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Keine Kleinigkeit
Brianna war ins Herrenhaus gekommen, um sich ein
Buch auszuleihen. Sie ließ Jemmy bei Mrs. Bug in der Küche und ging
durch den Flur zum Studierzimmer ihres Vaters. Er war nicht da, das
Zimmer leer, wenn es auch schwach nach ihm roch - ein
undefinierbarer, männlicher Geruch, der sich aus Leder, Sägemehl,
Schweiß, Whisky, Dung... und Tinte zusammensetzte.
Sie rieb sich mit dem Finger unter der Nase
entlang. Ihre Nasenlöcher zuckten, und sie musste lächeln. Roger
roch auch nach diesen Dingen - und
doch hatte er darunter seinen eigenen Geruch. Was war es nur?,
fragte sie sich. Seine Hände hatten immer schwach nach Firnis und
Metall gerochen, als er noch eine Gitarre hatte. Doch das war lange
her und weit fort.
Sie schob diesen Gedanken beiseite und richtete
ihre Aufmerksamkeit auf die Bücher im Regal. Fergus hatte von
seinem letzten Ausflug nach Wilmington drei neue Bücher
mitgebracht: eine Essaysammlung von Michel de Montaigne - auf
Französisch, also nichts für sie -, ein abgenutztes Exemplar von
Daniel Defoes Moll Flanders und eine ganz dünne, in Papier
gebundene Abhandlung von B. Franklin, The Means and Manner of
Obtaining Virtue.
Keine Konkurrenz, dachte sie und zog Moll
Flanders hervor. Das Buch hatte schon harte Zeiten hinter sich;
der Buchrücken war durchgebrochen, und die Seiten waren lose. Sie
hoffte, dass sie vollzählig waren; nichts, was schlimmer war, als
eine interessante Stelle in der Geschichte zu erreichen und
festzustellen, dass die nächsten zwanzig Seiten fehlten. Sie
blätterte es vorsichtig durch, um nachzusehen, doch es schienen
alle Seiten da zu sein, wenn auch dann und wann ein Blatt
zerknittert oder mit Essen befleckt war. Das Buch roch sehr
merkwürdig, als hätte es jemand in Talg getaucht.
Ein plötzliches Scheppern im Sprechzimmer ihrer
Mutter riss sie aus ihrer Betrachtung der Bücher. Sie sah sich
instinktiv nach Jemmy um - doch natürlich war er nicht hier. Sie
schob das Buch hastig wieder an seinen Platz und lief aus dem
Studierzimmer - um im Flur auf ihre Mutter zu treffen, die aus der
Küche geeilt kam.
Sie schlug ihre Mutter im Wettrennen zur
Sprechzimmertür um eine Sekunde.
»Jemmy!«
Die Tür des hohen Schrankes stand offen, und es
roch kräftig nach Honig. Eine zerbrochene Keramikflasche lag in
einer klebrigen, goldenen Pfütze am Boden, und Jemmy saß in ihrer
Mitte. Er war über und über mit Honig beschmiert, seine blauen
Augen waren kreisrund, und sein Mund stand schuldbewusst und
erschrocken offen.
Das Blut stieg ihr ins Gesicht. Ohne darauf zu
achten, dass er überall klebte, packte sie ihn am Arm und stellte
ihn hin.
»Jeremiah Alexander MacKenzie«, sagte Brianna in
finsterem Ton, »du bist ein böser Junge!« Sie suchte ihn hastig
nach Blut oder Verletzungen ab, fand nichts und versetzte ihm einen
so festen Klaps auf den Hintern, dass ihre Handfläche
brannte.
Bei dem resultierenden Geschrei bekam sie sofort
ein schlechtes Gewissen. Dann sah sie den Rest der Verwüstungen und
unterdrückte den Impuls, ihn noch einmal zu schlagen.
»Jeremiah!«
Rosmarin, Schafgarbe und Thymian waren büschelweise
aus dem Trockenregal gezogen und zerrissen worden. Einer der
Gazeböden des Regals war losgerissen; der Stoff hing in Fetzen.
