35
Hogmanay
Das Jahr ging klar und kalt zu Ende, und ein
kleiner, heller Mond stieg hoch am schwarz-violetten Himmel auf und
überflutete die Schlupfwinkel und Pfade des Berges mit Licht. Das
war auch gut so, denn die Leute kamen aus ganz Fraser’s Ridge - und
manche sogar von weiter her -, um Hogmanay im »Herrenhaus« zu
feiern.
Die Männer hatten die neue Scheune ausgeräumt und
zum Tanzen mit frischem Stroh ausgelegt. Jigs, Reels, Strathspeys -
und eine ganze Reihe anderer Tänze, deren Namen ich nicht kannte,
die aber alle so aussahen, als würden sie Spaß machen - wurden im
Licht von Bärenfettlaternen getanzt, begleitet von Evan Lindsays
kratziger Geige und der quietschenden Holzflöte seines Bruders
Murdo, während der Herzschlag von Kennys Bodhran den Rhythmus
vorgab.
Thurlo Guthries betagter Vater hatte außerdem
seinen Dudelsack mitgebracht - Uilleann Pipes, die fast
genauso heruntergekommen aussahen wie Mr. Guthrie, die aber einen
schönen Ton erzeugten. Manchmal stimmten die Töne seiner
Melodiepfeife mit der Vorstellung überein, die die Lindsays von
einer Melodie hatten, manchmal auch nicht, aber im Großen und
Ganzen hatten sie eine fröhliche Wirkung, und an diesem Punkt der
Festivitäten war bereits so viel Whisky konsumiert worden, dass es
niemanden mehr störte.
Nach ein oder zwei Stunden wirbelte mir vor lauter
Whisky und wilden Reels das Blut im Kopf herum wie das Wasser in
einer Waschmaschine. Am Ende eines solchen Tanzes schwankte ich
daher von der Tanzfläche, lehnte mich an einen der Stützbalken der
Scheune und schloss ein Auge, um das Schwindelgefühl zu
stoppen.
Als mich jemand an meiner blinden Seite anstupste,
öffnete ich das Auge, und Jamie kam zum Vorschein. Er hielt zwei
bis zum Rand gefüllte Becher in den Händen. Erhitzt und durstig,
wie ich war, interessierte mich nicht, was sie enthielten, solange
es nur nass war. Zum Glück war es Cidre, und ich stürzte ihn
hinunter.
»Wenn du ihn so trinkst, fällst du mir noch um,
Sassenach«, sagte er, während er sich seines eigenen Getränks auf
dieselbe Weise entledigte. Er war rot und verschwitzt vom Tanzen,
aber seine Augen glitzerten, als er mich angrinste.
»Unsinn«, sagte ich. Mit ein wenig Cidre als
Ballast hatte der Raum aufgehört, sich zu drehen, und ich war
bester Laune, wenn mir auch ziemlich heiß war. »Wie viele Leute
sind hier drinnen, was meinst du?«
»Achtundsechzig, beim letzten Nachzählen.« Er
lehnte sich neben mir zurück und betrachtete die wirbelnde Menge
mit einem Ausdruck tiefer Zufriedenheit.
»Aber es kommen und gehen ständig welche, deswegen kann ich es
nicht genau sagen. Und ich habe die Kinder nicht mitgezählt«, fügte
er hinzu und machte eine kleine Bewegung, um eine Kollision mit
einem Trio kleiner Jungen zu vermeiden, die durch die Menge
flitzten und kichernd an uns vorbeitobten.
Heuballen waren im Dunklen an den Wänden der
Scheune aufgestapelt; die Kinder, die zu klein waren, um wach zu
bleiben, lagen wie die Kätzchen darauf zusammengerollt. Das
flackernde Laternenlicht fing sich in etwas rotgolden und seidig
Schimmerndem; Jemmy schlief tief und fest unter seiner Decke und
ließ sich offensichtlich von dem Lärm angenehm einlullen. Ich sah,
wie Brianna die Tanzfläche verließ und ihm kurz prüfend die Hand
auflegte, dann wandte sie sich wieder um. Roger hielt ihr die Hand
entgegen, dunkel und lächelnd, und sie ergriff sie lachend und ließ
sich in die stampfende Masse zurück wirbeln.
