ein Loch, das genau ihre Form hatte. Vielleicht half es ja, dass sie zumindest eines natürlichen Todes gestorben war; dies gab mir das Gefühl, dass sie nach wie vor irgendwie bei mir war, dass sie gut versorgt und nicht allein war. Doch seine Kinder im Krieg durch blutiges Gemetzel zu verlieren?
In dieser Zeit konnte Kindern so viel zustoßen. Aufgewühlt machte ich mich wieder an meine Lektüre der Fallgeschichte.
 
Keine Anzeichen einer organischen Erkrankung, keine äußerlichen Beschädigungen der Augen. Das Weiße der Augen ist klar, die Wimpern frei von jeder Ablagerung, kein Tumor zu sehen. Die Pupillen reagieren normal, wenn man eine Lichtquelle daran vorbeiführt oder dieselbe verdunkelt. Wenn man eine Kerze dicht an die Seite hält, heleuchtet sie den glasigen Zustand des Auges, zeigt jedoch keinen Defekt in seinem Inneren. Mir fällt eine leichte Schlierenhildung auf die auf einen drohenden Grauen Star im linken Auge hinweist, doch dies reicht nicht aus, um den allmählichen verlust des Augenlichtes zu erklären.
 
»Hmm«, sagte ich laut. Sowohl Rawlings’ Beobachtungen als auch seine Schlussfolgerungen stimmten mit den meinen überein. Im Vorübergehen erwähnte er den Zeitraum, über den sich die Verschlechterung von Jocastas Sehvermögen hingezogen hatte - ungefähr zwei Jahre-und das Voranschreiten der Verschlechterung - nichts Abruptes, sondern eine graduelle Verkleinerung des Blickfeldes.
Ich hielt es für wahrscheinlicher, dass es länger gedauert hatte; manchmal fand der Verlust so allmählich statt, dass die Leute die kleinen Verschlechterungen gar nicht bemerkten, bis dann ihr Augenlicht ernsthaft bedroht war.
 
...Teile der peripheren Vision gingen verloren wie abgehobelter Käse. Auch kann die Patientin das geringe, verbliebene Sehvermögen nur bei gedämpftem Licht nutzen, da das Auge stark gereizt und schmerzempfindlich reagiert, wenn es grellem Sonnenlicht ausgesetzt wird.
Ich habe dieses Krankheitsbild bereits zweimal gesehen, jeweils bei älteren Menschen, jedoch nicht so weit fortgeschritten. Habe meine Meinung geäußert, dass das Sehvermögen bald vollständig ausgelöscht sein wird und dann keine Verschlechterung mehr möglich ist. Glücklicherweise hat Mr. Cameron einen schwarzen Bediensteten, der lesen kann und den er seiner Frau als Begleiter überlassen hat, damit er sie vor Hindernissen warnt, ihr vorliest und ihr ihre Umgebung beschreibt.
 
Inzwischen war es weiter fortgeschritten, und Jocasta war vollkommen blind. Also war es eine allmählich fortschreitende Erkrankung - das sagte mir nicht viel, denn es galt für die meisten Augenerkrankungen. Wann hatte Rawlings sie gesehen?
Es kam eine ganze Reihe von Krankheitsbildern in Frage: Netzhautdegeneration, ein Tumor des Sehnervs, Parasitenbefall, Retinitis Pigmentosa, eine Entzündung der Schläfenarterie - wahrscheinlich keine Netzhautablösung, diese wäre abrupt geschehen -, doch mein persönlicher Verdacht lautete auf Glaukom. Ich konnte mich erinnern, wie Phaedre, Jocastas Leibdienerin, einmal Tücher in kaltem Tee ausgewrungen und angemerkt hatte, dass ihre Herrin »schon wieder« Kopfschmerzen habe, in einem Tonfall, der auf ein häufiges Vorkommen schließen ließ - und dass Duncan mich gebeten hatte, ihr ein Lavendelkissen zu machen, um das »Megrimmen« seiner Frau zu lindern.
