78
Keine Kleinigkeit
Brianna war ins Herrenhaus gekommen, um sich ein Buch auszuleihen. Sie ließ Jemmy bei Mrs. Bug in der Küche und ging durch den Flur zum Studierzimmer ihres Vaters. Er war nicht da, das Zimmer leer, wenn es auch schwach nach ihm roch - ein undefinierbarer, männlicher Geruch, der sich aus Leder, Sägemehl, Schweiß, Whisky, Dung... und Tinte zusammensetzte.
Sie rieb sich mit dem Finger unter der Nase entlang. Ihre Nasenlöcher zuckten, und sie musste lächeln. Roger roch auch nach diesen Dingen - und doch hatte er darunter seinen eigenen Geruch. Was war es nur?, fragte sie sich. Seine Hände hatten immer schwach nach Firnis und Metall gerochen, als er noch eine Gitarre hatte. Doch das war lange her und weit fort.
Sie schob diesen Gedanken beiseite und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Bücher im Regal. Fergus hatte von seinem letzten Ausflug nach Wilmington drei neue Bücher mitgebracht: eine Essaysammlung von Michel de Montaigne - auf Französisch, also nichts für sie -, ein abgenutztes Exemplar von Daniel Defoes Moll Flanders und eine ganz dünne, in Papier gebundene Abhandlung von B. Franklin, The Means and Manner of Obtaining Virtue.
Keine Konkurrenz, dachte sie und zog Moll Flanders hervor. Das Buch hatte schon harte Zeiten hinter sich; der Buchrücken war durchgebrochen, und die Seiten waren lose. Sie hoffte, dass sie vollzählig waren; nichts, was schlimmer war, als eine interessante Stelle in der Geschichte zu erreichen und festzustellen, dass die nächsten zwanzig Seiten fehlten. Sie blätterte es vorsichtig durch, um nachzusehen, doch es schienen alle Seiten da zu sein, wenn auch dann und wann ein Blatt zerknittert oder mit Essen befleckt war. Das Buch roch sehr merkwürdig, als hätte es jemand in Talg getaucht.
Ein plötzliches Scheppern im Sprechzimmer ihrer Mutter riss sie aus ihrer Betrachtung der Bücher. Sie sah sich instinktiv nach Jemmy um - doch natürlich war er nicht hier. Sie schob das Buch hastig wieder an seinen Platz und lief aus dem Studierzimmer - um im Flur auf ihre Mutter zu treffen, die aus der Küche geeilt kam.
Sie schlug ihre Mutter im Wettrennen zur Sprechzimmertür um eine Sekunde.
»Jemmy!«
Die Tür des hohen Schrankes stand offen, und es roch kräftig nach Honig. Eine zerbrochene Keramikflasche lag in einer klebrigen, goldenen Pfütze am Boden, und Jemmy saß in ihrer Mitte. Er war über und über mit Honig beschmiert, seine blauen Augen waren kreisrund, und sein Mund stand schuldbewusst und erschrocken offen.
Das Blut stieg ihr ins Gesicht. Ohne darauf zu achten, dass er überall klebte, packte sie ihn am Arm und stellte ihn hin.
»Jeremiah Alexander MacKenzie«, sagte Brianna in finsterem Ton, »du bist ein böser Junge!« Sie suchte ihn hastig nach Blut oder Verletzungen ab, fand nichts und versetzte ihm einen so festen Klaps auf den Hintern, dass ihre Handfläche brannte.
Bei dem resultierenden Geschrei bekam sie sofort ein schlechtes Gewissen. Dann sah sie den Rest der Verwüstungen und unterdrückte den Impuls, ihn noch einmal zu schlagen.
»Jeremiah!«
Rosmarin, Schafgarbe und Thymian waren büschelweise aus dem Trockenregal gezogen und zerrissen worden. Einer der Gazeböden des Regals war losgerissen; der Stoff hing in Fetzen. Flaschen und Gläser aus den Schränken lagen umgestürzt da oder rollten herum; aus einigen waren die Korken herausgefallen, so dass sich vielfarbige Pülverchen und Flüssigkeiten über den Boden ergossen. Ein großer Leinenbeutel mit gemahlenem Salz war geplündert, die Kristalle mit vollen Händen verstreut worden.
