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Kaminfeuer
Fraser’s Ridge
Oktober 1771
Die Jahreszeit wechselte von einer Stunde zur
nächsten. Sie hatte sich in der angenehmen Kühle eines
Altweibersommerabends schlafen gelegt und war mitten in der Nacht
von beißender Herbstkälte erwacht. Ihre Füße froren unter der
Quiltdecke. Obwohl sie schläfrig war, konnte sie ohne eine
zusätzliche Decke nicht mehr einschlafen.
Sie kämpfte sich mit Schlitzaugen aus dem Bett und
tapste über den eisigen Fußboden, um nach Jemmy zu sehen. Er war
ganz warm, denn er lag tief versunken in seinem winzigen Federbett
und hatte die Bettdecke bis zu seinen kleinen, rosafarbenen Ohren
hochgezogen. Sie legte ihm sanft eine Hand auf den Rücken und
wartete auf das beruhigende Heben und Senken seiner Brust. Einmal,
zweimal, noch einmal.
Sie kramte nach einem zusätzlichen Quilt und
breitete ihn über das Bett, griff nach einem Becher mit Wasser, um
sich die trockene Kehle anzufeuchten und stellte mit einem
verärgerten Brummen fest, dass er leer war. Sie dachte sehnsüchtig
daran, wieder ins Bett zu kriechen und tief in den warmen Schlummer
zu sinken - aber nicht, solange sie dem Verdursten nahe war.
An der Verandatreppe stand ein Eimer mit
Brunnenwasser. Gähnend verzog sie das Gesicht, hob den Türriegel
aus seinen Halterungen und legte ihn sanft ab - obwohl Jemmy nachts
so fest schlief, dass die Gefahr, ihn zu wecken, nicht sehr groß
war.
Dennoch öffnete sie die Tür sehr behutsam und trat
ins Freie. Sie erschauerte sacht, als ihr die kalte Luft das Hemd
um die Beine blies. Sie bückte sich und tastete sich in der
Dunkelheit vor. Kein Eimer. Wo...
Aus dem Augenwinkel sah sie eine kurze Bewegung und
fuhr herum. Im ersten Augenblick dachte sie, es sei Obadiah
Henderson, der auf der Bank neben ihrer Tür saß, und ihr Herz
krampfte sich zusammen wie eine Faust, als er aufstand. Dann
begriff sie, und sie lag in Rogers Armen, noch bevor ihr Verstand
bewusst registrieren konnte, wie er aussah.
Sprachlos an ihn gepresst, hatte sie dann Zeit,
Details wahrzunehmen: sein geschwungenes Schlüsselbein an ihrem
Gesicht, den Geruch zu lange getragener Kleider, die so lange nicht
mehr gewaschen worden waren, dass sie nicht einmal mehr nach
Schweiß rochen, sondern nach dem Wald, den er durchwandert hatte,
der Erde, auf der er geschlafen hatte, und vor allem nach dem
bitteren Rauch, den er eingeatmet hatte. Die Kraft seines Arms, der
sie umfing, und das Kratzen seines Bartes auf ihrer Haut. Das
aufgeborstene, alte Leder seiner Schuhe unter ihren nackten Zehen
und die Form der Knochen seiner Füße, die darin steckten.
»Du bist es«, sagte sie und weinte. »Du bist wieder
zu Hause!«
»Aye, ich bin zu Hause«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Geht’s dir gut? Und Jemmy?«
Sie lockerte ihre Umklammerung seiner Rippen, und
er lächelte sie an - wie seltsam, sein Lächeln durch einen dichten,
schwarzen Bart zu sehen, wenn auch das Mondlicht die vertraute
Rundung seiner Lippen zeigte.
»Alles in Ordnung. Und du?« Sie schluchzte, und ihr
liefen die Augen über, als sie ihn ansah. »Was machst du denn hier
draußen, zum Kuckuck? Warum hast du nicht geklopft?«
»Aye. Bestens. Ich wollte dir keinen Schrecken
einjagen. Ich dachte, ich schlafe hier draußen und klopfe am frühen
Morgen. Warum weinst du denn?«
In diesem Moment begriff sie, dass er nicht deshalb
flüsterte, um Jemmy nicht zu wecken; das bisschen Stimme, das er
hatte, war eine zerschlissene Hülle, tonlos und außer Atem. Und
doch sprach er deutlich und brachte seine Worte ohne Zwang hervor,
ohne sein früheres, schmerzerfülltes Zögern.