Möglich jedoch, dass Jocastas Kopfschmerzen nichts mit ihrem Augenlicht zu tun hatten - ich hatte mich damals nicht nach der Natur der Kopfschmerzen erkundigt; es konnte ja sein, dass es schlichte Anspannungsschmerzen oder Migräneanfälle waren, nicht die Druckschmerzen, die manchmal Begleiterscheinungen eines Glaukoms waren - manchmal auch nicht. Schließlich verursachten auch Arterienentzündungen häufig Kopfschmerzen. Das Frustrierende daran war, dass das Glaukom selbst absolut keine vorhersehbaren Symptome hatte - außer der schließlich einsetzenden Blindheit. Es wurde dadurch verursacht, dass die Flüssigkeit im Inneren des Augapfels nicht richtig ablaufen konnte und sich dadurch der Augeninnendruck so weit erhöhte, dass es zu Beschädigungen kam, ohne das geringste Warnsignal für die Patientin oder ihren Arzt. Doch es gab auch noch andere Arten von Erblindung, die ebenfalls weitgehend ohne Symptome verliefen...
Ich war noch tief in meine Spekulationen versunken, als mir bewusst wurde, dass Rawlings seine Notizen auf der Rückseite weitergeführt hatte - auf Lateinisch.
Ich kniff die Augen zu, denn das überraschte mich ein wenig. Ich konnte sehen, dass er die Worte als Fortsetzung der vorhergehenden Passage geschrieben hatte; wenn man mit dem Federkiel schreibt, weisen die Worte einen charakteristischen Wechsel von dunklen und bleicheren Stellen auf, weil die Tinte mit jedem Eintauchen der Feder aufgefrischt wird, und wenn man verschiedene Tintensorten benutzte, hatte jede Passage einen anderen Farbton. Nein, dies war zur selben Zeit geschrieben worden wie der Absatz auf der vorherigen Seite.
Doch warum der plötzliche Wechsel zum Lateinischen? Rawlings verfügte zweifellos über einige Lateinkenntnisse - was dafür sprach, dass er ein gewisses Maß an formeller Bildung genossen hatte, selbst wenn es keine offizielle, medizinische Ausbildung gewesen war -, doch normalerweise machte er in seinen klinischen Notizen keinen Gebrauch davon, abgesehen von gelegentlichen Wörtern oder Phrasen, die zur formellen Beschreibung eines Krankheitsbildes notwendig waren. Doch hier standen anderthalb Seiten auf Latein, in gewissenhaften Buchstaben verfasst, die kleiner waren als seine übliche Handschrift, so als hätte er sich den Inhalt dieser Textpassage sorgfältig zurechtgelegt - oder vielleicht, als hätte er sie geheim halten wollen, wofür schon der bloße Gebrauch des Lateinischen zu sprechen schien.
Ich blätterte die Seiten des Notizbuches zurück, um zu überprüfen, ob ich mit meinem Eindruck Recht hatte. Nein, er hatte zwar hier und dort lateinisch geschrieben - jedoch nicht oft, und immer so wie hier, als Fortsetzung einer auf Englisch begonnenen Passage. Wie merkwürdig. Ich schlug die Seite, die River Run betraf, wieder auf und begann sie auszuknobeln.
Nach ein oder zwei Sätzen gab ich es auf und machte mich auf die Suche nach Jamie. Er war in seinem Studierzimmer auf der anderen Flurseite und schrieb Briefe. Oder auch nicht.
Das Tintenfass - das aus einem kleinen Kürbis bestand, der verkorkt werden konnte, um ein Austrocknen der Tinte zu verhindern - stand frisch gefüllt vor ihm; ich konnte den holzigen Geruch des Gebräus aus Eichengallen und Eisenspänen riechen. Eine frische Truthahnfeder lag auf dem Schreibtisch, so spitz zurechtgestutzt, dass sie sich eher als Stichwaffe denn als Schreibwerkzeug zu eignen schien, und auf dem Tintenlöscher lag ein frisches Blatt Papier. Drei Worte standen schwarz und einsam ganz oben auf der Seite. Es bedurfte nur eines Blickes in sein Gesicht, um zu wissen, wie sie lauteten.
Meine liehe Schwester.
Er sah zu mir auf, lächelte voll Ironie und zuckte mit den Achseln.