Flaschen und Gläser aus den
Schränken lagen umgestürzt da oder rollten herum; aus einigen
waren die Korken herausgefallen, so dass sich vielfarbige
Pülverchen und Flüssigkeiten über den Boden ergossen. Ein großer
Leinenbeutel mit gemahlenem Salz war geplündert, die Kristalle mit
vollen Händen verstreut worden.
Das Schlimmste war, dass das Amulett ihrer Mutter
auf dem Boden lag; der kleine Lederbeutel war aufgerissen, flach
und leer. Getrocknete Pflanzenteile, ein paar kleine Knochen und
andere Reste lagen ringsum verstreut.
»Mama - es tut mir so Leid. Ich habe nicht
aufgepasst - ich hätte ihn besser im Auge behalten -« Sie musste
ihre Entschuldigung beinahe brüllen, um sich bei Jemmys Geschrei
Gehör zu verschaffen.
Claire, die bei dem Lärm zusammenzuckte, sah sich
in ihrem Sprechzimmer um und machte eine flüchtige
Bestandsaufnahme. Dann hielt sie inne und hob Jemmy auf, ohne sich
an dem Honig zu stören.
»Schhh«, sagte sie und legte ihm sacht die Hand auf
den Mund. Da dies keine Wirkung zeigte, klopfte sie leicht mit der
Hand auf die klaffende Öffnung und erzeugte damit ein
»Wa-wa-wa-wa«-Geräusch, woraufhin Jemmy sein Gebrüll abrupt
beendete. Er steckte seinen Daumen in den Mund, lutschte laut
schniefend daran und presste seine beschmierte Wange an Claires
Schulter.
»Nun, sie können nun einmal ihre Finger nicht bei
sich behalten«, sagte sie zu Brianna, und ihre Miene war eher
belustigt als aufgeregt. »Keine Sorge, Schatz, es ist nur ein
harmloses Durcheinander. Gott sei Dank ist er nicht an die Messer
gekommen, und die Gifte bewahre ich auch ganz oben auf.«
Brianna spürte, wie sich ihr Herzschlag allmählich
verlangsamte. Ihre Hand fühlte sich heiß an, und das Blut pulsierte
darin.
»Aber dein Amulett...« Sie zeigte mit dem Finger
darauf und sah, wie ein Schatten über das Gesicht ihrer Mutter
huschte, als sie die Bescherung sah.
»Oh.« Claire holte tief Luft, klopfte Jemmy auf den
Rücken und setzte ihn ab. Sie bohrte ihre Zähne in ihre Unterlippe,
bückte sich und hob den schlaffen Beutel mit den verklebten Federn
zaghaft auf.
»Es tut mir so Leid«, wiederholte Brianna
hilflos.
Sie konnte sehen, welche Mühe es Claire kostete,
doch ihre Mutter tat ihre Entschuldigung mit einer kleinen Geste
ab, bevor sie sich dann hinhockte, um die Einzelteile vom Boden
aufzulesen. Sie hatte ihr lockiges Haar nicht zusammengebunden, und
es fiel nach vorn und verbarg ihr Gesicht.
»Ich habe mich immer schon gefragt, was in diesem
Beutel war«, sagte Claire. Sie begann behutsam, die winzigen
Knochen aufzulesen und sie in ihrer Handfläche zu sammeln. »Was
meinst du wohl, woher das hier stammt-von einer Spitzmaus?«
»Ich weiß es nicht.« Brianna, die Jemmy argwöhnisch
im Auge behielt, ging in die Hocke und machte sich daran, die
Kleinteile aufzulesen. »Ich dachte, sie sind vielleicht von einer
Fledermaus.«
Ihre Mutter blickte überrascht zu ihr auf. »Was für
ein Schlauberger du bist - sieh mal.« Sie las ein kleines,
papiernes, braunes Objekt vom Boden auf und hielt es Brianna hin.
Als sie sich darüber beugte, um es näher zu betrachten, konnte
Brianna sehen, dass der Gegenstand, der wie ein verschrumpeltes,
getrocknetes Blatt aussah, tatsächlich Teil eines winzigen
Fledermausflügels war, dessen zerbrechliches Leder so trocken war,
dass es durchscheinend geworden war, und von einem nadeldünnen
Knochen durchzogen war, der an die zentrale Rippe eines Blattes
erinnerte.