»Du kannst sprechen«, sagte sie und wischte sich
hastig mit dem Handrücken über die Augen. »Ich meine - besser.«
Früher einmal hätte sie aus Rücksicht auf seine Gefühle gezögert,
seinen Hals zu berühren, doch sie war instinktiv so klug, die
plötzliche Intimität des Schocks nicht ungenutzt zu lassen.
Möglich, dass die Spannungen wiederkehrten und sie erneut Fremde
wurden, doch im Moment, in diesem Moment konnte sie in der
Dunkelheit alles sagen, alles tun, und sie legte ihre Finger auf
die warme, raue Narbe, berührte den Einschnitt, der ihm das Leben
gerettet hatte, eine glatte, weiße Linie in seinem Bart.
»Tut es immer noch weh, wenn du redest?«
»Es tut weh«, krächzte er leise, und sein Blick
traf den ihren, dunkel und sanft im Mondschein. »Aber ich kann es
tun. Ich werde es tun - Brianna.«
Sie trat zurück, eine Hand auf seinem Arm, denn es
widerstrebte ihr, ihn loszulassen.
»Komm herein«, sagte sie. »Es ist kalt hier
draußen.«
Ich hatte diverse Einwände gegen Kaminfeuer,
angefangen bei den Splittern unter meinen Fingernägeln und dem Harz
an meinen Händen bis hin zu den Blasen, Brandwunden und der
schieren, ärgerlichen Feindseligkeit des Elementes. Zwei Dinge
musste ich aber eingestehen: Es war unleugbar warm, und es tauchte
den Liebesakt in ein gedämpftes Licht von solcher Schönheit, dass
man alle Hemmungen der Nacktheit getrost vergessen konnte.
Unsere beiden Schatten verschwammen an der Wand,
hier ein Arm oder Bein, dort die Wölbung von Rücken oder Flanke,
deutlich als Teil eines sich wiegenden Tiers erkennbar. Jamies Kopf
tauchte auf, eine große, langmähnige Kreatur, die sich über mir
erhob, den Rücken haltlos aufgebäumt.
Ich fuhr mit den Fingern über schimmernde Haut und
bebende Muskeln, strich über die glänzenden Haare auf Armen und
Brust, um meine Hände dann in der Wärme seines Haars zu vergraben
und ihn keuchend auf die dunkle Mulde zwischen meinen Brüsten
hinunterzuziehen.
Ich hielt die Augen halb geschlossen, genau wie
meine Beine, denn ich wollte seinen Körper noch nicht freigeben,
die Illusion der Einheit noch nicht aufgeben - wenn es denn eine
Illusion war. Wie oft würde ich ihn wohl noch so halten, vielleicht
sogar im Zauber des Feuerscheins?
Ich klammerte mich mit aller Kraft an ihn und an
das ersterbende Pulsieren meines Körpers. Doch wer versucht, die
Freude festzuhalten, vertreibt sie nur, und innerhalb weniger
Sekunden war ich nur noch ich selbst. Die dunkle Krampfader an
meinem Knöchel war selbst im Schein des Feuers deutlich zu
sehen.
Ich ließ seine Schultern los und griff zärtlich in
die drahtigen Locken seines Haars. Er drehte den Kopf zur Seite und
küsste meine Brust, dann bewegte er sich seufzend und glitt neben
mich.
»Und man sagt, Hühner mit Zähnen sind selten«,
sagte er und betastete vorsichtig einen tiefen Bissabdruck auf
seiner Schulter.
Ich lachte auf. Dann stützte ich mich auf einen
Ellbogen und warf einen Blick zum Kamin.
»Was ist denn?«
»Ich überzeuge mich nur davon, dass meine Kleider
nicht in Flammen aufgehen.« Im Eifer des Gefechtes hatte ich nicht
großartig darauf geachtet, wohin er meine Kleidungsstücke geworfen
hatte, aber sie schienen in sicherer Entfernung von den Flammen
gelandet zu sein; der Rock lag in einem Häufchen neben dem Bett,
und Mieder und Hemd waren irgendwie in entgegengesetzten Ecken des
Zimmers angekommen. Mein improvisierter Büstenhalter war nirgends
zu sehen.
Das Licht flackerte über die weiß gekälkten Wände,
und das Bett war voller Schatten.
»Du bist wunderschön«, flüsterte er mir zu.