Das Schlimmste war, dass das Amulett ihrer Mutter auf dem Boden lag; der kleine Lederbeutel war aufgerissen, flach und leer. Getrocknete Pflanzenteile, ein paar kleine Knochen und andere Reste lagen ringsum verstreut.
»Mama - es tut mir so Leid. Ich habe nicht aufgepasst - ich hätte ihn besser im Auge behalten -« Sie musste ihre Entschuldigung beinahe brüllen, um sich bei Jemmys Geschrei Gehör zu verschaffen.
Claire, die bei dem Lärm zusammenzuckte, sah sich in ihrem Sprechzimmer um und machte eine flüchtige Bestandsaufnahme. Dann hielt sie inne und hob Jemmy auf, ohne sich an dem Honig zu stören.
»Schhh«, sagte sie und legte ihm sacht die Hand auf den Mund. Da dies keine Wirkung zeigte, klopfte sie leicht mit der Hand auf die klaffende Öffnung und erzeugte damit ein »Wa-wa-wa-wa«-Geräusch, woraufhin Jemmy sein Gebrüll abrupt beendete. Er steckte seinen Daumen in den Mund, lutschte laut schniefend daran und presste seine beschmierte Wange an Claires Schulter.
»Nun, sie können nun einmal ihre Finger nicht bei sich behalten«, sagte sie zu Brianna, und ihre Miene war eher belustigt als aufgeregt. »Keine Sorge, Schatz, es ist nur ein harmloses Durcheinander. Gott sei Dank ist er nicht an die Messer gekommen, und die Gifte bewahre ich auch ganz oben auf.«
Brianna spürte, wie sich ihr Herzschlag allmählich verlangsamte. Ihre Hand fühlte sich heiß an, und das Blut pulsierte darin.
»Aber dein Amulett...« Sie zeigte mit dem Finger darauf und sah, wie ein Schatten über das Gesicht ihrer Mutter huschte, als sie die Bescherung sah.
»Oh.« Claire holte tief Luft, klopfte Jemmy auf den Rücken und setzte ihn ab. Sie bohrte ihre Zähne in ihre Unterlippe, bückte sich und hob den schlaffen Beutel mit den verklebten Federn zaghaft auf.
»Es tut mir so Leid«, wiederholte Brianna hilflos.
Sie konnte sehen, welche Mühe es Claire kostete, doch ihre Mutter tat ihre Entschuldigung mit einer kleinen Geste ab, bevor sie sich dann hinhockte, um die Einzelteile vom Boden aufzulesen. Sie hatte ihr lockiges Haar nicht zusammengebunden, und es fiel nach vorn und verbarg ihr Gesicht.
»Ich habe mich immer schon gefragt, was in diesem Beutel war«, sagte Claire. Sie begann behutsam, die winzigen Knochen aufzulesen und sie in ihrer Handfläche zu sammeln. »Was meinst du wohl, woher das hier stammt-von einer Spitzmaus?«
»Ich weiß es nicht.« Brianna, die Jemmy argwöhnisch im Auge behielt, ging in die Hocke und machte sich daran, die Kleinteile aufzulesen. »Ich dachte, sie sind vielleicht von einer Fledermaus.«
Ihre Mutter blickte überrascht zu ihr auf. »Was für ein Schlauberger du bist - sieh mal.« Sie las ein kleines, papiernes, braunes Objekt vom Boden auf und hielt es Brianna hin. Als sie sich darüber beugte, um es näher zu betrachten, konnte Brianna sehen, dass der Gegenstand, der wie ein verschrumpeltes, getrocknetes Blatt aussah, tatsächlich Teil eines winzigen Fledermausflügels war, dessen zerbrechliches Leder so trocken war, dass es durchscheinend geworden war, und von einem nadeldünnen Knochen durchzogen war, der an die zentrale Rippe eines Blattes erinnerte.
