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Aurum
Es war still im Haus; Mr. Wemyss war zur Mühle
gegangen und hatte Lizzie und Mrs. Bug mitgenommen, und es war
schon so spät am Tag, dass in Fraser’s Ridge nicht mehr mit Besuch
zu rechnen war- die Leute waren jetzt beschäftigt, die Tiere wurden
gefüttert und für die Nacht eingestreut, man holte Holz und Wasser
und schürte das Feuer für das Abendessen.
Mein persönliches Tier war bereits gefüttert und
weich gebettet; Adso lag als schlummernde Kugel in einem Fleck aus
spätem Sonnenlicht auf der Fensterbank. Er hatte die Füße unter
sich gezogen und die Augen in gesättigter Ekstase geschlossen. Mein
Beitrag zum Abendessen - ein Gericht, das Fergus elegant als
lapin aux chanterelles bezeichnete (und das dem gemeinen
Volk als Karnickeleintopf bekannt war) - blubberte schon seit dem
frühen Morgen fröhlich im Kessel vor sich hin, ohne meiner
Aufmerksamkeit zu bedürfen. Was das Schrubben der Fußböden,
Fensterputzen, Abstauben und ähnliche Plackereien anging... nun,
wenn die Arbeit einer Frau sowieso nie getan war, wie das
Sprichwort besagte, warum sollte ich mir darüber Gedanken machen,
wie viel davon genau jetzt nicht getan war?
Ich holte mir Papier und Tinte und das große, in
schwarzes Tuch gebundene Notizbuch aus dem Schrank und ließ mich
bei Adso nieder, um mir die Sonne mit ihm zu teilen. Ich verfasste
eine sorgfältige Beschreibung einer Verwachsung am Ohr des kleinen
Geordie Chisholm, die ich im Auge behalten musste, und fügte die
jüngsten Messdaten von Tom Christies linker Hand hinzu.
Christie hatte Arthritis an beiden Händen, und
seine Finger waren leicht gekrümmt. Doch nachdem ich ihn beim
Abendessen genau beobachtet hatte, war ich mir beinahe sicher, dass
die Symptome an seiner Hand nicht auf Arthritis hindeuteten,
sondern auf eine Dupuytren’sche Kontraktur - eine seltsame,
hakenartige Verkrümmung des Ringfingers und des kleinen Fingers zur
Handfläche hin, verursacht durch eine Sehnenverwachsung der
Hohlhand.
Normalerweise hätte ich mir sicher sein sollen,
doch Christies Hände waren von jahrelanger, körperlicher Arbeit so
schwielig, dass ich das typische Knötchen an der Ringfingerwurzel
nicht fühlen konnte. Doch der Finger hatte sich irgendwie verkehrt
angefühlt, als ich mir die Hand zum ersten Mal angesehen hatte -
beim Nähen einer Schnittwunde an der Handwurzel -, und ich hatte
ihn kontrolliert, wann immer ich Tom Christie zu Gesicht bekam
und ihn überreden konnte, mich einen Blick darauf werfen zu lassen
- was nicht besonders oft vorkam.
Jamies Bedenken zum Trotz hatten sich die Christies
bis jetzt als ideale Pächter erwiesen, die sehr ruhig lebten und
sich weitgehend für sich hielten, abgesehen von Tom Christies
Schulstunden, die er streng, aber effektiv zu gestalten
schien.
Mir wurde bewusst, dass etwas oder jemand hinter
meinem Kopf lauerte. Der Sonnenstrahl hatte sich weiterbewegt, und
Adso mit ihm.
»Denk erst gar nicht daran, Kater«, sagte ich. In
der Nähe meines linken Ohrs setzte ein brummendes Schnurren der
Vorfreude ein, und eine große Pfote streckte sich aus und
tätschelte mir vorsichtig den Scheitel.
»Oh, na gut«, sagte ich resigniert. Eigentlich
blieb mir auch gar nichts anderes übrig, es sei denn, ich hätte
aufstehen und anderswo schreiben wollen. »Wie du willst.«
Adso konnte Haaren nicht widerstehen. Ganz gleich,
wessen Haar es war und ob es an einem Kopf festgewachsen war oder
nicht. Zum Glück war bis jetzt Major MacDonald der Einzige gewesen,
der so unüberlegt gehandelt hatte, sich mit einer Perücke in Adsos
Reichweite zu setzen, und ich hatte sie letztlich zurückbekommen,
auch wenn ich dazu unter das Haus kriechen musste, wohin Adso sich
mit seiner Beute zurückgezogen hatte; kein anderer traute sich, sie
ihm aus den Fängen zu reißen. Der Major hatte den Zwischenfall
ausgesprochen humorlos aufgenommen, und er ließ sich zwar nicht
davon abhalten, dann und wann vorbeizuschauen und Jamie zu
besuchen, doch zog er bei diesen Besuchen nicht länger den Hut ab.
Wenn er am Küchentisch saß und Zichorienkaffee trank, behielt er
jetzt den Dreispitz auf dem Kopf und heftete beide Augen fest auf
Adso, dessen Bewegungen er genau verfolgte.
Ich entspannte mich ein wenig, und wenn ich auch
nicht schnurrte, so fühlte ich mich doch sehr warm und angenehm. Es
war sehr beruhigend, sich von der Katze mit halb versenkten Krallen
kneten und kämmen zu lassen. Dann und wann hielt Adso in seiner
vorsichtigen Haarpflege inne, um sein Gesicht liebevoll an meinem
Kopf zu reiben. Er wurde nur dann wirklich gefährlich, wenn er sich
an der Katzenminze vergriffen hatte, doch diese war sicher
weggeschlossen. Mit halb geschlossenen Augen sann ich über die
vertrackte Frage nach, wie ich die Depuytren’sche Kontraktur
beschreiben sollte, ohne diese Bezeichnung zu verwenden, da Baron
Depuytren schließlich noch gar nicht geboren war.
Nun, ein Bild sagt mehr als tausend Worte, und ich
dachte, dass ich wohl zumindest eine kompetente Federzeichnung
zustande bringen würde. Ich tat mein Bestes und fragte mich
derweil, wie ich Thomas Christie dazu bewegen sollte, seine Hand
von mir operieren zu lassen.