»Wenn du das sagst.«
»Glaubst du mir etwa nicht? Habe ich dich schon
jemals belogen?«
»Das meine ich gar nicht. Ich meine - wenn du es
sagst, ist es wahr. Du machst es wahr.«
Er seufzte und legte sich so hin, dass es für uns
beide gemütlich war. Im Kamin zerbarst ein Holzscheit; und als die
Hitze auf eine verborgene Feuchtigkeitsspur traf, stiebte ein
goldener Funkenschauer auf, der zischend verlosch. Ich sah zu, wie
das frische Holz erst schwarz, dann rot wurde und schließlich weiß
glühend aufflammte.
»Sagst du dasselbe auch über mich, Sassenach?«,
fragte er plötzlich. Er klang verlegen, und ich drehte ihm den Kopf
zu und musterte ihn überrascht.
»Sage ich was? Dass du schön bist?« Mein Mund
verzog sich unwillkürlich, und er lächelte ebenfalls.
»Nun... das nicht gerade. Aber zumindest, dass du
es ertragen kannst, mich anzusehen.«
Ich zeichnete die schwach sichtbare, weiße Linie
der Narbe auf seinen Rippen nach, die vor langer Zeit ein Schwert
hinterlassen hatte. Die längere, wulstigere Narbe des Bajonetts,
das ihm den Oberschenkel der Länge nach aufgeschlitzt hatte. Den
Arm, der mich festhielt, gebräunt und rau, die Härchen darauf von
den langen Tagen voll Sonne und Arbeit weiß-golden gebleicht. Neben
meiner Hand lag sein Glied zusammengerollt zwischen seinen
Oberschenkeln, weich und klein jetzt und empfindlich in seinem Nest
aus auberginefarbenem Haar.
»Für mich bist du schön, Jamie«, sagte ich
schließlich leise. »So schön, dass es mir das Herz bricht.«
Seine Hand fuhr über die Wölbungen meiner
Wirbelsäule, eine nach der anderen.
»Aber ich bin doch ein alter Mann«, sagte er
lächelnd. »Oder ich sollte einer sein. Ich habe weiße Haare auf dem
Kopf; mein Bart ist grau geworden.«
»Silbern«, sagte ich und strich über die weichen
Bartstoppeln an seinem Kinn, die gescheckt waren wie ein
Patchworkquilt. »Hier und da.«
»Grau«, sagte er beharrlich. »Und löcherig dazu.
Und doch...« Er sah mich an, und sein Blick wurde sanfter. »Und
doch brenne ich, wenn ich zu dir komme, Sassenach - und ich glaube,
das wird auch so bleiben, bis wir beide zu Asche verbrennen.«
»Meinst du das poetisch?«, fragte ich vorsichtig.
»Oder wörtlich.«
»Oh«, sagte er. »Nein. Ich wollte nicht... nein.«
Er legte den Arm fester um mich und neigte mir den Kopf zu.
»Was das angeht, so bin ich mir nicht sicher. Wenn
es so weit kommen sollte -«
»Es wird aber nicht so weit kommen.«
Sein Lachen hauchte durch mein Haar.
»Du klingst, als wärst du dir da sehr sicher,
Sassenach.«
»Die Zukunft lässt sich ändern; ich tue es doch
andauernd.«
»Oh, aye?«
Ich drehte mich ein Stück zur Seite, um ihn
anzusehen.
»Ja. Sieh dir Mairi MacNeill an. Wenn ich letzte
Woche nicht da gewesen wäre, wäre sie gestorben, und ihre Zwillinge
mit ihr. Aber ich war da, und sie sind nicht
gestorben.«
Ich legte mir eine Hand in den Nacken und
beobachtete die Reflektion der Flammen, die wie Wellen über die
Deckenbalken huschten.
»Ich frage mich natürlich - es gibt viele Menschen,
die ich nicht retten kann, aber manchmal gelingt es mir ja. Wenn
jemand meinetwegen am Leben bleibt und später Kinder bekommt, die
dann auch wieder Kinder bekommen, und so weiter... nun, wenn
du zum Beispiel in meiner Zeit ankommst, gibt es wahrscheinlich
dreißig oder vierzig Menschen auf der Welt, die es sonst nie
gegeben hätte, hm? Und sie alle haben in der Zwischenzeit ihr Leben
gelebt-meinst du nicht, dass dies eine Änderung der Zukunft ist?«
Zum ersten Mal stellte ich mir die Frage, wie intensiv ich gerade
zur Bevölkerungsexplosion des zwanzigsten Jahrhunderts
beitrug.
»Aye«, sagte er langsam. Er ergriff meine freie
Hand und malte mit seinem langen Finger die Linien auf meiner
Handfläche nach.