Es herrschte tatsächlich ein stetes Kommen und
Gehen - vor allem unter den kleinen Gruppen junger Leute und den
verliebten Pärchen. Draußen war es eiskalt und frostklar, aber die
Kälte machte das Kuscheln mit einem wärmenden Partner nur noch
verlockender. Einer der älteren MacLeodjungen kam an uns vorbei,
den Arm um ein viel jüngeres Mädchen gelegt - eine der Enkeltöchter
des alten Guthrie, dachte ich; er hatte drei davon, die sich alle
ziemlich ähnlich sahen -, und als Jamie jovial etwas auf Gälisch zu
ihm sagte, bekam er rote Ohren. Das Mädchen war zwar schon vom
Tanzen errötet, lief aber ebenfalls puterrot an.
»Was hast du zu ihnen gesagt?«
»Das kann man nicht übersetzen«, sagte er und schob
mir seine Hand ins Kreuz. Er pulsierte vor Hitze und Whisky und
leuchtete vor Glück; wenn ich ihn nur ansah, wurde mir ganz warm
ums Herz. Er sah das und lächelte zu mir hinab, und die Hitze
seiner Hand brannte sich durch den Stoff meines Kleides.
»Möchtest du einen Moment nach draußen gehen,
Sassenach?«, sagte er mit leiser, ausgesprochen suggestiver
Stimme.
»Jetzt, wo du es sagst... ja«, sagte ich.
»Vielleicht aber noch nicht sofort?« Ich wies mit einer
Kopfbewegung an ihm vorbei, und er drehte sich um und sah ein
Häuflein älterer Damen an der Wand auf einer Bank sitzen. Sie
betrachteten uns mit den glänzenden Augen einer neugierigen
Krähenschar. Jamie winkte und lächelte ihnen zu, und sie brachen
mit roten Gesichtern in Gekicher aus. Dann wandte er sich seufzend
wieder zu mir zurück.
»Aye, well. Dann eben später... nach dem
First-Footing vielleicht.«
Die jüngste Tanzrunde ging zu Ende, und es folgte
ein allgemeiner Ansturm auf die Wanne mit dem Cidre am anderen Ende
der Scheune, die von Mr. Wemyss gehütet wurde. Die Tänzer
umdrängten sie wie ein durstiger Wespenschwarm, so dass von Mr.
Wemyss nicht mehr als sein Scheitel zu sehen war, dessen helles
Haar im Schein der Laternen fast weiß wirkte.
Daraufhin hielt ich nach Lizzie Ausschau, um zu
sehen, ob sie sich amüsierte. Offensichtlich war es so; sie hielt
auf einem Heuballen Hof, umringt von vier oder fünf Bauernjungen,
deren Verhalten dem der Tänzer an der Cidrewanne nicht unähnlich
war.
»Wer ist denn der große Bursche?«, fragte ich
Jamie, nachdem ich ihn auf die kleine Versammlung aufmerksam
gemacht hatte. »Ich kenne ihn gar nicht.« Er kniff die Augen ein
wenig zusammen und warf einen Blick hinüber.
»Oh«, sagte er und entspannte sich. »Das ist Jacob
Schnell. Er ist mit einem Freund aus Salem hier; sie sind mit den
Muellers gekommen.«
»Wirklich.« Bis Salem war es eine ordentliche
Strecke; fast dreißig Meilen. Ich fragte mich, ob er nur durch das
Fest angezogen worden war. Ich sah mich nach Tommy Mueller um, den
ich insgeheim als möglichen Partner für Lizzie im Kopf hatte, aber
ich sah ihn nirgendwo in der Menge.
»Weißt du irgendetwas über diesen Schnell?«, fragte
ich, während ich den Jungen kritisch betrachtete. Er war ein oder
zwei Jahre älter als die anderen Jungen, die Lizzie umtänzelten,
und ziemlich groß. Sein Gesicht war unauffällig, sah aber
freundlich aus; er hatte einen schweren Knochenbau, und seine
kräftige Taille ließ jetzt schon eine wohlgenährte Plauze in den
mittleren Jahren ahnen.