Es war eine ziemlich schnelle und einfache
Prozedur, doch angesichts unseres Mangels an Anästhetika und der
Tatsache, dass Christie strenger Presbyterianer
und Antialkoholiker war... vielleicht konnte sich Jamie ja auf
seine Brust setzen, Roger auf seine Beine. Wenn Brianna dann sein
Handgelenk festhielt...
Ich ließ das Problem vorerst ruhen und gähnte
schläfrig. Meine Schläfrigkeit verschwand jedoch abrupt, als eine
fast zehn Zentimeter lange, gelbe Libelle mit einem Geräusch wie
ein Hubschrauber zum offenen Fenster hineingeschwirrt kam. Adso
rauschte ihr durch die Luft hinterher. Er hinterließ mein Haar als
wildes Durcheinander, und mein Haarband - an dem er im Stillen
herumgekaut zu haben schien - hing nass und zerknittert hinter
meinem Ohr. Ich entfernte es leicht angewidert, legte es zum
Trocknen auf die Fensterbank und blätterte ein paar Seiten zurück,
um die gelungene Zeichnung zu bewundern, die ich von Jamies
Schlangenbiss und Briannas Klapperschlangenspritze angefertigt
hatte.
Zu meinem Erstaunen war das Bein sauber und gut
verheilt, und es hatte zwar beträchtliche Gewebsablösungen gegeben,
doch die Maden hatten sich dieses Problems so wirkungsvoll
angenommen, dass die einzigen bleibenden Spuren zwei kleine
Hautvertiefungen an der Stelle der ursprünglichen Bisswunden waren,
sowie eine schmale, gerade Narbe am Unterschenkel, wo ich einen
Einschnitt gemacht hatte, um mein Debridement durchzuführen
und die Maden einzusetzen. Jamie humpelte immer noch schwach, aber
ich ging davon aus, dass sich das mit der Zeit von selbst legen
würde.
Zufrieden summend blätterte ich weiter zurück, bis
ich schließlich planlos in den letzten Seiten von Daniel Rawlings’
Notizen stöberte.
Josephus Howard... Hauptbeschwerde ist eine
Fistel des Rektums, die schon so lange besteht, dass sich ein
schlimmer Abszess gebildet hat, dazu ein fortgeschrittener Fall von
Hämorrhoiden. Behandlung mit einem Aufguss aus Alehuf, vermischt
mit gebranntem Alaun und einer geringen Menge Honig, das Ganze mit
Ringelblumensaft verkocht.
Eine weitere Notiz auf derselben Seite, einen
Monat später datiert, verwies auf die Wirksamkeit dieser Mischung,
ergänzt durch Illustrationen, die den Patienten vor und nach der
Anwendung zeigten. Ich betrachtete die Zeichnungen mit
hochgezogenen Augenbrauen; Rawlings war auch kein größerer Künstler
als ich, doch es war ihm gelungen, die Unannehmlichkeit dieser
Erkrankung mit bemerkenswerter Genauigkeit einzufangen.
Ich tippte mir mit dem Federkiel an den Mund,
überlegte, dann fügte ich sorgsam eine Randbemerkung an, in der ich
zusätzlich zu dieser Behandlung eine Ernährung empfahl, die viel
ballaststoffreiches Gemüse enthielt und sowohl zur Vorbeugung von
Verstopfung als auch ihrer ernsteren Komplikationen diente - es gab
doch nichts Besseres als ein wenig Anschauungsunterricht!
Ich wischte den Kiel ab, legte ihn hin und
blätterte um, wobei ich mich
fragte, ob Alehuf wohl eine Pflanze war - und wenn ja, was für
eine - oder eine gärende Erkrankung des Pferdehufes. Ich konnte
Jamie in seinem Studierzimmer rascheln hören; ich würde gleich zu
ihm gehen und ihn fragen.
Fast hätte ich es übersehen. Es stand auf der
Rückseite des Blattes mit der Zeichnung von Mr. Howards Fistel,
offenbar ein beiläufiges Postskriptum nach vollbrachtem
Tagewerk.
Habe mit Mr. Hector Cameron aus River Run
gesprochen, der mich anfleht, zu kommen und die Augen seiner Frau
zu untersuchen, da ihr Augenlicht stark getrübt ist. Der Weg zu
seiner Plantage ist weit, doch er wird ein Pferd
schicken.
Diese Zeilen setzten der einschläfernden
Atmosphäre des Nachmittags mit einem Schlag ein Ende. Fasziniert
setzte ich mich gerade hin und blätterte weiter, um herauszufinden,
ob der Doktor Jocasta tatsächlich untersucht hatte. Ich hatte sie -
unter großen Schwierigkeiten - ein einziges Mal dazu bewegen
können, dass sie mir gestattete, ihre Augen zu untersuchen, und ich
war neugierig, zu welchem Schluss Rawlings gekommen war. Ohne
Ophtalmoskop gab es keine Möglichkeit, den Grund für ihre
Erblindung mit Sicherheit zu bestimmen, doch ich hatte einen
Verdacht - und Dinge wie den Grauen Star oder Diabetes konnte ich
mit ziemlicher Sicherheit ausschließen. Ich fragte mich, ob
Rawlings irgendetwas gesehen hatte, was mir entgangen war, und ob
sich ihr Zustand seit seiner Visite merklich geändert hatte.
Habe den Schmied zur Ader gelassen, seiner Frau
Sennaöl (1/6 Drachme) als Abführmittel verabreicht, dazu der Katze
1/20 Drachme derselben Substanz (gratis), da ich im Kot des Tiers
ein Gewimmel von Würmern beobachtet hatte.
Bei diesen Zeilen lächelte ich; ganz gleich, wie
rudimentär seine Methoden waren, Daniel Rawlings war ein guter
Arzt. Ich fragte mich erneut, was aus ihm geworden war und ob es
mir jemals vergönnt sein würde, ihm zu begegnen. Ich hatte das
traurige Gefühl, dass es nicht geschehen würde; ich konnte mir
nicht vorstellen, dass ein Arzt nicht zurückkommen würde, um einen
Satz derart schöner Instrumente, wie es die seinen waren, wieder an
sich zu bringen, wenn es ihm nur irgendwie möglich war.