»Aug’ vom Lurch und Zeh vom Frosch, Fledermauswolle und Hundezung«, zitierte Claire. Sie streute die Hand voll Knochen auf die Arbeitsfläche und betrachtete sie fasziniert. »Ich frage mich, was sie damit gemeint hat?«
»Sie?«
»Nayawenne - die Frau, von der ich den Beutel habe.« Claire hockte sich auf den Boden und fegte die zerkrümelten Blattstückchen -zumindest hoffte Brianna, dass es wirklich Blätter waren - in ihre Hand und roch daran. Es hingen so viele Gerüche im Sprechzimmer, dass sie selbst nur noch die überwältigende Süße des Honigs wahrnahm, doch der empfindlichen Nase ihrer Mutter bereitete es offenbar keine Schwierigkeiten, einzelne Düfte auszumachen.
»Lorbeer, Balsamfichte, wilder Ingwer und Wasserpfeffer«, sagte sie und schnüffelte wie ein Trüffelhund. »Und etwas Salbei, glaube ich.« Ihre Mutter schüttete die getrockneten Pflanzenteile zu den Knochen auf den Tisch.
Jemmy, der ihren Tadel bereits vergessen hatte, hatte eine chirurgische Klemme in den Fingern und drehte sie hin und her, offenbar um herauszubekommen, ob sie essbar war. Brianna dachte daran, sie ihm wegzunehmen, doch da ihre Mutter ihre Metallinstrumente immer in kochendem Wasser sterilisierte, beschloss sie, dass er sie vorerst behalten konnte, da sie keine scharfen Kanten hatte.
Sie ließ ihn bei Claire und ging in die Küche, um heißes Wasser und ein paar Tücher zur Beseitigung des Honigs zu holen. Mrs. Bug war dort, doch sie war fest eingeschlafen und saß sanft schnarchend auf der Kaminbank, die Hände auf ihrem runden Bauch gefaltet, und ihre Haube war ihr gemütlich über das Ohr gerutscht.
Sie entfernte sich auf Zehenspitzen, und als sie mit dem Wassereimer und einem Berg Tücher zurückkehrte, waren die Trümmer schon zum Großteil zusammengefegt, und ihre Mutter kroch auf Händen und Knien durch das Zimmer und lugte unter die Möbel.
»Hast du etwas verloren?« Sie warf einen Blick auf den unteren Regalboden im Schrank, hatte aber nicht das Gefühl, dass außer dem Honiggefäß etwas fehlte. Die anderen Flaschen standen wieder ordentlich zugekorkt auf ihren Plätzen, und alles sah aus wie sonst auch.
»Ja.« Claire bückte sich noch tiefer und runzelte die Stirn, während sie unter den Schrank lugte. »Einen Stein. Ungefähr so groß -«, sie formte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis, der ungefähr den Durchmesser einer kleinen Münze hatte, »und blaugrau. An manchen Stellen durchsichtig. Es ist ein Rohsaphir.«
»War er im Schrank? Vielleicht hat Mrs. Bug ihn weggeräumt.«
Claire setzte sich auf die Fersen zurück und schüttelte den Kopf.
»Nein, sie rührt hier nichts an. Außerdem war er nicht im Schrank - er war hier drin.« Sie wies auf den Tisch, wo der leere Amulettbeutel neben den Knochen und den Pflanzenstückchen lag.
Eine schnelle Durchsuchung des Sprechzimmers - und dann eine langsamere - förderte keine Spur des Steins zutage.
»Weißt du«, sagte Claire und fuhr sich mit der Hand durch das Haar, während sie Jemmy nachdenklich ansah. »Ich sage das ja nur ungern, aber meinst du...?«
»Schei... ich meine, o je«, sagte Brianna, und ihre Besorgnis verwandelte sich in Alarmiertheit. Sie bückte sich, um einen Blick auf Jemmy zu werfen, der sie selbstzufrieden ignorierte und sich ganz darauf konzentrierte, die Klemme in sein linkes Nasenloch einzuführen. Er hatte getrocknete Pflanzenstückchen in dem Honig um seinen Mund kleben, aber es war doch sicher nur Rosmarin oder Thymian...