»Den Jungen selber kenne ich nicht, aber seinem
Onkel bin ich einmal begegnet. Es ist eine anständige Familie; ich
glaube, sein Vater ist Schuster.« Wir warfen beide automatisch
einen Blick auf die Schuhe des jungen Mannes; nicht neu, aber sehr
gute Qualität mit großen, quadratischen Zinnschnallen nach
deutscher Facon.
Der junge Schnell schien sich einen Vorsprung
erarbeitet zu haben; er stand dicht über Lizzie gebeugt und sagte
gerade etwas zu ihr. Sie hatte die Augen fest auf sein Gesicht
gerichtet, und ein konzentriertes Stirnrunzeln zerfurchte die Haut
zwischen ihren hellen Augenbrauen, während sie versuchte
auszumachen, was er zu ihr sagte. Dann bekam sie es heraus, und ihr
Gesicht entspannte sich lachend.
»Ich glaube nicht.« Jamie schüttelte den Kopf,
während er sie mit leichtem Stirnrunzeln beobachtete. »Seine Leute
sind Herrnhuter; sie würden nicht zulassen, dass er eine Katholikin
heiratet - und es würde Joseph das Herz brechen, das Mädchen so
weit fort zu schicken.«
Lizzies Vater hing sehr an seiner Tochter, und da
er sie schon einmal fast verloren hatte, war es unwahrscheinlich,
dass er sie an einen Ort verheiraten würde, der so weit entfernt
lag, dass er sie erneut aus den Augen verlor. Dennoch, ich war mir
sicher, dass Joseph Wemyss fast alles tun würde, um sicher zu
stellen, dass seine Tochter glücklich war.
»Es könnte doch sein, dass er mit ihr geht.«
Jamie machte ein trostloses Gesicht bei dieser
Vorstellung, gab mir aber mit einem widerstrebenden Kopfnicken
Recht.
»Möglich. Ich würde ihn nicht gern verlieren, wenn
ich auch annehme, dass Arch Bug vielleicht -«
Mac Dubh!-Rufe unterbrachen ihn.
»Komm schon, Seaumais ruaidh, zeig ihm, wie
es geht!«, rief Evan vom anderen Ende der Scheune und fuchtelte
gebieterisch mit seinem Bogen.
Es hatte eine Tanzpause gegeben, damit die Musiker
wieder zu Atem kommen und etwas trinken konnten, und in der
Zwischenzeit hatten sich einige Männer an einem Schwerttanz
versucht, denn dazu war nur ein Dudelsack oder eine einzelne
Trommel als Begleitung nötig.
Ich hatte kaum darauf geachtet und nur die
ermutigenden oder verächtlichen Rufe aus dieser Ecke der Scheune
gehört. Anscheinend waren die meisten Anwesenden keine großen
Meister in dieser Sportart - der letzte Herr, der sich daran
versucht hatte, war über eines der Schwerter gestolpert und auf die
Nase gefallen; man half ihm gerade wieder auf die Beine. Er war rot
im Gesicht und tauschte lachend scherzhafte Beleidigungen mit
seinen Freunden aus, die ihm das Heu und den Staub aus den Kleidern
klopften.
»Mac Dubh, Mac Dubh!«, riefen Kenny und
Murdo einladend und gestikulierten, aber Jamie winkte lachend
ab.
»Nein, das habe ich schon so lange nicht mehr
gemacht, dass ich...«
»Mac Dubh! Mac Dubh! Mac Dubh!« Kenny schlug
unter rhythmischem Gesang sein Bodhran, und die Gruppe der Männer
um ihn herum stimmte ein. »Mac Dubh! Mac Dubh! Mac
Dubh!«
Jamie warf mir einen kurzen, hilflos flehenden
Blick zu, aber Ronnie Sinclair und Bobby Sutherland steuerten
bereits gezielt auf uns zu. Ich trat lachend aus dem Weg, und jeder
von ihnen packte Jamie an einem Arm, und seine Proteste gingen in
ausgelassenem Gejohle unter, als sie ihn in die Mitte der
Tanzfläche schoben.