»Was soll ich sagen?«
»Ich weiß es nicht.« Ich hatte das Notizbuch geschlossen und es mir unter den Arm geklemmt. Ich trat ein, stellte mich hinter ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Ich drückte sacht zu, und er legte seinerseits die Hand kurz auf die meine, bevor er sie ausstreckte, um nach dem Federkiel zu greifen.
»Ich kann mich doch nicht pausenlos weiter entschuldigen.« Er drehte den Federkiel langsam zwischen Daumen und Mittelfinger hin und her. »Das habe ich jetzt in jedem Brief getan. Wenn sie gewillt wäre, mir zu vergeben...«
Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte Jenny inzwischen wenigstens auf einen der Briefe geantwortet, die er gewissenhaft jeden Monat nach Lallybroch schickte.
»Ian hat dir vergeben. Die Kinder auch.« Sporadisch trafen Briefe von Jamies Schwager ein - doch sie trafen immerhin ein, begleitet von gelegentlichen, kurzen Notizen von seinem Namensvetter, dem Kleinen Jamie, und dann und wann einer Zeile von Maggie, Kitty, Michael oder Janet. Doch Jennys Schweigen war so ohrenbetäubend, dass es jegliche andere Korrespondenz übertönte.
»Aye, es wäre noch schlimmer, wenn...« Er verstummte und starrte das leere Blatt an. Jenny war ihm näher und wichtiger als jeder andere Mensch auf der Welt - ausgenommen einzig und auch nur möglicherweise ich selbst.
Ich teilte sein Bett, sein Leben, seine Liebe, seine Gedanken. Sie hatte seit seiner Geburt sein Herz und seine Seele geteilt - bis zu dem Tag, an dem sie ihren jüngsten Sohn verloren hatte. Zumindest sah sie es offensichtlich so.
Es schmerzte mich zu sehen, wie er sein schlechtes Gewissen wegen lans Verschwinden nach wie vor mit sich herumtrug - und ich verspürte Jenny gegenüber einen leisen Widerwillen. Ich verstand die Tiefe ihres Verlustes und hatte Mitgefühl mit ihrem Schmerz, aber Ian war schließlich nicht tot - soweit wir wussten. Sie allein konnte Jamie die Absolution erteilen, und das musste sie doch wissen.
Ich zog einen Hocker herbei, setzte mich neben ihn und legte das Buch beiseite. Ein kleiner Stapel von Papieren, die er mühselig mit seiner Handschrift bedeckt hatte, lag auf der einen Seite. Es kostete ihn große Kraft und Überwindung, mit der falschen Hand zu schreiben, die noch dazu verkrüppelt war - und doch schrieb er hartnäckig fast jeden Abend, um die kleinen Ereignisse des Tages festzuhalten. Besucher in Fraser’s Ridge, die Gesundheit des Viehs, Baufortschritte, neue Siedler, Neuigkeiten aus den Distrikten im Osten... Er schrieb alles Wort für Wort nieder, um es dann abzuschicken, wenn ein Besucher eintraf, der die gesammelten Seiten auf den ersten Teil ihrer unsicheren Reise nach Schottland mitnahm. Möglich, dass nicht all seine Briefe ihr Ziel erreichten, doch einige kamen bestimmt an. Ebenso erreichten uns auch die meisten Briefe aus Schottland - wenn sie denn abgeschickt wurden.
Eine Zeit lang hatte ich gehofft, dass Jennys Brief schlicht fehlgeleitet oder verlegt worden war, dass er irgendwo auf der Überfahrt verloren gegangen war. Doch es dauerte inzwischen zu lange, und ich hatte die Hoffnung aufgegeben. Jamie nicht.
»Ich habe mir gedacht, vielleicht sollte ich ihr das hier schicken.« Er blätterte den Papierstapel an der Seite des Schreibtisches durch und zog ein kleines Blatt heraus, das fleckig, schmierig und an der einen Kante, an der es aus einem Buch gerissen worden war, aufgeraut war.