»Aug’ vom Lurch und Zeh vom Frosch, Fledermauswolle
und Hundezung«, zitierte Claire. Sie streute die Hand voll Knochen
auf die Arbeitsfläche und betrachtete sie fasziniert. »Ich frage
mich, was sie damit gemeint hat?«
»Sie?«
»Nayawenne - die Frau, von der ich den Beutel
habe.« Claire hockte sich auf den Boden und fegte die zerkrümelten
Blattstückchen -zumindest hoffte Brianna, dass es wirklich Blätter
waren - in ihre Hand und roch daran. Es hingen so viele Gerüche im
Sprechzimmer, dass sie selbst nur noch die überwältigende Süße des
Honigs wahrnahm, doch der empfindlichen Nase ihrer Mutter bereitete
es offenbar keine Schwierigkeiten, einzelne Düfte
auszumachen.
»Lorbeer, Balsamfichte, wilder Ingwer und
Wasserpfeffer«, sagte sie und schnüffelte wie ein Trüffelhund. »Und
etwas Salbei, glaube ich.« Ihre Mutter schüttete die getrockneten
Pflanzenteile zu den Knochen auf den Tisch.
Jemmy, der ihren Tadel bereits vergessen hatte,
hatte eine chirurgische Klemme in den Fingern und drehte sie hin
und her, offenbar um herauszubekommen, ob sie essbar war. Brianna
dachte daran, sie ihm wegzunehmen, doch da ihre Mutter ihre
Metallinstrumente immer in kochendem Wasser sterilisierte,
beschloss sie, dass er sie vorerst behalten konnte, da sie keine
scharfen Kanten hatte.
Sie ließ ihn bei Claire und ging in die Küche, um
heißes Wasser und ein paar Tücher zur Beseitigung des Honigs zu
holen. Mrs. Bug war dort, doch sie war fest eingeschlafen und saß
sanft schnarchend auf der Kaminbank, die Hände auf ihrem runden
Bauch gefaltet, und ihre Haube war ihr gemütlich über das Ohr
gerutscht.
Sie entfernte sich auf Zehenspitzen, und als sie
mit dem Wassereimer und einem Berg Tücher zurückkehrte, waren die
Trümmer schon zum Großteil zusammengefegt, und ihre Mutter kroch
auf Händen und Knien durch das Zimmer und lugte unter die
Möbel.
»Hast du etwas verloren?« Sie warf einen Blick auf
den unteren Regalboden im Schrank, hatte aber nicht das Gefühl,
dass außer dem Honiggefäß etwas fehlte. Die anderen Flaschen
standen wieder ordentlich zugekorkt auf ihren Plätzen, und alles
sah aus wie sonst auch.
»Ja.« Claire bückte sich noch tiefer und runzelte
die Stirn, während sie unter den Schrank lugte. »Einen Stein.
Ungefähr so groß -«, sie formte mit
Daumen und Zeigefinger einen Kreis, der ungefähr den Durchmesser
einer kleinen Münze hatte, »und blaugrau. An manchen Stellen
durchsichtig. Es ist ein Rohsaphir.«
»War er im Schrank? Vielleicht hat Mrs. Bug ihn
weggeräumt.«
Claire setzte sich auf die Fersen zurück und
schüttelte den Kopf.
»Nein, sie rührt hier nichts an. Außerdem war er
nicht im Schrank - er war hier drin.« Sie wies auf den Tisch, wo
der leere Amulettbeutel neben den Knochen und den Pflanzenstückchen
lag.
Eine schnelle Durchsuchung des Sprechzimmers - und
dann eine langsamere - förderte keine Spur des Steins zutage.
»Weißt du«, sagte Claire und fuhr sich mit der Hand
durch das Haar, während sie Jemmy nachdenklich ansah. »Ich sage das
ja nur ungern, aber meinst du...?«
»Schei... ich meine, o je«, sagte Brianna, und ihre
Besorgnis verwandelte sich in Alarmiertheit. Sie bückte sich, um
einen Blick auf Jemmy zu werfen, der sie selbstzufrieden ignorierte
und sich ganz darauf konzentrierte, die Klemme in sein linkes
Nasenloch einzuführen. Er hatte getrocknete
Pflanzenstückchen in dem Honig um seinen Mund kleben, aber es war
doch sicher nur Rosmarin oder Thymian...