Applaus und Beifallsrufe erhoben sich, als sie ihn
an einer freien Stelle postierten, an der das Stroh so fest in den
feuchten Boden gestampft war, dass es eine harte Oberfläche
bildete. Als er sah, dass er keine Wahl hatte, richtete Jamie sich
auf und strich seinen Kilt gerade. Er fing meinen Blick auf,
verdrehte in gespielter Resignation die Augen und begann, sich
seines Rockes, seiner Weste und seiner Schuhe zu entledigen,
während Ronnie in der Hocke herumhüpfte, um die beiden gekreuzten
Breitschwerter zu seinen Füϐen zurechtzulegen.
Kenny Lindsay begann, sanft sein Bodhran zu
schlagen. Er zögerte zwischen den einzelnen Schlägen, ein Geräusch
leiser Spannung. Die Menge murmelte und trat erwartungsvoll auf der
Stelle. Nur mit Hemd, Kilt und Strümpfen bekleidet, verbeugte sich
Jamie ausladend und drehte sich mit der Sonne, um sich viermal zu
verneigen, einmal in jede Himmelsrichtung. Dann stellte er sich
aufrecht hin und nahm seinen Platz direkt über den gekreuzten
Schwertern ein. Seine Hände hoben sich, und seine Finger wiesen
steif in die Höhe.
Neben mir brach Applaus aus, und ich sah, wie
Brianna zwei Finger in den Mund steckte und einen Ohren betäubenden
Beifallspfiff losließ - was ihre unmittelbaren Nachbarn sichtlich
schockierte.
Ich sah, wie Jamie Brianna mit einem schwachen
Lächeln anblickte, und dann fanden seine Augen die meinen wieder.
Das Lächeln verharrte auf seinen Lippen, doch es lag etwas anderes
in seinem Ausdruck; etwas Bedauerndes. Der Schlag des Bodhrans
beschleunigte sich allmählich.
Ein Schwerttanz wurde in den Highlands aus drei
Gründen getanzt. Zur Demonstration und Unterhaltung, wie jetzt
gerade. Als Wettkampf, wie es die jungen Männer beim
gathering taten. Und so, wie man es ursprünglich getan
hatte, als Omen. Wenn man ihn am Vorabend einer Schlacht tanzte,
sagte das Können des Tänzers Erfolg oder Niederlage voraus. In der
Nacht vor Prestonpans, vor Falkirk hatten junge Männer zwischen
gekreuzten Schwertern getanzt. Nicht aber vor Culloden. In der
Nacht vor jener letzten Schlacht hatten keine Lagerfeuer gebrannt,
war niemand in der Stimmung für Barden und Kampflieder gewesen. Es
spielte keine Rolle; damals hatte niemand ein Omen gebraucht.
Jamie schloss einen Moment die Augen, senkte den
Kopf, und die Trommel begann prasselnd zu schlagen.
Ich wusste aus seinen Erzählungen, dass er seinen
ersten Schwerttanz bei einem Wettkampf getanzt hatte und dann -
mehr als einmal - am Vorabend von Schlachten, zuerst in den
Highlands, dann in Frankreich. Die alten Soldaten hatten ihn
gebeten zu tanzen, hatten sein Können als Versicherung geschätzt,
dass sie überleben und triumphieren würden. Da die Lindsays von
seinem Können wussten, musste er auch in Ardsmuir getanzt haben.
Doch das war in der Alten Welt gewesen, in seinem alten
Leben.
Er wusste - und das hatte Roger ihm nicht sagen
müssen -, dass sich die alten Traditionen veränderten, weiter
verändern würden. Dies war eine neue Welt, und der Schwerttanz
würde nie wieder im Ernst getanzt werden, weil der Tänzer ein Omen
wünschte und die alten Götter des Krieges und Blutes um ihre Gunst
bat.
Seine Augen öffneten sich, und sein Kopf fuhr auf.
Der Schlegel traf mit einem abrupten Knall auf die Trommel, und mit
einem Ausruf der Menge begann der Tanz. Seine Füße berührten den
fest gestampften Boden im Norden und im Süden, im Osten und im
Westen, und sie landeten wie der Blitz zwischen den
Schwertern.