Es war eine Nachricht von Ian; der einzige konkrete Hinweis, den wir besaßen, dass der Junge noch am Leben war und es ihm gut ging. Sie hatte uns beim gathering erreicht, überbracht durch John Quincy Myers, einem Bergläufer, der die Wildnis durchstreifte, mit den Indianern auf genau so gutem Fuße stand wie mit den Siedlern und sich mit Rotwild und Opossum besser verstand als mit jedem Bewohner eines Hauses.
Der Brief, der scherzhaft in unbeholfenem Latein verfasst war, versicherte uns, dass es Ian gut ging und er glücklich war. Er war »nach Mohawksitte« mit einer jungen Frau verheiratet (was wohl bedeutete, dass er beschlossen hatte, bei ihr einzuziehen, und sie beschlossen hatte, ihn einziehen zu lassen) und würde »im Frühjahr« selbst Vater werden. Das war alles. Das Frühjahr war gekommen und wieder gegangen, ohne dass uns ein weiteres Wort erreicht hatte. Ian war zwar nicht tot, aber er hätte es genau so gut sein können. Die Chance, dass wir ihn je wiedersehen würden, war verschwindend klein, und Jamie wusste das; die Wildnis hatte ihn verschlungen.
Jamie berührte sanft das zerrupfte Blatt und zeichnete die runden, immer noch kindlichen Buchstaben nach. Er hatte Jenny gesagt, was in dem Brief stand, das wusste ich - doch ich wusste auch, warum er ihr das Original nicht früher geschickt hatte. Es war unsere einzige greifbare Verbindung mit Ian; sie aufzugeben bedeutete irgendwie, ihn endgültig den Mohawk zu überlassen.
»Ave!«, stand da in Ians halb ausgeprägter Schrift. »Ian salutat avunculus Jacobus.« Ian grüßt seinen Onkel James.
Ian war für Jamie mehr als nur einer seiner Neffen. So sehr er Jennys Kinder ausnahmslos liebte, Ian war etwas Besonderes - ein Adoptivsohn, wie Fergus; im Gegensatz zu Fergus jedoch ein Sohn von Jamies Blut, auf eine Weise ein Ersatz für den Sohn, den er verloren hatte. Auch dieser Sohn war nicht tot, doch Jamie konnte niemals Anspruch auf ihn erheben. Die Welt schien auf einmal voller verlorener Kinder zu sein.
»Ja«, sagte ich mit zugeschnürter Kehle. »Ich glaube, du solltest ihn ihr schicken. Jenny sollte ihn haben, selbst wenn...«« Ich hustete, und plötzlich fiel mir die Notiz in dem Buch wieder ein. In der Hoffnung, dass es ihn ablenken würde, streckte ich die Hand danach aus.
»Ähm. Wo wir gerade von Latein sprechen... ich habe hier etwas Merkwürdiges gefunden. Könntest du vielleicht einen Blick darauf werfen?«
»Aye, natürlich.« Er legte Ians Brief beiseite und nahm mir das Buch ab. Er legte es so hin, dass das letzte Licht der Nachmittagssonne auf die Seite fiel. Er runzelte leicht die Stirn, während er mit einem Finger die Schriftzeilen nachfuhr.
»Himmel, der Mann kann ja auch nicht besser Latein als du, Sassenach.«
»Oh, danke. Wir können schließlich nicht alle Gelehrte sein, oder?« Ich rückte dichter an ihn heran und blickte ihm beim Lesen über die Schulter. Also hatte ich Recht gehabt; Rawlings wechselte nicht einfach deshalb ins Lateinische, weil es ihm solchen Spaß machte oder er mit seiner Gelehrsamkeit angeben wollte.
»Etwas Merkwürdiges...«, sagte Jamie und übersetzte langsam, während sich sein Finger über die Seite bewegte. »Ich bin wach - nein, ich glaube, er meint >ich wurde geweckt< - durch Geräusche im Nebenzimmer. Ich denke - >ich dachte< -, mein Patient würde gehen, um Wasser zu lassen, und bin aufgestanden, um ihm zu folgen... Ich frage mich, warum er das tun sollte.««
»Der Patient - es ist übrigens Hector Cameron - hatte ein Problem mit seiner Blase. Rawlings wollte ihn wahrscheinlich beim Urinieren beobachten, um zu sehen, was für Schwierigkeiten er hatte, ob er Schmerzen hatte oder Blut im Urin, etwas in der Art.«
Jamie warf mir mit hochgezogener Augenbraue einen Seitenblick zu, dann wandte er sich kopfschüttelnd wieder dem Notizbuch zu und murmelte irgendetwas über die merkwürdigen Vorlieben der Ärzte.