Durch ihre aufdringlichen Blicke verärgert,
versuchte er, mit der Klemme nach ihr zu schlagen, doch sie
umklammerte eisern sein Handgelenk und entrang ihm mit der anderen
Hand die Klemme.
»Du darfst Mami nicht schlagen«, sagte sie
mechanisch, »das ist nicht schön. Jemmy, hast du Omas Stein
verschluckt?«
»Nein«, sagte er genauso mechanisch und grabschte
nach der Klemme. »Meins!«
Sie roch an seinem Gesicht, worauf er sich
gefährlich zurücklehnte, doch sie war sich nicht sicher. Sie
glaubte aber nicht, dass es Rosmarin war.
»Komm her und riech an ihm«, sagte sie zu ihrer
Mutter und stand auf. »Ich kann es nicht sagen.«
Claire beugte sich über ihn, und Jemmy kreischte
entzückt kichernd auf, weil er glaubte, dass sie mit ihm spielen
wollte. Er wurde allerdings enttäuscht; seine Großmutter atmete
einfach nur tief ein, sagte entschieden »wilder Ingwer«, dann
beugte sie sich vor, um ihn genauer zu mustern, und ergriff ein
feuchtes Tuch, um trotz des zunehmenden Protestgeheuls den
verschmierten Honig wegzuwischen.
»Schau.« Claire deutete auf die weiche Haut rings
um seinen Mund. Jetzt, da sie frisch gesäubert war, konnte Brianna
sie deutlich sehen - zwei oder drei winzige Bläschen, die wie
Samenkörnchen aussahen.
»Jeremiah«, sagte sie streng und versuchte, ihm ins
Auge zu blicken. »Sag es Mama. Hast du Omas Stein gegessen?«
Jeremiah vermied es, sie anzusehen. Er wich
zappelnd zurück und hielt beide Hände schützend hinter sich.
»Nicht hauen«, sagte er. »Nicht schön.«
»Ich schlage dich nicht«, versicherte sie ihm und
ergriff seinen Fuß, bevor er entwischen konnte. »Ich will es nur
wissen. Hast du einen Stein verschluckt, der ungefähr so groß war?«
Sie hielt Daumen und Zeigefinger hoch. Jemmy kicherte.
»Heiß«, sagte er. Das war sein neues Lieblingswort,
und er benutzte es unterschiedslos für alles, was er mochte.
Brianna schloss die Augen, seufzte entnervt, dann
öffnete sie sie wieder und sah ihre Mutter an.
»Ich fürchte, ja. Wird es ihm weh tun?«
»Ich denke, nicht.« Claire betrachtete ihren
Enkelsohn nachdenklich und tippte mit einem Finger an ihre Lippen.
Dann durchquerte sie das Zimmer, öffnete einen der hohen Schränke
und brachte eine große, braune Glasflasche zum Vorschein.
»Rizinusöl«, erklärte sie und kramte in einer
Schublade nach einem Löffel. »Nicht ganz so wohlschmeckend
wie Honig«, fügte sie hinzu und fixierte Jemmy mit einem bohrenden
Blick, »aber sehr wirksam.«
Rizinusöl mochte ja wirksam sein, aber es brauchte
seine Zeit. Brianna und Claire ließen Jemmy, den sie nach
Verabreichung des Öls mit seinem Korb mit Holzklötzen zum Spielen
auf den Boden gesetzt hatten, nicht aus den Augen, während sie die
Wartezeit nutzten, um das Sprechzimmer aufzuräumen und sich dann
der friedlichen, aber zeitaufwändigen Aufgabe der Arzneizubereitung
zuwandten. Es war schon länger her, dass Claire zuletzt Zeit dazu
gehabt hatte, und es hatte sich eine überwältigende Menge an
Blättern, Wurzeln und Samen angesammelt, die zerhackt, zerrieben,
zerstampft, in Wasser gekocht, in Öl eingeweicht, mit Alkohol
extrahiert, durch Gaze gefiltert, in geschmolzenes Bienenwachs oder
Bärenfett eingerührt, mit Puder vermischt oder zu Pillen gerollt
werden mussten, bevor sie zur Aufbewahrung in Gläsern, Flaschen
oder Beuteln verstaut wurden.