Seine Füße bewegten sich geräuschlos und
zielsicher, und sein Schatten ragte hinter ihm an der Wand auf und
tanzte mit, die langen Arme hoch erhoben. Sein Gesicht blickte
immer noch zu mir, doch er sah mich nicht länger, dessen war ich
mir sicher.
Die Beinmuskeln unter seinem Kiltsaum waren so
kräftig wie die eines flüchtenden Hirsches, und er tanzte mit dem
ganzen Können des Kriegers, der er gewesen, der er nach wie vor
war. Doch ich hatte das Gefühl, dass er
jetzt nur noch um der Erinnerung willen tanzte, damit seine
Zuschauer es nicht vergaßen; er tanzte, und der Schweiß flog ihm
von der Stirn, und der Blick in seinen Augen war unaussprechlich
fern.
Die Leute redeten immer noch davon, als wir uns
kurz vor Mitternacht vor dem First Footing zu heißem Gebäck,
Bier und Cidre ins Haus zurückzogen.
Mrs. Bug brachte einen Korb mit Äpfeln zum
Vorschein und versammelte alle jungen, unverheirateten Mädchen in
einer Ecke der Küche, wo jede - unter großem Gekicher und
verstohlenen Blicken in Richtung der jungen Männer - eine Frucht so
schälte, dass die Schale in einem Stück blieb. Jedes Mädchen warf
seine Schale hinter sich, und dann wirbelte die ganze Gruppe herum
und scharte sich um den Streifen, um zu sehen, was für einem
Buchstaben er ähnlich sah.
Da Apfelschalenstreifen von Natur aus ziemlich
kreisförmig sind, entdeckte man eine ganze Reihe von Cs, Gs und Os
- gute Neuigkeiten für Charley Chisholm und den jungen Geordie
Sutherland, während man allgemein spekulierte, ob ein »O« wohl
»Angus Og« bedeuten konnte, denn Angus Og MacLeod war ein
fröhlicher Junge, der sehr beliebt war, während der einzige »Owen«
ein älterer Witwer war, der ungefähr einsfünfzig groß war und ein
großes Geschwür im Gesicht hatte.
Ich hatte Jemmy nach oben gebracht, um ihn ins Bett
zu stecken, und nachdem ich seinen völlig entspannten,
schnarchenden Körper in die Wiege gelegt hatte, kam ich genau
rechtzeitig wieder nach unten, um zu sehen, wie Lizzie ihre Schale
warf.
»C!«, riefen zwei der Guthriemädchen im Chor, die
fast mit den Köpfen aneinander stießen, als sie sich bückten, um
die Schale zu betrachten.
»Nein, nein, es ist ein J!«
Nachdem ein Appell an Mrs. Bug als die anwesende
Expertin ergangen war, bückte sie sich und beäugte den roten
Schalestreifen mit schief gelegtem Kopf wie ein Rotkehlchen bei der
Betrachtung eines in Frage kommenden Wurms.
»Das ist allerdings ein J, keine Frage«, urteilte
sie und richtete sich auf, und die Gruppe brach in Gekicher aus und
drehte sich geschlossen um, um John Lowry anzustarren, einen jungen
Farmer aus Woolam’s Mill, der sich völlig verblüfft nach ihnen
umsah.
Aus dem Augenwinkel sah ich es rot aufblitzen, und
als ich mich umdrehte, sah ich Brianna in der Tür zum Flur stehen.
Sie winkte mich herbei, und ich eilte zu ihr.
»Roger ist fertig und könnte losgehen, aber wir
konnten das gemahlene Salz nicht finden; es war nicht in der
Vorratskammer. Hast du es in deinem Sprechzimmer?««
»Oh! Ja, das habe ich«, sagte ich schuldbewusst.
»Ich habe es zum Trocknen von Schlangenwurz benutzt und vergessen,
es zurückzustellen.«
Gäste drängten sich auf den Verandas, standen an
den Wänden des breiten Flures und kamen aus der Küche geströmt.
Alles redete, trank und aϐ, und ich schlängelte mich vorsichtig
hinter Brianna durch das Gedränge auf mein Sprechzimmer zu,
tauschte Grüße aus, während ich in meine Richtung geschwenkten
Cidrebechern auswich und auf Gebäckkrümel trat.