»Homo procediente... der Mann fährt fort... Warum schreibt er >der Mann<, anstatt ihn bei seinem Namen zu nennen?«
»Er hat auf Latein geschrieben, um seine Worte geheim zu halten«, sagte ich. Ich brannte darauf zu erfahren, was als Nächstes kam. »Wenn Cameron seinen Namen in dem Buch gesehen hätte, wäre er wohl neugierig geworden. Was ist dann passiert.«
»Der Mann geht hinaus - meint er ins Freie oder nur aus seinem Zimmer? - es muss ins Freie heißen... geht ins Freie, und ich folge ihm. Er geht zielsicher und schnell... Warum auch nicht? Oh, hier - das verstehe ich nicht. Ich gebe - habe dem Mann zwölf Gran Laudanum gegeben...«
»Zwölf Gran? Bist du sicher, dass er das schreibt?« Ich beugte mich über Jamies Schulter und warf einen Blick auf die Seite, doch ohne Zweifel - er wies auf den Eintrag, der deutlich in Schwarz auf Weiß verfasst war. »Aber das ist ja genug Laudanum, um ein Pferd niederzustrecken.«
»Aye, >zwölf Gran Laudanum, um den Schlaf herbeizuführen<, sagt er. Dann ist es ja kein Wunder, dass der Doktor erstaunt war, Cameron mitten in der Nacht über den Rasen huschen zu sehen.«
Ich stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Weiter!««
»Mmpfm. Nun, er sagt, er ist zum Abort gegangen - weil er wohl dachte, dass er Cameron dort finden würde -, doch es war niemand da, und es roch nicht nach... äh... er hatte nicht den Eindruck, dass in jüngster Zeit jemand dort gewesen war.«
»Du brauchst dich meinetwegen nicht zu zieren«, sagte ich.
»Ich weiß«, sagte er grinsend. »Aber mein Feingefühl ist trotz meines langen Umgangs mit dir noch nicht so weit verroht, Sassenach. Au!« Er fuhr zurück und rieb sich den Arm, weil ich ihn gekniffen hatte. Ich starrte ihn finster an, auch wenn ich mich innerlich freute, uns beide ein wenig aufgeheitert zu haben.
»Kein Wort mehr über dein Feingefühl, bitte«, sagte ich und klopfte mit dem Fuß auf den Boden. »Außerdem hast du gar keins, sonst hättest du mich nie geheiratet. Wo hat Cameron denn gesteckt?«
Er überflog die Seite, und seine Lippen formten schweigend Worte.
»Er weiß es nicht. Er ist im Haus herumgespukt, bis der Butler die Nase aus seinem Loch gesteckt hat, weil er ihn für einen Einbrecher hielt, und ihn mit einer Flasche Whisky bedroht hat.«
»Eine Furcht einflößende Waffe«, merkte ich an und lächelte bei der Vorstellung, wie Ulysses in seiner Nachtmütze dieses Mittel der Zerstörung schwang. »Was heißt denn >eine Flasche Whisky< auf Latein?«
Jamie blickte zur Seite.