Da ich ihn in meiner Neugier immer wieder bedrängt
hatte, hatte Jamie pflichtschuldigst Nachfragen angestellt, ohne
jedoch Erfolg gehabt zu haben. Daniel Rawlings war nach Virginia
aufgebrochen, hatte die Truhe mit seinen Instrumenten
zurückgelassen - und sich in Luft aufgelöst.
Die nächste Seite, der nächste Patient; Aderlass,
Abführmittel, geöffnete Brandblasen, die Entfernung eines
entzündeten Nagels, eine Zeichnung eines Zahnabszesses, die
Kauterisierung einer chronisch wunden Stelle am Bein
einer Frau... Rawlings hatte in Cross Creek gut zu tun gehabt.
Doch war er je bis nach River Run gekommen?
Ja, da war es, eine Woche und mehrere Seiten
später.
Habe River Run nach beschwerlicher Reise
erreicht Wind und Regen hätten ein Schiff versenken können, und an
manchen Stellen war die Straße fortgespült, so dass ich gezwungen
war, quer durch die Landschaft zu reiten, vom Hagel gepeitscht
schlammig bis zu den Augenbrauen. War in der Abenddämmerung mit Mr.
Camerons schwarzem Bediensteten aufgebrochen, der mir ein Pferd
gebracht hatte - erreichten das rettende Ziel erst weit nach
Anbruch der Dunkelheit, erschöpft und hungrig. Wurde von Mr.
Cameron empfangen, der mir Brandy gab.
Da er nun einmal Geld für den Besuch eines Arztes
ausgegeben hatte, hatte Hector Cameron offenbar beschlossen, die
Gelegenheit weidlich auszunutzen, und hatte sämtliche Sklaven und
Bediensteten von Rawlings untersuchen lassen, dazu den Hausherrn
selbst.
Dreiundsiebzig Jahre alt, von mittlerer Größe,
breitschultrig, wenn auch von leicht gebeugter Statur, hatte
Rawlings Hector beschrieben, die Hände vom Rheumatismus so
verknöchert, dass es ihm unmöglich ist, irgendein Werkzeug
zu handhaben, das feiner ist als ein Löffel. Darüber hinaus hat er
sich gut gehalten und ist für sein Alter sehr rüstig. Beklagt
nächtliches Aufstehen, schmerzhaften Harndrang. Ich neige dazu,
eine krankhafte Blasenverstimmung zu vermuten, keinen
Blasenstein und keine Erkrankung der inneren Geschlechtsorgane, da
die Beschwerden zwar häufig wiederkehren, jedoch bis jetzt nie von
langer Dauer gewesen sind - im Durchschnitt haben die
Anfälle eine Dauer von zwei Wochen und gehen mit einem Brennen
des männlichen Organs einher. Sein schwaches Fieber, seine
Empfindlichkeit beim Abtasten des Unterleibs und sein schwarzer,
stark riechender Urin lassen mich weiter zu diesem Glauben
neigen.
Da der Haushalt über eine beträchtliche Menge an
getrockneten Preiselbeeren verfügt, habe ich ihm eine Trinkkur
verschrieben, dreimal täglich eine Tasse des eingedickten Saftes.
Außerdem empfehle ich Labkrauttee, morgens und abends zu trinken,
seiner kühlenden Wirkung wegen sowie für den Fall, dass Harngrieß
vorliegt, was die Beschwerden verstärken könnte.
Ich ertappte mich dabei, dass ich zustimmend
nickte. Ich stimmte nicht immer mit Rawlings überein, was seine
Diagnosen oder Behandlungsmethoden anging, doch in diesem Fall war
ich der Meinung, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
Doch was war mit Jocasta?
Da war sie ja, auf der nächsten Seite.
Jocasta Cameron, vierundsechzig Jahre
alt, Tri-gravida, gut genährt und allgemein von guter
Gesundheit von sehr jugendlichem Aussehen.
Tri-gravida? Bei dieser beiläufigen
Anmerkung hielt ich einen Moment inne. Was für ein schlichter,
schmuckloser Ausdruck für das Austragen - ganz zu schweigen vom
Verlust - dreier Kinder. Drei Kinder über das gefährliche
Säuglingsalter hinaus aufgezogen zu haben, nur, um sie alle
zugleich zu verlieren, noch dazu auf solch grausame Weise. Die
Sonne war warm, doch ich spürte, wie sich bei diesem Gedanken Kälte
über mein Herz senkte.
Was, wenn es Brianna wäre? Oder der kleine Jemmy?
Wie ertrug eine Frau einen solchen Verlust? Ich hatte es selbst
erlebt, und ich fasste es immer noch nicht. Es war schon lange her,
und doch erwachte ich dann und wann des Nachts und spürte das
warme, schlafende Gewicht eines Kindes auf meiner Brust, seinen
warmen Atem an meinem Hals. Ich hob die Hand und berührte meine
Schulter, die sich vorgeschoben hatte, als läge der Kopf des Kindes
dort.
Ich nahm an, dass es einfacher war, eine Tochter
bei der Geburt zu verlieren, ohne dass das Fehlen ihrer jahrelangen
Gesellschaft löchrige Fetzen in das Gewebe des Alltags reißen
konnte. Und doch kannte ich Faith bis ins letzte Atom ihres Wesens;
mein Herz hatte ein Loch, das genau ihre Form hatte. Vielleicht
half es ja, dass sie zumindest eines natürlichen Todes gestorben
war; dies gab mir das Gefühl, dass sie nach wie vor irgendwie bei
mir war, dass sie gut versorgt und nicht allein war. Doch seine
Kinder im Krieg durch blutiges Gemetzel zu verlieren?
In dieser Zeit konnte Kindern so viel zustoßen.
Aufgewühlt machte ich mich wieder an meine Lektüre der
Fallgeschichte.
Keine Anzeichen einer organischen Erkrankung,
keine äußerlichen Beschädigungen der Augen. Das Weiße der Augen ist
klar, die Wimpern frei von jeder Ablagerung, kein Tumor zu sehen.
Die Pupillen reagieren normal, wenn man eine Lichtquelle daran
vorbeiführt oder dieselbe verdunkelt. Wenn man eine Kerze dicht an
die Seite hält, heleuchtet sie den glasigen Zustand des Auges,
zeigt jedoch keinen Defekt in seinem Inneren. Mir fällt eine
leichte Schlierenhildung auf die auf einen drohenden Grauen Star im
linken Auge hinweist, doch dies reicht nicht aus, um den
allmählichen verlust des Augenlichtes zu erklären.