Das Sprechzimmer selbst war allerdings so gut wie
leer; die Leute mieden es lieber - aus Aberglauben, schmerzhafter
Erinnerung oder schlichtem Argwohn -, und da ich den Raum dunkel
gelassen und kein Feuer angezündet hatte, lud ich sie auch nicht
zum Eintreten ein. Auch jetzt brannte nur eine Kerze in dem Zimmer,
und es war niemand da außer Roger, der in den Utensilien
herumstöberte, die ich auf der Arbeitsfläche liegen gelassen
hatte.
Als ich eintrat, blickte er auf und lächelte. Vom
Tanzen noch schwach errötet, hatte er seinen Rock wieder angezogen
und sich einen Wollschal um den Hals gewickelt; sein Umhang hing
neben ihm über dem Stuhl. Der Brauch wollte es so, dass sich als
First Foot nach Hogmanay am besten ein hoch gewachsener, gut
aussehender, dunkelhaariger Mann eignete; einen solchen Mann nach
Mitternacht als den ersten Besucher zu begrüßen, der die heimische
Schwelle überschritt, brachte dem Haus im kommenden Jahr
Glück.
Da Roger ohne Zweifel der größte - und mit Abstand
best aussehendste - dunkelhaarige Mann in Reichweite war, hatte man
ihn zum First Foot gewählt, nicht nur für das Herrenhaus,
wie die Leute es nannten, sondern auch für die Häuser in der
näheren Umgebung. Fergus und Marsali und die anderen, die in der
Nähe wohnten, waren bereits nach Hause geeilt, um zur Begrüßung des
First Foot bereit zu sein, wenn er kam.
Ein rothaariger Mann dagegen brachte als First
Foot fürchterliches Unglück, und man hatte Jamie in sein
Studierzimmer verbannt, wo ihn die Lindsaybrüder unter großem Hallo
bewachten, denn sie sollten dafür sorgen, dass er bis nach
Mitternacht sicher verwahrt blieb. Es gab zwar von hier bis Cross
Creek keine einzige Standuhr, aber der alte Mr. Guthrie hatte eine
Taschenuhr, die noch älter war als er selbst; dieses Instrument
würde uns den mystischen Moment anzeigen, in dem das Jahr dem
nächsten Platz machte. Angesichts der Tatsache, dass diese Uhr dazu
neigte, stehen zu bleiben, bezweifelte ich, dass dies mehr als eine
symbolische Ankündigung sein würde, aber das reichte ja schließlich
auch.
»Zehn vor zwölf«, verkündete Brianna, als sie
hinter mir in das Sprechzimmer platzte, ihren Umhang ebenfalls über
dem Arm. »Ich habe gerade auf Mr. Guthries Uhr nachgesehen.«
»Zeit genug. Kommst du etwa mit?« Roger grinste
Brianna an, als er ihren Umhang sah.
»Soll das ein Witz sein? Ich bin schon seit Jahren
nicht mehr bis nach Mitternacht von zu Hause weg geblieben.« Sie
erwiderte sein Grinsen und schwang sich den Umhang um die
Schultern. »Hast du alles?«
»Bis auf das Salz.« Roger wies auf einen
Leinenbeutel auf der Arbeitsfläche.
Ein First Foot brachte Geschenke mit ins Haus: ein Ei, ein
Stückchen Holz, eine Prise Salz - und etwas Whisky, damit sicher
gestellt war, dass es dem Haushalt im kommenden Jahr nicht am
Notwendigsten mangeln würde.
»Gut. Wo habe ich nur - oh, Himmel!« Als ich auf
der Suche nach dem Salz die Schranktür aufschlug, sah ich mich
einem glühenden Augenpaar gegenüber, das mich aus der Dunkelheit
anfunkelte.
»Ach du meine Güte.« Ich legte mir eine Hand auf
die Brust, um mein Herz am Herausspringen zu hindern, und winkte
mit der anderen schwach in Rogers Richtung, denn bei meinem Ausruf
war er aufgesprungen, zu meiner Verteidigung bereit. »Keine Sorge -
es ist bloß die Katze.«
Adso war vor der Party geflüchtet und hatte sich
die Überreste einer frisch erlegten Maus als Gesellschaft
mitgenommen. Er fauchte mich an, da er offensichtlich glaubte, ich
wollte ihm diese Delikatesse wegschnappen, aber ich schob ihn
energisch beiseite und zog den Beutel mit dem gemahlenen Salz
hinter seinem pelzigen Hintern hervor.