Es war ein angenehm warmer Tag, und sie ließen die
Fenster offen, um den Luftzug hereinzulassen, auch wenn das
bedeutete, dass sie fortwährend Fliegen und Mücken vertreiben
mussten und dann und wann eine übereifrige Hummel aus einer
blubbernden Flüssigkeit fischen mussten.
»Vorsichtig, Schätzchen!« Brianna streckte hastig
die Hand aus, um eine Honigbiene fortzuwischen, die auf einem von
Jemmys Klötzen gelandet war, bevor Jemmy danach greifen konnte.
»Böse Fliege. Autsch!«
»Sie riechen ihren Honig«, sagte Claire, die gerade
eine andere Biene vertrieb. »Am besten gebe ich ihnen etwas davon
zurück.« Sie stellte ein Schälchen mit Honigwasser auf die
Fensterbank, und innerhalb von Sekunden war der Rand dicht von
gierig trinkenden Bienen umschwärmt.
»Ganz schön zielsicher, nicht wahr?«, merkte
Brianna an, während sie ein Schweißrinnsal zwischen ihren Brüsten
betupfte.
»Nun, mit Zielsicherheit kommt man ziemlich weit«,
murmelte Claire geistesabwesend und runzelte leicht die Stirn,
während sie eine Lösung umrührte, die sich über einer Alkohollampe
erwärmte. »Findest du, das sieht fertig aus?«
»Das weißt du doch besser als ich.« Dennoch beugte
sie sich gehorsam darüber und roch daran. »Ich glaube schon; es
riecht ziemlich kräftig.«
Claire tauchte rasch ihren Finger in die Schale und
probierte die Flüssigkeit.
»Mm, ja, ich glaube schon.« Sie nahm die Schale von
der Flamme und goss die dunkle, grünliche Flüssigkeit durch einen
Gazefilter in eine Flasche. Auf der Arbeitsplatte standen schon
mehrere andere Glasflaschen aufgereiht, und das Sonnenlicht, das
ihren Inhalt durchleuchtete, verlieh ihnen das Aussehen roter,
grüner und gelber Juwelen.
»Hast du immer schon gewusst, dass es dir bestimmt
war, Ärztin zu werden?«, fragte Brianna neugierig. Ihre Mutter
schüttelte den Kopf und zerhackte mit einem scharfen Messer gekonnt
eine Hand voll Hartriegelrinde.
»Als ich klein war, wäre ich nie auf die Idee
gekommen. An so etwas hat man damals als Mädchen natürlich kaum
gedacht. Als ich groß wurde, bin ich davon ausgegangen, dass ich
heiraten, Kinder bekommen und einen Haushalt führen würde...
Findest du, dass Lizzie gut aussieht? Ich hatte gestern Abend das
Gefühl, dass sie ein bisschen gelblich aussah, aber das kann auch
nur am Kerzenlicht gelegen haben.«
»Ich glaube nicht, dass sie etwas hat. Meinst du,
sie ist wirklich in Manfred verliebt?« Sie hatten gestern Abend
Lizzies Verlobung mit Manfred McGillivray gefeiert, und die ganze
McGillivray-Sippe war zu einem üppigen Abendessen angereist. Mrs.
Bug, die Lizzie sehr ins Herz geschlossen hatte, hatte ihr Bestes
gegeben; kein Wunder, dass sie heute schlief.
»Nein«, sagte Claire unverblümt. »Aber solange sie
sich nicht in einen anderen verliebt, ist wohl nichts dabei. Er ist
ein lieber Junge und sieht gut aus. Und Lizzie mag seine Mutter,
was unter den Umständen auch nicht unwichtig ist.« Sie lächelte bei
dem Gedanken an Ute McGillivray, die Lizzie auf der Stelle unter
ihre ausladenden, mütterlichen Flügel genommen hatte, ihr die
köstlichsten Bissen herausgepickt hatte und sie ihr unverdrossen in
den Hals gestopft hatte wie ein Rotkehlchen, das ein schwächliches
Küken fütterte.