»Er sagt aqua vitae, treffender hat er es wohl nicht hinbekommen. Aber es muss Whisky gewesen sein; er sagt, der Butler hat ihm ein Gläschen auf den Schrecken gegeben.«
»Also hat er Cameron nicht gefunden?«
»Aye, doch, nachdem er sich von Ulysses verabschiedet hatte. Er hat in seinem weißen Bett gelegen und geschnarcht. Am nächsten Morgen hat er nachgefragt, aber Cameron konnte sich nicht daran erinnern, in der Nacht aufgestanden zu sein.« Er blätterte mit einem Finger um und sah mich an. »Könnte es sein, dass das Laudanum sein Erinnerungsvermögen beeinträchtigt hat?«
»Das ist möglich«, sagte ich stirnrunzelnd. »Sehr gut sogar. Aber es ist einfach nicht zu glauben, dass jemand, der so viel Laudanum geschluckt hatte, überhaupt herumgelaufen ist... es sei denn...«« Ich zog eine Augenbraue hoch und sah ihn an, weil mir eine Bemerkung einfiel, die Jocasta im Lauf eines Gespräches auf River Run gemacht hatte. »Ist es möglich, dass dein Onkel Opiumesser war oder so etwas? Jemand, der gewohnheitsmäßig große Mengen Laudanum zu sich nimmt, hat eine höhere Toleranzgrenze, und Rawlings’ Dosis hätte ihn in einem solchen Fall kaum beeinträchtigt.«
Jamie, der sich grundsätzlich nicht davon schockieren ließ, wenn jemand seiner Verwandtschaft etwas Unmoralisches unterstellte, dachte über meine Frage nach, schüttelte aber schließlich den Kopf.
»Wenn es so gewesen ist, ist es mir nicht zu Ohren gekommen. Andererseits«, fügte er in aller Logik hinzu, »gibt es natürlich keinen Grund, warum es mir jemand erzählen sollte.«
Das stimmte allerdings. Wenn Hector Cameron die Mittel gehabt hatte, sich an importierten Betäubungsmitteln zu verlustieren - und er hatte sie mit Sicherheit gehabt, da River Run eine der florierendsten Plantagen der ganzen Gegend war -, dann war das ganz allein seine Sache gewesen. Dennoch war ich überzeugt, dass irgendjemand es erwähnt hätte.
Jamies Gedankengänge nahmen eine andere Richtung.
»Warum sollte ein Mann mitten in der Nacht aus dem Haus gehen, um zu pinkeln, Sassenach?«, fragte er. »Ich weiß, dass Hector Cameron einen Nachttopf hatte; ich habe ihn selbst schon benutzt. Sein Name und das Cameronwappen waren auf den Boden gemalt.«
»Eine exzellente Frage.« Ich starrte auf die Seite mit dem kryptischen Gekritzel. »Wenn Hector Cameron große Schmerzen oder Schwierigkeiten hatte - zum Beispiel durch einen Nierenstein -, könnte es doch sein, dass er nach draußen gegangen ist, um das Haus nicht zu wecken.«
»Mir ist zwar nichts davon zu Ohren gekommen, dass mein Onkel Opiumesser war, aber davon, dass er große Rücksicht auf seine Frau oder seine Dienstboten genommen hat, weiß ich auch nichts«, merkte Jamie ausgesprochen zynisch an. »Nach allem, was man hört, war Hector Cameron ein Erzschurke.«
Ich lachte.
»Das ist bestimmt auch der Grund, warum deine Tante Duncan so schätzt.«
Adso kam mit den Überresten der Libelle im Maul herein spaziert und setzte sich zu meinen Füßen nieder, so dass ich seine Beute bewundern konnte.
»Fein«, sagte ich und tätschelte ihn beiläufig. »Iss aber nicht zu viel davon; in der Vorratskammer sind noch jede Menge Küchenschaben, um die du dich kümmern sollst.«
»Ecce homo«, murmelte Jamie nachdenklich und tippte mit dem Finger auf das Notizbuch. »Meinst du, der homo war vielleicht Franzose?«
»Was?« Ich starrte ihn an.
»Bist du noch nicht auf den Gedanken gekommen, Sassenach, dass der Mann, dem der Doktor gefolgt ist, vielleicht gar nicht Cameron war?«
»Bis jetzt nicht, nein.« Ich beugte mich vor und blinzelte auf die Buchseite. »Aber warum sollte es jemand anders gewesen sein, geschweige denn, ein Franzose?«
Jamie wies mit dem Finger auf den Rand der Seite, der ein paar kleine Zeichnungen trug; Schnörkel, hatte ich gedacht. Die Zeichnung unter seinem Finger war eine Lilie.