Ich schloss die Schranktür wieder und überließ Adso
seinem Festmahl, um Roger das Salz zu geben. Er nahm es entgegen
und legte den Gegenstand hin, den er in der Hand gehabt
hatte.
»Wo hast du denn das alte Weiblein her?«, fragte er
und wies mit dem Kinn auf den Gegenstand, während er das Salz in
seine Tasche steckte. Ich blickte zur Arbeitsfläche und sah, dass
er die kleine, rosafarbene Steinfigur betrachtet hatte, die Mrs.
Bug mir gegeben hatte.
»Von Mrs. Bug«, erwiderte ich. »Sie sagt, es ist
ein Fruchtbarkeitszauber - und so sieht es auch aus. Dann ist es
also sehr alt?« Ich hatte mir das schon gedacht, und Rogers
Interesse bestätigte mir meinen Eindruck.
Er nickte, den Blick immer noch auf die Figur
gerichtet.
»Sehr alt. Die Stücke, die ich in Museen gesehen
habe, werden auf mehrere tausend Jahre geschätzt.« Er zeichnete die
kugelförmige Umrisse ehrfürchtig mit dem Zeigefinger nach.
Brianna trat näher, und ohne zu überlegen legte ich
ihr die Hand auf den Arm.
»Was denn?«, sagte sie und wandte mir das Gesicht
zu, um mich anzulächeln. »Soll ich es nicht anfassen? Funktioniert
es denn so gut?«
»Nein, natürlich nicht.«
Ich zog meine Hand fort. Ich lachte zwar, fühlte
mich aber sehr verlegen. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass es
mir tatsächlich lieber war, wenn sie die Figur nicht
berührte, und ich war erleichtert, als sie sich nur über die
Arbeitsfläche beugte, um sie zu betrachten, sie aber liegen ließ.
Rogers Blick war ebenfalls auf die Figur gerichtet - oder vielmehr
sah er Brianna an und hatte seine Augen mit einer seltsamen
Intensität auf ihren Hinterkopf gerichtet. Ich konnte mir nahezu
vorstellen, dass er sie genauso heftig beschwor, die Figur
anzufassen, wie ich sie beschwor, es nicht zu tun.
Beauchamp, sagte ich schweigend zu mir
selbst, du hast heute Abend zu
viel getrunken. Dennoch streckte ich impulsiv die Hand aus,
ergriff die Figur und ließ sie in meine Tasche fallen.
»Komm schon! Wir müssen los!« Da ich die
merkwürdige Stimmung des Augenblicks abrupt zerstört hatte,
richtete Brianna sich auf und wandte sich drängend an Roger.
»Aye, gut. Dann lass uns gehen.« Er schlang sich
die Tasche über die Schulter und lächelte mich an, dann ergriff er
ihren Arm, und sie verschwanden und ließen die Sprechzimmertür
hinter sich zufallen.
Ich löschte die Kerze und war schon im Begriff,
ihnen zu folgen, doch dann hielt ich inne, denn ich zögerte
plötzlich, mich sofort wieder in das Chaos der Feiernden zu
stürzen.
Ich konnte spüren, dass das ganze Haus in Bewegung
war, dass es mich pulsierend umschloss, und unter der Tür strömte
das Licht aus dem Flur herein. In der Stille spürte ich das Gewicht
der kleinen Figur in meiner Tasche und drückte sie, bis ich ihren
harten Umriss an meinem Bein fühlte.
Der erste Januar hat überhaupt nichts Besonderes an
sich, abgesehen von der Bedeutung, die wir ihm verleihen. Die
Altvorderen feierten das neue Jahr am Imbolc, Anfang Februar, wenn
der Winter nachlässt und das Licht wieder zurückzukehren beginnt -
oder im Frühling am Tag der Tag-und-Nachtgleiche, wenn die Welt
zwischen den Mächten der Finsternis und des Lichtes im
Gleichgewicht ist. Und doch stand ich dort in der Dunkelheit,
lauschte dem Kauen und Schmatzen der Katze im Schrank und spürte,
wie die Energie der Erde sich unter meinen Füßen verschob, als das
Jahr - oder zumindest irgendetwas - sich zu wechseln anschickte.