Durch ihre aufdringlichen Blicke verärgert, versuchte er, mit der Klemme nach ihr zu schlagen, doch sie umklammerte eisern sein Handgelenk und entrang ihm mit der anderen Hand die Klemme.
»Du darfst Mami nicht schlagen«, sagte sie mechanisch, »das ist nicht schön. Jemmy, hast du Omas Stein verschluckt?«
»Nein«, sagte er genauso mechanisch und grabschte nach der Klemme. »Meins!«
Sie roch an seinem Gesicht, worauf er sich gefährlich zurücklehnte, doch sie war sich nicht sicher. Sie glaubte aber nicht, dass es Rosmarin war.
»Komm her und riech an ihm«, sagte sie zu ihrer Mutter und stand auf. »Ich kann es nicht sagen.«
Claire beugte sich über ihn, und Jemmy kreischte entzückt kichernd auf, weil er glaubte, dass sie mit ihm spielen wollte. Er wurde allerdings enttäuscht; seine Großmutter atmete einfach nur tief ein, sagte entschieden »wilder Ingwer«, dann beugte sie sich vor, um ihn genauer zu mustern, und ergriff ein feuchtes Tuch, um trotz des zunehmenden Protestgeheuls den verschmierten Honig wegzuwischen.
»Schau.« Claire deutete auf die weiche Haut rings um seinen Mund. Jetzt, da sie frisch gesäubert war, konnte Brianna sie deutlich sehen - zwei oder drei winzige Bläschen, die wie Samenkörnchen aussahen.
»Jeremiah«, sagte sie streng und versuchte, ihm ins Auge zu blicken. »Sag es Mama. Hast du Omas Stein gegessen?«
Jeremiah vermied es, sie anzusehen. Er wich zappelnd zurück und hielt beide Hände schützend hinter sich.
»Nicht hauen«, sagte er. »Nicht schön.«
»Ich schlage dich nicht«, versicherte sie ihm und ergriff seinen Fuß, bevor er entwischen konnte. »Ich will es nur wissen. Hast du einen Stein verschluckt, der ungefähr so groß war?« Sie hielt Daumen und Zeigefinger hoch. Jemmy kicherte.
»Heiß«, sagte er. Das war sein neues Lieblingswort, und er benutzte es unterschiedslos für alles, was er mochte.
Brianna schloss die Augen, seufzte entnervt, dann öffnete sie sie wieder und sah ihre Mutter an.
»Ich fürchte, ja. Wird es ihm weh tun?«
»Ich denke, nicht.« Claire betrachtete ihren Enkelsohn nachdenklich und tippte mit einem Finger an ihre Lippen. Dann durchquerte sie das Zimmer, öffnete einen der hohen Schränke und brachte eine große, braune Glasflasche zum Vorschein.
»Rizinusöl«, erklärte sie und kramte in einer Schublade nach einem Löffel. »Nicht ganz so wohlschmeckend wie Honig«, fügte sie hinzu und fixierte Jemmy mit einem bohrenden Blick, »aber sehr wirksam.«
 
Rizinusöl mochte ja wirksam sein, aber es brauchte seine Zeit. Brianna und Claire ließen Jemmy, den sie nach Verabreichung des Öls mit seinem Korb mit Holzklötzen zum Spielen auf den Boden gesetzt hatten, nicht aus den Augen, während sie die Wartezeit nutzten, um das Sprechzimmer aufzuräumen und sich dann der friedlichen, aber zeitaufwändigen Aufgabe der Arzneizubereitung zuwandten. Es war schon länger her, dass Claire zuletzt Zeit dazu gehabt hatte, und es hatte sich eine überwältigende Menge an Blättern, Wurzeln und Samen angesammelt, die zerhackt, zerrieben, zerstampft, in Wasser gekocht, in Öl eingeweicht, mit Alkohol extrahiert, durch Gaze gefiltert, in geschmolzenes Bienenwachs oder Bärenfett eingerührt, mit Puder vermischt oder zu Pillen gerollt werden mussten, bevor sie zur Aufbewahrung in Gläsern, Flaschen oder Beuteln verstaut wurden.