»Hmm«, sagte ich laut. Sowohl Rawlings’
Beobachtungen als auch seine Schlussfolgerungen stimmten mit den
meinen überein. Im Vorübergehen erwähnte er den Zeitraum, über den
sich die Verschlechterung von Jocastas Sehvermögen hingezogen hatte
- ungefähr zwei Jahre-und das Voranschreiten der Verschlechterung -
nichts Abruptes, sondern eine graduelle Verkleinerung des
Blickfeldes.
Ich hielt es für wahrscheinlicher, dass es länger
gedauert hatte; manchmal fand der Verlust so allmählich statt, dass
die Leute die kleinen Verschlechterungen gar nicht bemerkten, bis
dann ihr Augenlicht ernsthaft bedroht war.
...Teile der peripheren Vision gingen verloren
wie abgehobelter Käse. Auch kann die Patientin das geringe,
verbliebene Sehvermögen nur bei gedämpftem Licht nutzen, da das
Auge stark gereizt und schmerzempfindlich reagiert, wenn es grellem
Sonnenlicht ausgesetzt wird.
Ich habe dieses Krankheitsbild bereits zweimal
gesehen, jeweils bei älteren Menschen, jedoch nicht so weit
fortgeschritten. Habe meine Meinung geäußert, dass das Sehvermögen
bald vollständig ausgelöscht sein wird und dann keine
Verschlechterung mehr möglich ist. Glücklicherweise hat Mr. Cameron
einen schwarzen Bediensteten, der lesen kann und den er seiner Frau
als Begleiter überlassen hat, damit er sie vor Hindernissen warnt,
ihr vorliest und ihr ihre Umgebung beschreibt.
Inzwischen war es weiter fortgeschritten, und
Jocasta war vollkommen blind. Also war es eine allmählich
fortschreitende Erkrankung - das sagte mir nicht viel, denn es galt
für die meisten Augenerkrankungen. Wann hatte Rawlings sie
gesehen?
Es kam eine ganze Reihe von Krankheitsbildern in
Frage: Netzhautdegeneration, ein Tumor des Sehnervs,
Parasitenbefall, Retinitis Pigmentosa, eine Entzündung der
Schläfenarterie - wahrscheinlich keine Netzhautablösung, diese wäre
abrupt geschehen -, doch mein persönlicher Verdacht lautete auf
Glaukom. Ich konnte mich erinnern, wie Phaedre, Jocastas
Leibdienerin, einmal Tücher in kaltem Tee ausgewrungen und
angemerkt hatte, dass ihre Herrin »schon wieder«
Kopfschmerzen habe, in einem Tonfall, der auf ein häufiges
Vorkommen schließen ließ - und dass Duncan mich gebeten hatte, ihr
ein Lavendelkissen zu machen, um das »Megrimmen« seiner Frau zu
lindern.
Möglich jedoch, dass Jocastas Kopfschmerzen nichts
mit ihrem Augenlicht zu tun hatten - ich hatte mich damals nicht
nach der Natur der Kopfschmerzen erkundigt; es konnte ja sein, dass
es schlichte Anspannungsschmerzen oder Migräneanfälle waren, nicht
die Druckschmerzen, die manchmal Begleiterscheinungen eines
Glaukoms waren - manchmal auch nicht. Schließlich verursachten auch
Arterienentzündungen häufig Kopfschmerzen. Das Frustrierende daran
war, dass das Glaukom selbst absolut keine vorhersehbaren Symptome
hatte - außer der schließlich einsetzenden Blindheit. Es wurde
dadurch verursacht, dass die Flüssigkeit im Inneren des Augapfels
nicht richtig ablaufen konnte und sich dadurch der Augeninnendruck
so weit erhöhte, dass es zu Beschädigungen kam, ohne das geringste
Warnsignal für die Patientin oder ihren Arzt. Doch es gab auch noch
andere Arten von Erblindung, die ebenfalls weitgehend ohne Symptome
verliefen...
Ich war noch tief in meine Spekulationen versunken,
als mir bewusst wurde, dass Rawlings seine Notizen auf der
Rückseite weitergeführt hatte - auf Lateinisch.
Ich kniff die Augen zu, denn das überraschte mich
ein wenig. Ich konnte sehen, dass er die Worte als Fortsetzung der
vorhergehenden Passage geschrieben hatte; wenn man mit dem
Federkiel schreibt, weisen die Worte einen charakteristischen
Wechsel von dunklen und bleicheren Stellen auf, weil die Tinte mit
jedem Eintauchen der Feder aufgefrischt wird, und wenn man
verschiedene Tintensorten benutzte, hatte jede Passage einen
anderen Farbton. Nein, dies war zur selben Zeit geschrieben worden
wie der Absatz auf der vorherigen Seite.
Doch warum der plötzliche Wechsel zum Lateinischen?
Rawlings verfügte zweifellos über einige Lateinkenntnisse - was
dafür sprach, dass er ein gewisses Maß an formeller Bildung
genossen hatte, selbst wenn es keine offizielle, medizinische
Ausbildung gewesen war -, doch normalerweise machte er in seinen
klinischen Notizen keinen Gebrauch davon, abgesehen von
gelegentlichen Wörtern oder Phrasen, die zur formellen Beschreibung
eines Krankheitsbildes notwendig waren. Doch hier standen
anderthalb Seiten auf Latein, in gewissenhaften Buchstaben
verfasst, die kleiner waren als seine übliche Handschrift, so als
hätte er sich den Inhalt dieser Textpassage sorgfältig
zurechtgelegt - oder vielleicht, als hätte er sie geheim halten
wollen, wofür schon der bloße Gebrauch des Lateinischen zu sprechen
schien.
Ich blätterte die Seiten des Notizbuches zurück, um
zu überprüfen, ob ich mit meinem Eindruck Recht hatte. Nein, er
hatte zwar hier und dort lateinisch geschrieben - jedoch nicht oft,
und immer so wie hier, als Fortsetzung einer auf Englisch
begonnenen Passage. Wie merkwürdig. Ich schlug die Seite, die River
Run betraf, wieder auf und begann sie auszuknobeln.