»Ecce homo«, sagte er erneut und tippte darauf. »Der Doktor war sich nicht sicher, wer der Mann war, dem er gefolgt ist - deshalb hat er ihn nicht beim Namen genannt. Wenn Cameron betäubt war, war es jemand anders, der in jener Nacht das Haus verlassen hat - und doch erwähnt er keine anderen Anwesenden.«
»Das ist gut möglich, es sei denn, er hätte die betreffende Person untersucht«, wandte ich ein. »Er fügt zwar persönliche Beobachtungen ein, doch das meiste in diesem Buch sind nur seine Fallhistorien; seine Beobachtungen über seine Patienten und die Behandlungen, die er angewandt hat. Aber trotzdem...« Ich blickte stirnrunzelnd auf die Seite. »Eine an den Rand gekritzelte Lilie muss nicht unbedingt etwas zu bedeuten haben, schon gar nicht, dass ein Franzose dort war.« Abgesehen von Fergus gab es kaum Franzosen in North Carolina. Ich wusste von einer Reihe französischer Siedlungen südlich von Savannah - aber das war Hunderte von Meilen entfernt.
Die Lilie konnte gar nichts anderes als ein dahin gemalter Schnörkel sein - und doch konnte ich mich nicht entsinnen, dass Rawlings an irgendeiner anderen Stelle des Buches solche Zeichnungen gemacht hatte. Wenn er Zeichnungen angefügt hatte, waren sie akkurat und zweckdienlich, als Gedächtnisstütze für ihn selbst oder als Anleitung für einen Arzt, der möglicherweise einmal in seine Fußstapfen trat.
Über der Lilie befand sich eine Zeichnung, die aussah wie ein Dreieck mit einem kleinen Kreis am Scheitelpunkt und einer gerundeten Basis; darunter stand eine Abfolge von Buchstaben. Au et Aq.
»A... u«, sagte ich langsam, während ich sie betrachtete. »Aurum.«
»Gold?« Jamie sah überrascht zu mir auf. Ich nickte.
»Ja, es ist die wissenschaftliche Abkürzung für Gold. >Aurum et aqua.< Ich vermute, er meint Goldwasser, Goldspäne in einer wässrigen Lösung. Es ist ein Heilmittel für Arthritis - seltsamerweise funktioniert es oft, auch wenn niemand weiß, warum.«
»Teuer«, merkte Jamie an. »Obwohl Cameron es sich sicher erlauben konnte - vielleicht hatte er ein oder zwei Unzen von seinem Goldbarren zurückbehalten, was?«
»Er hat gesagt, dass Cameron Arthritis hatte.« Ich betrachtete stirnrunzelnd die Seite und ihre kryptischen Randbemerkungen. »Vielleicht hatte er vor, ihm Goldwasser zu empfehlen. Aber ich habe keine Ahnung, was die Lilie oder dieses andere Ding zu bedeuten haben -« Ich zeigte mit dem Finger darauf. »Wenn es ein Symbol für eine medizinische Behandlung ist, so ist es mir nicht bekannt.«
Zu meiner Überraschung lachte Jamie.
»Das kann ich mir vorstellen, Sassenach. Es ist ein Freimaurerkompass.«
»Wirklich?« Ich kniff die Augen zu, dann sah ich Jamie an. »War Cameron denn Freimaurer?«
Er zuckte mit den Achseln und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Jamie sprach niemals von seiner Verbindung zu den Freimaurern. Er war in Ardsmuir zum Freimaurer geworden, und ganz abgesehen davon, dass diese Gesellschaft ihren Mitgliedern Geheimhaltung auferlegte, sprach er kaum je von den Dingen, die sich dort zwischen den feuchten Steinmauern abgespielt hatten.
»Rawlings muss auch einer gewesen sein«, sagte er. Es war ihm deutlich anzusehen, dass es ihm widerstrebte, über die Freimaurerei zu sprechen, dass es ihn jedoch drängte, seine logischen Schlüsse zu ziehen. »Sonst hätte er nicht gewusst, was das ist.« Er tippte mit seinem langen Finger auf den Kompass.