Es war ein angenehm warmer Tag, und sie ließen die Fenster offen, um den Luftzug hereinzulassen, auch wenn das bedeutete, dass sie fortwährend Fliegen und Mücken vertreiben mussten und dann und wann eine übereifrige Hummel aus einer blubbernden Flüssigkeit fischen mussten.
»Vorsichtig, Schätzchen!« Brianna streckte hastig die Hand aus, um eine Honigbiene fortzuwischen, die auf einem von Jemmys Klötzen gelandet war, bevor Jemmy danach greifen konnte. »Böse Fliege. Autsch!«
»Sie riechen ihren Honig«, sagte Claire, die gerade eine andere Biene vertrieb. »Am besten gebe ich ihnen etwas davon zurück.« Sie stellte ein Schälchen mit Honigwasser auf die Fensterbank, und innerhalb von Sekunden war der Rand dicht von gierig trinkenden Bienen umschwärmt.
»Ganz schön zielsicher, nicht wahr?«, merkte Brianna an, während sie ein Schweißrinnsal zwischen ihren Brüsten betupfte.
»Nun, mit Zielsicherheit kommt man ziemlich weit«, murmelte Claire geistesabwesend und runzelte leicht die Stirn, während sie eine Lösung umrührte, die sich über einer Alkohollampe erwärmte. »Findest du, das sieht fertig aus?«
»Das weißt du doch besser als ich.« Dennoch beugte sie sich gehorsam darüber und roch daran. »Ich glaube schon; es riecht ziemlich kräftig.«
Claire tauchte rasch ihren Finger in die Schale und probierte die Flüssigkeit.
»Mm, ja, ich glaube schon.« Sie nahm die Schale von der Flamme und goss die dunkle, grünliche Flüssigkeit durch einen Gazefilter in eine Flasche. Auf der Arbeitsplatte standen schon mehrere andere Glasflaschen aufgereiht, und das Sonnenlicht, das ihren Inhalt durchleuchtete, verlieh ihnen das Aussehen roter, grüner und gelber Juwelen.
»Hast du immer schon gewusst, dass es dir bestimmt war, Ärztin zu werden?«, fragte Brianna neugierig. Ihre Mutter schüttelte den Kopf und zerhackte mit einem scharfen Messer gekonnt eine Hand voll Hartriegelrinde.
»Als ich klein war, wäre ich nie auf die Idee gekommen. An so etwas hat man damals als Mädchen natürlich kaum gedacht. Als ich groß wurde, bin ich davon ausgegangen, dass ich heiraten, Kinder bekommen und einen Haushalt führen würde... Findest du, dass Lizzie gut aussieht? Ich hatte gestern Abend das Gefühl, dass sie ein bisschen gelblich aussah, aber das kann auch nur am Kerzenlicht gelegen haben.«
»Ich glaube nicht, dass sie etwas hat. Meinst du, sie ist wirklich in Manfred verliebt?« Sie hatten gestern Abend Lizzies Verlobung mit Manfred McGillivray gefeiert, und die ganze McGillivray-Sippe war zu einem üppigen Abendessen angereist. Mrs. Bug, die Lizzie sehr ins Herz geschlossen hatte, hatte ihr Bestes gegeben; kein Wunder, dass sie heute schlief.
»Nein«, sagte Claire unverblümt. »Aber solange sie sich nicht in einen anderen verliebt, ist wohl nichts dabei. Er ist ein lieber Junge und sieht gut aus. Und Lizzie mag seine Mutter, was unter den Umständen auch nicht unwichtig ist.« Sie lächelte bei dem Gedanken an Ute McGillivray, die Lizzie auf der Stelle unter ihre ausladenden, mütterlichen Flügel genommen hatte, ihr die köstlichsten Bissen herausgepickt hatte und sie ihr unverdrossen in den Hals gestopft hatte wie ein Rotkehlchen, das ein schwächliches Küken fütterte.