Nach ein oder zwei Sätzen gab ich es auf und machte
mich auf die Suche nach Jamie. Er war in seinem Studierzimmer auf
der anderen Flurseite und schrieb Briefe. Oder auch nicht.
Das Tintenfass - das aus einem kleinen Kürbis
bestand, der verkorkt werden konnte, um ein Austrocknen der Tinte
zu verhindern - stand frisch gefüllt vor ihm; ich konnte den
holzigen Geruch des Gebräus aus Eichengallen und Eisenspänen
riechen. Eine frische Truthahnfeder lag auf dem Schreibtisch, so
spitz zurechtgestutzt, dass sie sich eher als Stichwaffe denn als
Schreibwerkzeug zu eignen schien, und auf dem Tintenlöscher lag ein
frisches Blatt Papier. Drei Worte standen schwarz und einsam ganz
oben auf der Seite. Es bedurfte nur eines Blickes in sein Gesicht,
um zu wissen, wie sie lauteten.
Meine liehe Schwester.
Er sah zu mir auf, lächelte voll Ironie und zuckte
mit den Achseln.
»Was soll ich sagen?«
»Ich weiß es nicht.« Ich hatte das Notizbuch
geschlossen und es mir unter
den Arm geklemmt. Ich trat ein, stellte mich hinter ihn und legte
ihm eine Hand auf die Schulter. Ich drückte sacht zu, und er legte
seinerseits die Hand kurz auf die meine, bevor er sie ausstreckte,
um nach dem Federkiel zu greifen.
»Ich kann mich doch nicht pausenlos weiter
entschuldigen.« Er drehte den Federkiel langsam zwischen Daumen und
Mittelfinger hin und her. »Das habe ich jetzt in jedem Brief getan.
Wenn sie gewillt wäre, mir zu vergeben...«
Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte Jenny
inzwischen wenigstens auf einen der Briefe geantwortet, die er
gewissenhaft jeden Monat nach Lallybroch schickte.
»Ian hat dir vergeben. Die Kinder auch.« Sporadisch
trafen Briefe von Jamies Schwager ein - doch sie trafen immerhin
ein, begleitet von gelegentlichen, kurzen Notizen von seinem
Namensvetter, dem Kleinen Jamie, und dann und wann einer Zeile von
Maggie, Kitty, Michael oder Janet. Doch Jennys Schweigen war so
ohrenbetäubend, dass es jegliche andere Korrespondenz
übertönte.
»Aye, es wäre noch schlimmer, wenn...« Er
verstummte und starrte das leere Blatt an. Jenny war ihm näher und
wichtiger als jeder andere Mensch auf der Welt - ausgenommen einzig
und auch nur möglicherweise ich selbst.
Ich teilte sein Bett, sein Leben, seine Liebe,
seine Gedanken. Sie hatte seit seiner Geburt sein Herz und seine
Seele geteilt - bis zu dem Tag, an dem sie ihren jüngsten Sohn
verloren hatte. Zumindest sah sie es offensichtlich so.
Es schmerzte mich zu sehen, wie er sein schlechtes
Gewissen wegen lans Verschwinden nach wie vor mit sich herumtrug -
und ich verspürte Jenny gegenüber einen leisen Widerwillen. Ich
verstand die Tiefe ihres Verlustes und hatte Mitgefühl mit ihrem
Schmerz, aber Ian war schließlich nicht tot - soweit wir wussten.
Sie allein konnte Jamie die Absolution erteilen, und das musste sie
doch wissen.
Ich zog einen Hocker herbei, setzte mich neben ihn
und legte das Buch beiseite. Ein kleiner Stapel von Papieren, die
er mühselig mit seiner Handschrift bedeckt hatte, lag auf der einen
Seite. Es kostete ihn große Kraft und Überwindung, mit der falschen
Hand zu schreiben, die noch dazu verkrüppelt war - und doch schrieb
er hartnäckig fast jeden Abend, um die kleinen Ereignisse des Tages
festzuhalten. Besucher in Fraser’s Ridge, die Gesundheit des Viehs,
Baufortschritte, neue Siedler, Neuigkeiten aus den Distrikten im
Osten... Er schrieb alles Wort für Wort nieder, um es dann
abzuschicken, wenn ein Besucher eintraf, der die gesammelten Seiten
auf den ersten Teil ihrer unsicheren Reise nach Schottland mitnahm.
Möglich, dass nicht all seine Briefe ihr Ziel erreichten, doch
einige kamen bestimmt an. Ebenso erreichten uns auch die meisten
Briefe aus Schottland - wenn sie denn abgeschickt wurden.
Eine Zeit lang hatte ich gehofft, dass Jennys Brief
schlicht fehlgeleitet oder
verlegt worden war, dass er irgendwo auf der Überfahrt verloren
gegangen war. Doch es dauerte inzwischen zu lange, und ich hatte
die Hoffnung aufgegeben. Jamie nicht.
»Ich habe mir gedacht, vielleicht sollte ich ihr
das hier schicken.« Er blätterte den Papierstapel an der Seite des
Schreibtisches durch und zog ein kleines Blatt heraus, das fleckig,
schmierig und an der einen Kante, an der es aus einem Buch gerissen
worden war, aufgeraut war.
Es war eine Nachricht von Ian; der einzige konkrete
Hinweis, den wir besaßen, dass der Junge noch am Leben war und es
ihm gut ging. Sie hatte uns beim gathering erreicht, überbracht
durch John Quincy Myers, einem Bergläufer, der die Wildnis
durchstreifte, mit den Indianern auf genau so gutem Fuße stand wie
mit den Siedlern und sich mit Rotwild und Opossum besser verstand
als mit jedem Bewohner eines Hauses.
Der Brief, der scherzhaft in unbeholfenem Latein
verfasst war, versicherte uns, dass es Ian gut ging und er
glücklich war. Er war »nach Mohawksitte« mit einer jungen Frau
verheiratet (was wohl bedeutete, dass er beschlossen hatte, bei ihr
einzuziehen, und sie beschlossen hatte, ihn einziehen zu lassen)
und würde »im Frühjahr« selbst Vater werden. Das war alles. Das
Frühjahr war gekommen und wieder gegangen, ohne dass uns ein
weiteres Wort erreicht hatte. Ian war zwar nicht tot, aber er hätte
es genau so gut sein können. Die Chance, dass wir ihn je
wiedersehen würden, war verschwindend klein, und Jamie wusste das;
die Wildnis hatte ihn verschlungen.