»Aye, aber es ist ihre Zukunft, die du da
veränderst, Sassenach, und vielleicht ist es dir ja bestimmt.« Er
nahm meine Hand in die seine und zog sanft an meinen Fingern. Ein
Gelenk knackte mit einem Geräusch wie ein Holzscheit, das im Ofen
birst. »Im Lauf der Geschichte haben Ärzte doch sicher vielen
Menschen das Leben gerettet.«
»Natürlich. Und nicht nur Ärzte.« Hingerissen von
der Überzeugungskraft meiner Argumente, setzte ich mich auf. »Aber
das spielt keine Rolle - verstehst du denn nicht? Du -« Ich zeigte
mit dem Finger auf ihn. »Du hast doch auch schon dann und wann
einen Menschen gerettet. Fergus? lan? Und hier sind sie nun beide,
leben vor sich hin, pflanzen sich fort und so weiter. Du hast für
sie doch die Zukunft verändert, nicht wahr?«
»Aye, nun ja... vielleicht. Aber mir blieb doch gar
nichts anderes übrig, oder?«
Diese simple Frage machte mich sprachlos, und wir
lagen eine Weile schweigend da und sahen zu, wie das Licht über die
weiß verputzte Wand flackerte. Schließlich bewegte er sich an
meiner Seite und sprach weiter.
»Ich sage das nicht, weil ich mir Mitleid wünsche«,
sagte er. »Aber siehst du... dann und wann schmerzen mich meine
Knochen ein wenig.« Ohne mich anzusehen, spreizte er seine
verkrüppelte Hand und wandte sie im Licht hin und her, so dass
seine gekrümmten Finger einen Schatten an die Wand warfen, der die
Gestalt einer Spinne hatte.
Dann und wann. Ich wusste es sehr gut. Ich kannte
die Grenzen des menschlichen Körpers - und seine Wunder. Ich hatte
oft genug gesehen, wie er sich nach getaner Tagesarbeit
niedersetzte und ihm die Erschöpfung in jede Falte seines Gesichtes
geschrieben stand. Hatte gesehen, wie er sich an kalten
Tagen morgens langsam erhob und hartnäckig gegen den Protest
seiner Knochen und Muskeln ankämpfte. Ich wäre jede Wette
eingegangen, dass er seit Culloden keinen einzigen schmerzfreien
Tag mehr erlebt hatte, und die Schäden, die sein Körper im Krieg
genommen hatte, verschlimmerten sich durch Feuchtigkeit und widrige
Lebensbedingungen. Ebenso wäre ich jede Wette eingegangen, dass er
niemals ein Wort davon gesagt hatte. Bis jetzt.
»Ich weiß«, sagte ich leise und berührte seine
Hand. Die unregelmäßige Narbe, die ihm das Bein zerfurchte. Die
kleine Mulde in seinem Arm, die eine Gewehrkugel hinterlassen
hatte.
»Aber nicht, wenn ich bei dir bin«, sagte er und
bedeckte meine Hand, die auf seinem Arm lag. »Wusstest du, dass ich
nur dann keine Schmerzen habe, wenn ich bei dir im Bett liege,
Sassenach? Wenn ich dich nehme, wenn ich in deinen Armen liege -
dann sind meine Wunden geheilt, und meine Narben sind
vergessen.«
Ich seufzte und legte meinen Kopf in seine
Schulterbeuge. Mein Oberschenkel drückte sich an den seinen, meine
weichen Muskeln schmiegten sich um sein härteres Bein.
»Meine auch.«
Er schwieg eine Weile und strich mir mit seiner
gesunden Hand über das Haar. Es war wild und buschig. Durch unsere
Bewegungen hatte es sich aus seiner Befestigung gelöst, und er
strich die lockigen Strähnen einzeln glatt und kämmte sie zwischen
seinen Fingern aus.
»Dein Haar ist wie eine große Sturmwolke,
Sassenach«, murmelte er und klang, als schliefe er schon halb.
»Voll Dunkelheit und Licht zugleich. Du hast keine zwei Haare, die
dieselbe Farbe haben.«
Er hatte Recht; die Locke zwischen seinen Fingern
wies Strähnen aus purem Weiß auf, silberne und blonde, dunkle
Streifen, die schwarz wie ein Zobel waren, und an mehreren Stellen
hatte es noch das Hellbraun meiner Jugend.
Seine Finger wanderten unter die Masse meines
Haars, und ich spürte, wie sich seine Hand um meinen Schädelknochen
legte, so dass er meinen Kopf wie einen Kelch hielt.