»Ich habe das Gefühl, dass sie Ute McGillivray lieber hat als Manfred. Sie war noch ziemlich klein, als ihre Mutter gestorben ist; es ist schön für sie, sozusagen wieder eine zu haben.« Brianna musterte ihre Mutter aus dem Augenwinkel heraus. Sie konnte sich nur zu gut daran erinnern, wie es war, keine Mutter mehr zu haben - und an die schiere Glückseligkeit, wieder bemuttert zu werden. Sie warf automatisch einen Blick auf Jemmy, der in eine lebhafte, wenn auch größtenteils unverständliche Unterhaltung mit Adso, dem Kater, vertieft war.
Claire nickte und rieb die gehackte Rinde zwischen ihren Händen in ein kleines, rundes Glas mit Alkohol.
»Ja. Aber ich bin trotzdem froh, dass sie noch etwas warten - Lizzie und Manfred, meine ich - und sich erst aneinander gewöhnen.« Man war überein gekommen, dass die Hochzeit im nächsten Sommer stattfinden würde, wenn Manfred sein Geschäft in Woolam’s Creek fertig eingerichtet hatte. »Ich hoffe, das wirkt.«
»Was?«
»Die Hartriegelrinde.« Claire verkorkte das Gefäß und stellte es in den Schrank. »In Dr. Rawlings’ Notizbuch steht, dass man sie als Ersatz für Chinarinde benutzen kann - Chinin, du weißt schon. Und sie ist eindeutig leichter zu beschaffen, ganz zu schweigen davon, dass sie billiger ist.«
»Toll - ich hoffe sehr, dass sie wirkt.« Lizzies Malaria hatte sich seit mehreren Monaten nicht mehr gemeldet - doch die Gefahr eines Rückfalls bestand immer, und Chinarinde war furchtbar teuer.
Ihr vorheriges Gesprächthema ging Brianna nicht aus dem Sinn, und sie nahm es wieder auf, während sie jetzt ihren Mörser mit einer frischen Hand voll Salbeiblätter füllte, deren Poren sie sorgfältig öffnete, bevor sie sie ziehen ließ.
»Du hast gesagt, als du klein warst, hattest du nicht vor, Ärztin zu werden. Aber später scheinst du es doch sehr zielstrebig angegangen zu sein.« Sie konnte sich bruchstückhaft, aber lebhaft an Claires medizinische Ausbildung erinnern; sie konnte immer noch die Krankenhausgerüche riechen, die sich in den Kleidern und Haaren ihrer Mutter verfangen hatten, und die sanfte, kühle Berührung der grünen Kittel spüren, die ihre Mutter manchmal trug, wenn sie spät von der Arbeit heim kam und ihr einen Gutenachtkuss gab.
Claire antwortete nicht sofort, sondern konzentrierte sich auf die getrockneten Maisfäden, die sie reinigte, indem sie verrottete Stellen herausriss und sie aus dem offenen Fenster warf.
»Nun«, sagte sie schließlich, ohne die Augen von ihrer Arbeit abzuwenden. »Menschen - und das gilt ganz und gar nicht nur für Frauen - Menschen, die wissen, wer sie sind und wozu sie da sind... sie finden einen Weg. Dein Vater - Frank, meine ich -« Sie hob die gereinigten Seidenfäden auf und legte sie in einen kleinen, geflochtenen Korb. Dabei verstreute sie winzige Fragmente auf der ganzen Arbeitsfläche. »Er war ein sehr guter Historiker. Er hatte Spaß an dem Thema, und er besaß die Gaben der Disziplin und der Konzentration, die ihm zum Erfolg verholfen haben, aber es war keine echte - keine Berufung für ihn. Er hat es mir selbst gesagt - er hätte genauso gut einen anderen Beruf ausüben können, und es hätte ihm nicht viel ausgemacht. Doch manchen Menschen bedeutet eine Sache alles. Und wenn das so ist... nun, die Medizin hat mir viel bedeutet. Anfangs wusste ich das nicht, aber dann ist mir klar geworden, dass es einfach meine Bestimmung war. Und als ich das einmal wusste...« Sie zuckte mit den Achseln, schüttelte ihre Hände aus und bedeckte den Korb mit einem Stück Leinen, das sie mit Zwirn festband.