Jamie berührte sanft das zerrupfte Blatt und
zeichnete die runden, immer noch kindlichen Buchstaben nach. Er
hatte Jenny gesagt, was in dem Brief stand, das wusste ich - doch
ich wusste auch, warum er ihr das Original nicht früher geschickt
hatte. Es war unsere einzige greifbare Verbindung mit Ian; sie
aufzugeben bedeutete irgendwie, ihn endgültig den Mohawk zu
überlassen.
»Ave!«, stand da in Ians halb ausgeprägter
Schrift. »Ian salutat avunculus Jacobus.« Ian grüßt
seinen Onkel James.
Ian war für Jamie mehr als nur einer seiner Neffen.
So sehr er Jennys Kinder ausnahmslos liebte, Ian war etwas
Besonderes - ein Adoptivsohn, wie Fergus; im Gegensatz zu Fergus
jedoch ein Sohn von Jamies Blut, auf eine Weise ein Ersatz für den
Sohn, den er verloren hatte. Auch dieser Sohn war nicht tot, doch
Jamie konnte niemals Anspruch auf ihn erheben. Die Welt schien auf
einmal voller verlorener Kinder zu sein.
»Ja«, sagte ich mit zugeschnürter Kehle. »Ich
glaube, du solltest ihn ihr schicken. Jenny sollte ihn haben,
selbst wenn...«« Ich hustete, und plötzlich fiel mir die Notiz in
dem Buch wieder ein. In der Hoffnung, dass es ihn ablenken würde,
streckte ich die Hand danach aus.
Ȁhm. Wo wir gerade von Latein sprechen... ich habe
hier etwas Merkwürdiges gefunden. Könntest du vielleicht einen
Blick darauf werfen?«
»Aye, natürlich.« Er legte Ians Brief beiseite und
nahm mir das Buch ab.
Er legte es so hin, dass das letzte Licht der Nachmittagssonne auf
die Seite fiel. Er runzelte leicht die Stirn, während er mit einem
Finger die Schriftzeilen nachfuhr.
»Himmel, der Mann kann ja auch nicht besser Latein
als du, Sassenach.«
»Oh, danke. Wir können schließlich nicht alle
Gelehrte sein, oder?« Ich rückte dichter an ihn heran und blickte
ihm beim Lesen über die Schulter. Also hatte ich Recht gehabt;
Rawlings wechselte nicht einfach deshalb ins Lateinische, weil es
ihm solchen Spaß machte oder er mit seiner Gelehrsamkeit angeben
wollte.
»Etwas Merkwürdiges...«, sagte Jamie und übersetzte
langsam, während sich sein Finger über die Seite bewegte. »Ich bin
wach - nein, ich glaube, er meint >ich wurde geweckt< - durch
Geräusche im Nebenzimmer. Ich denke - >ich dachte< -, mein
Patient würde gehen, um Wasser zu lassen, und bin aufgestanden, um
ihm zu folgen... Ich frage mich, warum er das tun sollte.««
»Der Patient - es ist übrigens Hector Cameron -
hatte ein Problem mit seiner Blase. Rawlings wollte ihn
wahrscheinlich beim Urinieren beobachten, um zu sehen, was für
Schwierigkeiten er hatte, ob er Schmerzen hatte oder Blut im Urin,
etwas in der Art.«
Jamie warf mir mit hochgezogener Augenbraue einen
Seitenblick zu, dann wandte er sich kopfschüttelnd wieder dem
Notizbuch zu und murmelte irgendetwas über die merkwürdigen
Vorlieben der Ärzte.
»Homo procediente... der Mann fährt fort...
Warum schreibt er >der Mann<, anstatt ihn bei seinem Namen zu
nennen?«
»Er hat auf Latein geschrieben, um seine Worte
geheim zu halten«, sagte ich. Ich brannte darauf zu erfahren, was
als Nächstes kam. »Wenn Cameron seinen Namen in dem Buch gesehen
hätte, wäre er wohl neugierig geworden. Was ist dann
passiert.«
»Der Mann geht hinaus - meint er ins Freie oder nur
aus seinem Zimmer? - es muss ins Freie heißen... geht ins Freie,
und ich folge ihm. Er geht zielsicher und schnell... Warum auch
nicht? Oh, hier - das verstehe ich nicht. Ich gebe - habe dem Mann
zwölf Gran Laudanum gegeben...«
»Zwölf Gran? Bist du sicher, dass er das
schreibt?« Ich beugte mich über Jamies Schulter und warf einen
Blick auf die Seite, doch ohne Zweifel - er wies auf den Eintrag,
der deutlich in Schwarz auf Weiß verfasst war. »Aber das ist ja
genug Laudanum, um ein Pferd niederzustrecken.«
»Aye, >zwölf Gran Laudanum, um den Schlaf
herbeizuführen<, sagt er. Dann ist es ja kein Wunder, dass der
Doktor erstaunt war, Cameron mitten in der Nacht über den Rasen
huschen zu sehen.«
Ich stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Weiter!««
»Mmpfm. Nun, er sagt, er ist zum Abort gegangen -
weil er wohl dachte, dass er Cameron dort finden würde -, doch es
war niemand da, und es roch nicht nach... äh... er hatte nicht den
Eindruck, dass in jüngster Zeit jemand dort gewesen war.«
»Du brauchst dich meinetwegen nicht zu zieren«,
sagte ich.
»Ich weiß«, sagte er grinsend. »Aber mein
Feingefühl ist trotz meines langen Umgangs mit dir noch nicht so
weit verroht, Sassenach. Au!« Er fuhr zurück und rieb sich den Arm,
weil ich ihn gekniffen hatte. Ich starrte ihn finster an, auch wenn
ich mich innerlich freute, uns beide ein wenig aufgeheitert zu
haben.
»Kein Wort mehr über dein Feingefühl,
bitte«, sagte ich und klopfte mit dem Fuß auf den Boden.
»Außerdem hast du gar keins, sonst hättest du mich nie geheiratet.
Wo hat Cameron denn gesteckt?«
Er überflog die Seite, und seine Lippen formten
schweigend Worte.