»Ich habe das Gefühl, dass sie Ute McGillivray
lieber hat als Manfred. Sie war noch ziemlich klein, als ihre
Mutter gestorben ist; es ist schön für sie, sozusagen wieder eine
zu haben.« Brianna musterte ihre Mutter aus dem Augenwinkel heraus.
Sie konnte sich nur zu gut daran erinnern, wie es war, keine Mutter
mehr zu haben - und an die schiere Glückseligkeit, wieder bemuttert
zu werden. Sie warf automatisch einen Blick auf Jemmy, der in eine
lebhafte, wenn auch größtenteils unverständliche Unterhaltung mit
Adso, dem Kater, vertieft war.
Claire nickte und rieb die gehackte Rinde zwischen
ihren Händen in ein kleines, rundes Glas mit Alkohol.
»Ja. Aber ich bin trotzdem froh, dass sie noch
etwas warten - Lizzie und Manfred, meine ich - und sich erst
aneinander gewöhnen.« Man war überein gekommen, dass die Hochzeit
im nächsten Sommer stattfinden würde, wenn Manfred sein Geschäft in
Woolam’s Creek fertig eingerichtet hatte. »Ich hoffe, das
wirkt.«
»Was?«
»Die Hartriegelrinde.« Claire verkorkte das Gefäß
und stellte es in den Schrank. »In Dr. Rawlings’ Notizbuch steht,
dass man sie als Ersatz für Chinarinde benutzen kann - Chinin, du
weißt schon. Und sie ist eindeutig leichter zu beschaffen, ganz zu
schweigen davon, dass sie billiger ist.«
»Toll - ich hoffe sehr, dass sie wirkt.« Lizzies
Malaria hatte sich seit mehreren Monaten nicht mehr gemeldet - doch
die Gefahr eines Rückfalls bestand immer, und Chinarinde war
furchtbar teuer.
Ihr vorheriges Gesprächthema ging Brianna nicht aus
dem Sinn, und sie nahm es wieder auf, während sie jetzt ihren
Mörser mit einer frischen Hand voll Salbeiblätter füllte, deren
Poren sie sorgfältig öffnete, bevor sie sie ziehen ließ.
»Du hast gesagt, als du klein warst, hattest du
nicht vor, Ärztin zu werden. Aber später scheinst du es doch sehr
zielstrebig angegangen zu sein.« Sie konnte sich bruchstückhaft,
aber lebhaft an Claires medizinische Ausbildung erinnern; sie
konnte immer noch die Krankenhausgerüche riechen, die sich in den
Kleidern und Haaren ihrer Mutter verfangen hatten, und die sanfte,
kühle Berührung der grünen Kittel spüren, die ihre Mutter manchmal
trug, wenn sie spät von der Arbeit heim kam und ihr einen
Gutenachtkuss gab.
Claire antwortete nicht sofort, sondern
konzentrierte sich auf die getrockneten Maisfäden, die sie
reinigte, indem sie verrottete Stellen herausriss und sie aus dem
offenen Fenster warf.
»Nun«, sagte sie schließlich, ohne die Augen von
ihrer Arbeit abzuwenden. »Menschen - und das gilt ganz und gar
nicht nur für Frauen - Menschen, die wissen, wer sie sind
und wozu sie da sind... sie finden einen Weg. Dein Vater - Frank,
meine ich -« Sie hob die gereinigten Seidenfäden auf und legte sie
in einen kleinen, geflochtenen Korb. Dabei verstreute sie winzige
Fragmente auf der ganzen Arbeitsfläche. »Er war ein sehr guter
Historiker. Er hatte Spaß an dem Thema, und er besaß die Gaben der
Disziplin und der Konzentration, die ihm zum Erfolg verholfen
haben, aber es war keine echte - keine Berufung für ihn. Er
hat es mir selbst gesagt - er hätte genauso gut einen anderen Beruf
ausüben können, und es hätte ihm nicht viel ausgemacht. Doch
manchen Menschen bedeutet eine Sache alles. Und wenn das so ist...
nun, die Medizin hat mir viel bedeutet. Anfangs wusste ich das
nicht, aber dann ist mir klar geworden, dass es einfach meine
Bestimmung war.