»Ja, aber... man kann nicht immer das tun, wozu man bestimmt ist, oder?«, sagte sie und dachte an die schartige Narbe an Rogers Hals.
»Nun ja, manchmal zwingt einem das Leben natürlich gewisse Dinge auf«, murmelte ihre Mutter. Sie blickte auf und sah Brianna in die Augen, und ihr Mund verzog sich zu einem kleinen, ironischen Lächeln. »Und was den Durchschnittsmenschen angeht - er führt so oft einfach das Leben, das er vorfindet. Marsali zum Beispiel. Ich glaube nicht, dass es ihr je in den Sinn gekommen ist, etwas anderes zu tun als das, was sie tut. Ihre Mutter hat einen Haushalt geführt und Kinder aufgezogen; sie sieht keinen Grund, es anders zu machen. Und doch -« Claire zuckte mit einer Schulter und streckte die Hand nach dem anderen Mörser aus. »Sie hatte eine große Leidenschaft-für Fergus. Und das hat ausgereicht, um sie aus dem Sumpf zu reißen, der ihr Leben gewesen wäre -«
»Und in ein anderes hinein, das genauso ist?«
Claire senkte den Kopf zu einem halben Nicken, ohne aufzublicken.
»Das genauso ist - nur, dass sie in Amerika ist, nicht in Schottland. Und dass sie Fergus hat.«
»So wie du Jamie hast?« Brianna benutzte seinen Vornamen nur selten, und Claire blickte überrascht auf.
»Ja«, sagte sie. »Jamie ist ein Teil von mir. Genau wie du.« Sie berührte Briannas Gesicht, rasch und sacht, dann wandte sie sich halb zur Seite, um der Kräutersammlung, die über dem Kamin an einem Balken hing, ein Bündel Majoran zu entnehmen. »Aber keiner von euch macht mich ganz aus«, sagte sie leise mit dem Rücken zu Brianna. »Ich bin... was ich bin. Ärztin, Krankenschwester, Heilerin, Hexe-ganz gleich, wie die Leute es nennen, die Bezeichnung spielt keine Rolle. Ich bin dazu geboren; ich werde es sein, bis ich sterbe. Wenn ich dich verlöre - oder Jamie - wäre ich kein vollständiger Mensch mehr, aber das bliebe mir immer noch. Eine kurze Zeit lang«, fuhr sie so leise fort, dass Brianna sich anstrengen musste, um sie zu hören, »nachdem ich... zurückgegangen war... bevor du gekommen bist... war es alles, was ich hatte. Nur dieses Wissen.«
Claire krümelte den getrockneten Majoran in den Mörser und ergriff den Stößel, um ihn zu zerkleinern. Draußen erklang das Geräusch trampelnder Stiefel, dann Jamies Stimme, eine freundliche Bemerkung zu einem Huhn, das seinen Weg kreuzte.
War es nicht genug für sie, Roger zu lieben, Jemmy zu lieben? Eigentlich hätte es so sein sollen. Sie verspürte ein schreckliches, dumpfes Gefühl, dass es vielleicht nicht so war, und redete schnell, bevor der Gedanke sich in Worte fasste.
»Was ist mit Pa?«
»Was ist mit ihm?«
»Ist er - meinst du, er gehört zu denen, die wissen, was sie sind?«
Claire hielt die Hände still, und der klirrende Stößel verstummte.
»O ja«, sagte sie. »Er weiß es.«
»Ein Gutsherr? Würdest du es so nennen? Ich weiß, dass er in Schottland einer war.«
Ihre Mutter zögerte und überlegte.
»Nein«, sagte sie schließlich. Sie ergriff den Stößel und begann wieder zu stampfen. Der Duft des getrockneten Majorans erfüllte das Zimmer wie Weihrauch. »Er ist ein Mann«, sagte sie, »und das ist keine Kleinigkeit.«
Das Flammende Kreuz
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