»Ich habe meine Mutter in ihrem Sarg gesehen«,
sagte er schließlich. Sein Daumen berührte mein Ohr und fuhr an der
gewölbten Außenkante entlang bis zum Ohrläppchen. Seine Berührung
ließ mich erschauern.
»Die Frauen hatten ihr das Haar geflochten, damit
sie anständig aussah, aber mein Vater wollte das nicht. Ich habe
ihn gehört. Aber er hat nicht gebrüllt, sondern er war ganz leise.
Er wollte sie das letzte Mal so sehen, wie sie für ihn gewesen war,
hat er gesagt. Die Frauen haben gesagt, er sei ja halb von Sinnen
vor Trauer, er sollte sie nur machen lassen und still sein. Er hat
gar nicht erst versucht, weiter mit ihnen zu diskutieren, sondern
ist selbst zum Sarg gegangen. Er hat ihre Zöpfe gelöst und ihr Haar
mit beiden Händen über das Kissen gebreitet. Sie hatten Angst, ihn
davon abzuhalten.«
Er hielt inne, und sein Daumen kam zur Ruhe.
»Ich war dabei, hab’ still in einer Ecke gestanden.
Als sie alle ins Freie gegangen sind, um den Priester zu begrüßen,
habe ich mich herangeschlichen. Ich hatte noch nie einen Toten
gesehen.«
Ich umschloss wortlos seinen Unterarm mit den
Fingern. Meine Mutter hatte sich eines Morgens von mir
verabschiedet, mich auf die Stirn geküsst und die Spange wieder
befestigt, die mir aus den Locken gefallen war. Ich hatte sie nie
wieder gesehen. Ihr Sarg war geschlossen gewesen.
»War - sie es noch?«
»Nein«, sagte er leise. Er blickte mit halb
geschlossenen Lidern ins Feuer. »Nicht ganz. Das Gesicht sah ihr
ähnlich, mehr nicht. Als hätte jemand versucht, sie aus Birkenholz
zu schnitzen. Aber ihr Haar - das war immer noch lebendig. Es war
immer noch... sie.«
Ich hörte, wie er schluckte und sich leise
räusperte.
»Das Haar lag ihr auf der Brust, so dass es das
Kind bedeckte, das bei ihr lag. Ich dachte, es wäre ihm vielleicht
unangenehm, so erdrückt zu werden. Also habe ich die roten Locken
angehoben, damit er Luft bekam. Ich konnte ihn sehen - meinen
kleinen Bruder, der in ihren Armen zusammengekuschelt lag, seinen
Kopf auf ihrer Brust, ganz gemütlich und dunkel unter dem Vorhang
aus Haaren. Also dachte ich, nein, er wäre bestimmt zufriedener,
wenn ich ihn so ließ - also habe ich ihr Haar wieder über seinen
Kopf gelegt.« Er holte tief Luft, und ich spürte, wie sich seine
Brust unter meiner Wange hob. Seine Finger fuhren sanft durch mein
Haar.
»Sie hatte kein einziges, weißes Haar, Sassenach.
Nicht eins.«
Ellen Fraser war im Alter von achtunddreißig Jahren
im Kindbett gestorben. Meine Mutter war zweiunddreißig gewesen. Und
ich... ich besaß die Fülle all dieser Jahre, die ihnen entgangen
waren. Und noch mehr.
»Zu sehen, wie dich die Jahre verändern, erfüllt
mich mit Freude, Sassenach«, flüsterte er. »Denn es bedeutet, dass
du am Leben bist.«
Er hob die Hand und ließ mein Haar langsam fallen,
so dass es mein Gesicht streifte, mir über die Lippen hauchte, mir
weich und schwer über Hals und Schultern glitt und sich wie Federn
auf die Ansätze meiner Brüste legte.
»Mo nighean donn«, flüsterte er, »mo
chridhe. Meine braunhaarige Liebste, mein Herz. Komm zu mir.
Bedecke mich. Schütze mich, a bhean, heile mich. Brenne mit
mir, wie ich für dich brenne.«
Ich lag auf ihm, bedeckte ihn, meine Haut, seine
Knochen, und immer noch - immer noch! - jener glühende, leuchtende
Punkt, der uns verband. Ich ließ mein Haar um uns beide fallen, und
in der flackernden Höhle seiner Dunkelheit antwortete ich
flüsternd.
»Bis wir beide zu Asche verbrennen.«