Und als ich das einmal wusste...« Sie zuckte mit den Achseln,
schüttelte ihre Hände aus und bedeckte den Korb mit einem Stück
Leinen, das sie mit Zwirn festband.
»Ja, aber... man kann nicht immer das tun, wozu man
bestimmt ist, oder?«, sagte sie und dachte an die schartige Narbe
an Rogers Hals.
»Nun ja, manchmal zwingt einem das Leben natürlich
gewisse Dinge auf«, murmelte ihre Mutter. Sie blickte auf und sah
Brianna in die Augen, und ihr Mund verzog sich zu einem kleinen,
ironischen Lächeln. »Und was den Durchschnittsmenschen angeht - er
führt so oft einfach das Leben, das er vorfindet. Marsali zum
Beispiel. Ich glaube nicht, dass es ihr je in den Sinn gekommen
ist, etwas anderes zu tun als das, was sie tut. Ihre Mutter hat
einen Haushalt geführt und Kinder aufgezogen; sie sieht keinen
Grund, es anders zu machen. Und doch -« Claire zuckte mit einer
Schulter und streckte die Hand nach dem anderen Mörser aus. »Sie
hatte eine große Leidenschaft-für Fergus. Und das hat ausgereicht,
um sie aus dem Sumpf zu reißen, der ihr Leben gewesen wäre -«
»Und in ein anderes hinein, das genauso ist?«
Claire senkte den Kopf zu einem halben Nicken, ohne
aufzublicken.
»Das genauso ist - nur, dass sie in Amerika ist,
nicht in Schottland. Und dass sie Fergus hat.«
»So wie du Jamie hast?« Brianna benutzte seinen
Vornamen nur selten, und Claire blickte überrascht auf.
»Ja«, sagte sie. »Jamie ist ein Teil von mir. Genau
wie du.« Sie berührte Briannas Gesicht, rasch und sacht, dann
wandte sie sich halb zur Seite, um der Kräutersammlung, die über
dem Kamin an einem Balken hing, ein Bündel Majoran zu entnehmen.
»Aber keiner von euch macht mich ganz aus«, sagte sie leise mit dem
Rücken zu Brianna. »Ich bin... was ich bin. Ärztin,
Krankenschwester, Heilerin, Hexe-ganz gleich, wie die Leute es
nennen, die Bezeichnung spielt keine Rolle. Ich bin dazu geboren;
ich werde es sein, bis ich sterbe. Wenn ich dich verlöre - oder
Jamie - wäre ich kein vollständiger Mensch mehr, aber das
bliebe mir immer noch. Eine kurze Zeit lang«, fuhr sie so leise
fort, dass Brianna sich anstrengen musste, um sie zu hören,
»nachdem ich... zurückgegangen war... bevor du gekommen bist... war
es alles, was ich hatte. Nur dieses Wissen.«
Claire krümelte den getrockneten Majoran in den
Mörser und ergriff den Stößel, um ihn zu zerkleinern. Draußen
erklang das Geräusch trampelnder Stiefel, dann Jamies Stimme, eine
freundliche Bemerkung zu einem Huhn, das seinen Weg kreuzte.
War es nicht genug für sie, Roger zu lieben, Jemmy
zu lieben? Eigentlich hätte es so sein sollen. Sie verspürte ein
schreckliches, dumpfes Gefühl, dass es vielleicht nicht so war, und
redete schnell, bevor der Gedanke sich in Worte fasste.
»Was ist mit Pa?«
»Was ist mit ihm?«
»Ist er - meinst du, er gehört zu denen, die
wissen, was sie sind?«
Claire hielt die Hände still, und der klirrende
Stößel verstummte.
»O ja«, sagte sie. »Er weiß es.«
»Ein Gutsherr? Würdest du es so nennen? Ich weiß,
dass er in Schottland einer war.«
Ihre Mutter zögerte und überlegte.
»Nein«, sagte sie schließlich. Sie ergriff den
Stößel und begann wieder zu stampfen. Der Duft des getrockneten
Majorans erfüllte das Zimmer wie Weihrauch. »Er ist ein Mann«,
sagte sie, »und das ist keine Kleinigkeit.«