»Er weiß es nicht. Er ist im Haus herumgespukt, bis
der Butler die Nase aus seinem Loch gesteckt hat, weil er ihn für
einen Einbrecher hielt, und ihn mit einer Flasche Whisky bedroht
hat.«
»Eine Furcht einflößende Waffe«, merkte ich an und
lächelte bei der Vorstellung, wie Ulysses in seiner Nachtmütze
dieses Mittel der Zerstörung schwang. »Was heißt denn >eine
Flasche Whisky< auf Latein?«
Jamie blickte zur Seite.
»Er sagt aqua vitae, treffender hat er es
wohl nicht hinbekommen. Aber es muss Whisky gewesen sein; er sagt,
der Butler hat ihm ein Gläschen auf den Schrecken gegeben.«
»Also hat er Cameron nicht gefunden?«
»Aye, doch, nachdem er sich von Ulysses
verabschiedet hatte. Er hat in seinem weißen Bett gelegen und
geschnarcht. Am nächsten Morgen hat er nachgefragt, aber Cameron
konnte sich nicht daran erinnern, in der Nacht aufgestanden zu
sein.« Er blätterte mit einem Finger um und sah mich an. »Könnte es
sein, dass das Laudanum sein Erinnerungsvermögen beeinträchtigt
hat?«
»Das ist möglich«, sagte ich stirnrunzelnd. »Sehr
gut sogar. Aber es ist einfach nicht zu glauben, dass jemand, der
so viel Laudanum geschluckt hatte, überhaupt herumgelaufen ist...
es sei denn...«« Ich zog eine Augenbraue hoch und sah ihn an, weil
mir eine Bemerkung einfiel, die Jocasta im Lauf eines Gespräches
auf River Run gemacht hatte. »Ist es möglich, dass dein Onkel
Opiumesser war oder so etwas? Jemand, der gewohnheitsmäßig große
Mengen Laudanum zu sich nimmt, hat eine höhere Toleranzgrenze, und
Rawlings’ Dosis hätte ihn in einem solchen Fall kaum
beeinträchtigt.«
Jamie, der sich grundsätzlich nicht davon
schockieren ließ, wenn jemand seiner Verwandtschaft etwas
Unmoralisches unterstellte, dachte über meine Frage nach,
schüttelte aber schließlich den Kopf.
»Wenn es so gewesen ist, ist es mir nicht zu Ohren
gekommen. Andererseits«, fügte er in aller Logik hinzu, »gibt es
natürlich keinen Grund, warum es mir jemand erzählen sollte.«
Das stimmte allerdings. Wenn Hector Cameron die
Mittel gehabt hatte, sich an importierten Betäubungsmitteln zu
verlustieren - und er hatte sie mit
Sicherheit gehabt, da River Run eine der florierendsten Plantagen
der ganzen Gegend war -, dann war das ganz allein seine Sache
gewesen. Dennoch war ich überzeugt, dass irgendjemand es erwähnt
hätte.
Jamies Gedankengänge nahmen eine andere
Richtung.
»Warum sollte ein Mann mitten in der Nacht aus dem
Haus gehen, um zu pinkeln, Sassenach?«, fragte er. »Ich
weiß, dass Hector Cameron einen Nachttopf hatte; ich habe
ihn selbst schon benutzt. Sein Name und das Cameronwappen waren auf
den Boden gemalt.«
»Eine exzellente Frage.« Ich starrte auf die Seite
mit dem kryptischen Gekritzel. »Wenn Hector Cameron große Schmerzen
oder Schwierigkeiten hatte - zum Beispiel durch einen Nierenstein
-, könnte es doch sein, dass er nach draußen gegangen ist, um das
Haus nicht zu wecken.«
»Mir ist zwar nichts davon zu Ohren gekommen, dass
mein Onkel Opiumesser war, aber davon, dass er große Rücksicht auf
seine Frau oder seine Dienstboten genommen hat, weiß ich auch
nichts«, merkte Jamie ausgesprochen zynisch an. »Nach allem, was
man hört, war Hector Cameron ein Erzschurke.«
Ich lachte.
»Das ist bestimmt auch der Grund, warum deine Tante
Duncan so schätzt.«
Adso kam mit den Überresten der Libelle im Maul
herein spaziert und setzte sich zu meinen Füßen nieder, so dass ich
seine Beute bewundern konnte.
»Fein«, sagte ich und tätschelte ihn beiläufig.
»Iss aber nicht zu viel davon; in der Vorratskammer sind noch jede
Menge Küchenschaben, um die du dich kümmern sollst.«
»Ecce homo«, murmelte Jamie nachdenklich und
tippte mit dem Finger auf das Notizbuch. »Meinst du, der
homo war vielleicht Franzose?«
»Was?« Ich starrte ihn an.
»Bist du noch nicht auf den Gedanken gekommen,
Sassenach, dass der Mann, dem der Doktor gefolgt ist, vielleicht
gar nicht Cameron war?«
»Bis jetzt nicht, nein.« Ich beugte mich vor und
blinzelte auf die Buchseite. »Aber warum sollte es jemand anders
gewesen sein, geschweige denn, ein Franzose?«
Jamie wies mit dem Finger auf den Rand der Seite,
der ein paar kleine Zeichnungen trug; Schnörkel, hatte ich gedacht.
Die Zeichnung unter seinem Finger war eine Lilie.
»Ecce homo«, sagte er erneut und tippte
darauf. »Der Doktor war sich nicht sicher, wer der Mann war, dem er
gefolgt ist - deshalb hat er ihn nicht beim Namen genannt. Wenn
Cameron betäubt war, war es jemand anders, der in jener Nacht das
Haus verlassen hat - und doch erwähnt er keine anderen
Anwesenden.«
»Das ist gut möglich, es sei denn, er hätte die
betreffende Person untersucht«,
wandte ich ein. »Er fügt zwar persönliche Beobachtungen ein, doch
das meiste in diesem Buch sind nur seine Fallhistorien; seine
Beobachtungen über seine Patienten und die Behandlungen, die er
angewandt hat. Aber trotzdem...« Ich blickte stirnrunzelnd auf die
Seite. »Eine an den Rand gekritzelte Lilie muss nicht unbedingt
etwas zu bedeuten haben, schon gar nicht, dass ein Franzose dort
war.« Abgesehen von Fergus gab es kaum Franzosen in North Carolina.