Ich wusste nicht genau, was ich als Nächstes sagen sollte, wurde jedoch in meiner Unentschlossenheit von Adso gerettet, der ein Paar bernsteinfarbener Flügel ausspuckte und auf der Suche nach weiteren Appetithäppchen auf den Schreibtisch sprang. Jamie griff mit einer Hand nach dem Tintengefäß und hielt die andere schützend über seinen neuen Federkiel. Seiner Beute beraubt, schlenderte Adso zur Tischkante und setzte sich auf Jamies Briefstapel. Adsos Schwanz wedelte sanft, während er vorgab, die Aussicht zu bewundern.
Jamie kniff angesichts dieser Unverschämtheit die Augen zusammen. »Nimm deinen pelzigen Hintern von meiner Korrespondenz, du kleines Biest«, sagte er und stach mit der Spitze seines Federkiels nach Adso. Adso riss seine großen, grünen Augen weit auf, heftete sie gebannt auf das Ende der wedelnden Feder, und seine Schulterblätter spannten sich erwartungsvoll an. Jamie wackelte verlockend mit dem Federkiel, und Adso hieb vergeblich mit der Tatze danach.
Ich griff hastig nach der Katze, bevor ein Unglück geschehen konnte, und hob sie mit einem überraschten und entrüsteten Protestgeräusch von den Papieren.
»Nein, das ist sein Spielzeug«, sagte ich mit einem tadelnden Blick auf Jamie zu dem Kater. »Komm mit; die Küchenschaben warten.«
Ich griff mit der freien Hand nach dem Notizbuch, doch zu meiner Überraschung gebot Jamie mir Einhalt.
»Lass es mich noch ein wenig behalten, Sassenach«, sagte er. »Der Gedanke, dass ein französischer Freimaurer des Nachts in River Run herumspaziert, ist wirklich sehr merkwürdig. Ich würde gern sehen, was Dr. Rawlings sonst noch zu sagen hat, wenn er ins Lateinische verfällt.«
»Nun gut.« Ich hob mir Adso, der in freudiger Erwartung der Küchenschaben laut zu schnurren begonnen hatte, auf die Schulter und blickte aus dem Fenster. Die Sonne war hinter den Kastanien zu einem brennenden Glühen versunken, und ich konnte Frauen- und Kinderstimmen aus der Küche hören. Mrs. Bug begann gerade, den Tisch zu decken, und Brianna und Marsali halfen ihr dabei.
»Gleich gibt es Abendessen«, sagte ich und beugte mich nieder, um Jamie auf den Scheitel zu küssen, der vom letzten Sonnenlicht in Feuer getaucht wurde. Er hob lächelnd den Finger an die Lippen und dann zu mir, doch als ich die Tür erreichte, hatte er sich schon wieder über die dicht beschriebenen Seiten gebeugt. Das einzelne Blatt mit den drei schwarzen Worten lag am Rand des Schreibtischs, vergessen - für den Augenblick.
Das Flammende Kreuz
gaba_9783641060008_oeb_cover_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_toc_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_fm1_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_ata_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_als_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_ded_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_fm2_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_p01_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c01_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c02_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c03_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c04_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c05_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c06_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c07_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c08_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c09_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c10_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c11_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c12_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c13_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c14_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c15_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c16_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c17_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_p02_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c18_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c19_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c20_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c21_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c22_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c23_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c24_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c25_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_p03_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c26_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c27_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c28_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c29_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c30_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c31_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c32_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_p04_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c33_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c34_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c35_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c36_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c37_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c38_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_p05_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c39_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c40_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c41_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c42_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c43_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c44_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c45_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c46_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c47_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c48_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c49_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c50_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c51_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c52_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c53_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c54_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c55_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_p06_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c56_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c57_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c58_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c59_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c60_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c61_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c62_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c63_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c64_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c65_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c66_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c67_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c68_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c69_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c70_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c71_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c72_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_p07_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c73_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c74_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c75_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c76_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c77_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c78_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c79_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c80_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c81_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c82_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c83_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c84_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c85_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c86_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c87_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c88_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_p08_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c89_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c90_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c91_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c92_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c93_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c94_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c95_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_p09_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c96_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c97_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c98_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c99_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c100_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c101_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c102_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c103_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c104_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c105_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c106_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c107_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c108_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c109_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c110_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c111_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_ack_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_cop_r1.html