Ich wusste von einer Reihe französischer Siedlungen südlich von
Savannah - aber das war Hunderte von Meilen entfernt.
Die Lilie konnte gar nichts anderes als ein
dahin gemalter Schnörkel sein - und doch konnte ich mich nicht
entsinnen, dass Rawlings an irgendeiner anderen Stelle des Buches
solche Zeichnungen gemacht hatte. Wenn er Zeichnungen angefügt
hatte, waren sie akkurat und zweckdienlich, als Gedächtnisstütze
für ihn selbst oder als Anleitung für einen Arzt, der
möglicherweise einmal in seine Fußstapfen trat.
Über der Lilie befand sich eine Zeichnung, die
aussah wie ein Dreieck mit einem kleinen Kreis am Scheitelpunkt und
einer gerundeten Basis; darunter stand eine Abfolge von Buchstaben.
Au et Aq.
»A... u«, sagte ich langsam, während ich sie
betrachtete. »Aurum.«
»Gold?« Jamie sah überrascht zu mir auf. Ich
nickte.
»Ja, es ist die wissenschaftliche Abkürzung für
Gold. >Aurum et aqua.< Ich vermute, er meint Goldwasser,
Goldspäne in einer wässrigen Lösung. Es ist ein Heilmittel für
Arthritis - seltsamerweise funktioniert es oft, auch wenn niemand
weiß, warum.«
»Teuer«, merkte Jamie an. »Obwohl Cameron es sich
sicher erlauben konnte - vielleicht hatte er ein oder zwei Unzen
von seinem Goldbarren zurückbehalten, was?«
»Er hat gesagt, dass Cameron Arthritis hatte.« Ich
betrachtete stirnrunzelnd die Seite und ihre kryptischen
Randbemerkungen. »Vielleicht hatte er vor, ihm Goldwasser zu
empfehlen. Aber ich habe keine Ahnung, was die Lilie oder dieses
andere Ding zu bedeuten haben -« Ich zeigte mit dem Finger darauf.
»Wenn es ein Symbol für eine medizinische Behandlung ist, so ist es
mir nicht bekannt.«
Zu meiner Überraschung lachte Jamie.
»Das kann ich mir vorstellen, Sassenach. Es ist ein
Freimaurerkompass.«
»Wirklich?« Ich kniff die Augen zu, dann sah ich
Jamie an. »War Cameron denn Freimaurer?«
Er zuckte mit den Achseln und fuhr sich mit der
Hand durch das Haar. Jamie sprach niemals von seiner Verbindung zu
den Freimaurern. Er war in Ardsmuir zum Freimaurer geworden, und
ganz abgesehen davon, dass diese Gesellschaft ihren Mitgliedern
Geheimhaltung auferlegte, sprach er kaum je von den Dingen, die
sich dort zwischen den feuchten Steinmauern abgespielt
hatten.
»Rawlings muss auch einer gewesen sein«, sagte er.
Es war ihm deutlich
anzusehen, dass es ihm widerstrebte, über die Freimaurerei zu
sprechen, dass es ihn jedoch drängte, seine logischen Schlüsse zu
ziehen. »Sonst hätte er nicht gewusst, was das ist.« Er tippte mit
seinem langen Finger auf den Kompass.
Ich wusste nicht genau, was ich als Nächstes sagen
sollte, wurde jedoch in meiner Unentschlossenheit von Adso
gerettet, der ein Paar bernsteinfarbener Flügel ausspuckte und auf
der Suche nach weiteren Appetithäppchen auf den Schreibtisch
sprang. Jamie griff mit einer Hand nach dem Tintengefäß und hielt
die andere schützend über seinen neuen Federkiel. Seiner Beute
beraubt, schlenderte Adso zur Tischkante und setzte sich auf Jamies
Briefstapel. Adsos Schwanz wedelte sanft, während er vorgab, die
Aussicht zu bewundern.
Jamie kniff angesichts dieser Unverschämtheit die
Augen zusammen. »Nimm deinen pelzigen Hintern von meiner
Korrespondenz, du kleines Biest«, sagte er und stach mit der Spitze
seines Federkiels nach Adso. Adso riss seine großen, grünen Augen
weit auf, heftete sie gebannt auf das Ende der wedelnden Feder, und
seine Schulterblätter spannten sich erwartungsvoll an. Jamie
wackelte verlockend mit dem Federkiel, und Adso hieb vergeblich mit
der Tatze danach.
Ich griff hastig nach der Katze, bevor ein Unglück
geschehen konnte, und hob sie mit einem überraschten und
entrüsteten Protestgeräusch von den Papieren.
»Nein, das ist sein Spielzeug«, sagte ich
mit einem tadelnden Blick auf Jamie zu dem Kater. »Komm mit; die
Küchenschaben warten.«
Ich griff mit der freien Hand nach dem Notizbuch,
doch zu meiner Überraschung gebot Jamie mir Einhalt.
»Lass es mich noch ein wenig behalten, Sassenach«,
sagte er. »Der Gedanke, dass ein französischer Freimaurer des
Nachts in River Run herumspaziert, ist wirklich sehr merkwürdig.
Ich würde gern sehen, was Dr. Rawlings sonst noch zu sagen hat,
wenn er ins Lateinische verfällt.«
»Nun gut.« Ich hob mir Adso, der in freudiger
Erwartung der Küchenschaben laut zu schnurren begonnen hatte, auf
die Schulter und blickte aus dem Fenster. Die Sonne war hinter den
Kastanien zu einem brennenden Glühen versunken, und ich konnte
Frauen- und Kinderstimmen aus der Küche hören. Mrs. Bug begann
gerade, den Tisch zu decken, und Brianna und Marsali halfen ihr
dabei.
»Gleich gibt es Abendessen«, sagte ich und beugte
mich nieder, um Jamie auf den Scheitel zu küssen, der vom letzten
Sonnenlicht in Feuer getaucht wurde. Er hob lächelnd den Finger an
die Lippen und dann zu mir, doch als ich die Tür erreichte, hatte
er sich schon wieder über die dicht beschriebenen Seiten gebeugt.
Das einzelne Blatt mit den drei schwarzen Worten lag am Rand des
Schreibtischs, vergessen - für den Augenblick.