Ich hörte den Lärm und spürte die Menschenmenge in meiner Nähe, und
doch stand ich allein da, während das Gefühl in mir aufstieg und in
meinem Blut summte.
Das Seltsame daran war, dass es mir überhaupt nicht
fremd vorkam. Es war nichts, das von außerhalb meiner selbst kam,
sondern nur die Bestätigung von etwas, das ich bereits in mir trug
und dessen ich mir bewusst war, wenn ich auch keine Ahnung hatte,
wie ich es nennen sollte. Doch Mitternacht näherte sich rasch.
Immer noch voller Fragen, öffnete ich die Tür und trat in den hell
erleuchteten, lärmenden Flur.
Ein lauter Ruf von der anderen Flurseite verkündete
die Ankunft der magischen Stunde gemäß Mr. Guthries Zeitmesser, und
die Männer kamen schubsend, drängelnd und scherzend aus Jamies
Studierzimmer und richteten ihre Gesichter erwartungsvoll auf die
Tür.
Nichts geschah. Hatte Roger sich angesichts des
Gedränges in der Küche entschlossen, die Hintertür zu nehmen? Ich
drehte mich um und blickte den Flur hinunter, doch nein, auch in
der Küchentür drängten sich die Gesichter und sahen mir
erwartungsvoll entgegen.
Immer noch kein Klopfen an der Tür. Im Flur wurde
es unruhig, und die Gespräche verstummten, eine jener peinlichen
Pausen, in denen niemand etwas sagen möchte, weil er befürchtet,
plötzlich unterbrochen zu werden.
Dann hörte ich das Geräusch von Schritten auf der
Veranda und ein rasches Klopfen, eins-zwei-drei. Jamie trat als
Hausherr vor, um die Tür aufzureißen und den First Foot
willkommen zu heißen. Ich stand dicht genug bei ihm, um den
erstaunten Ausdruck in seinem Gesicht zu erkennen, und sah rasch
nach, was der Grund dafür war.
An Stelle von Roger und Brianna standen zwei
kleinere Gestalten auf der Veranda. Hager und zerlumpt, aber
definitiv dunkelhaarig, traten die beiden Beardsleyzwillinge auf
Jamies Wink schüchtern gemeinsam ein.
»Ein frohes, neues Jahr, Mr. Fräser«, sagte Josiah
krächzend wie ein Ochsenfrosch. Er verbeugte sich höflich vor mir,
ohne den Arm seines Bruders loszulassen. »Da sind wir.«
Man war sich allgemein einig, dass dunkelhaarige
Zwillinge ein ausgesprochen gutes Omen waren, da sie unzweifelhaft
doppelt so viel Glück brachten wie ein einzelner First Foot.
Dennoch machten sich Roger und Brianna - die den zögernden
Zwillingen auf dem Hof begegnet waren und sie vorgeschickt hatten -
auf den Weg, um für die anderen Häuser auf dem Berg ihr Möglichstes
zu tun, nachdem man Brianna ausdrücklich gewarnt hatte, kein Haus
zu betreten, bevor nicht Roger die Schwelle überschritten
hatte.
Glück bringend oder nicht, das Auftauchen der
Beardsleys sorgte für einiges Gerede. Jeder hatte von Aaron
Beardsleys Tod gehört - das heißt, die offizielle Version, welche
lautete, dass er an einer Apoplexie gestorben war -, und alle
wussten vom mysteriösen Verschwinden seiner Frau, doch die Ankunft
der Zwillinge hatte nun zur Folge, dass die ganze Angelegenheit
erneut hervorgekramt und beredet wurde. Niemand wusste, was die
Jungen in der Zeit zwischen der Milizexpedition und Neujahr gemacht
hatten; »wandern«, war alles, was Josiah mit seiner Krächzstimme
sagte, als man ihn fragte-und sein Bruder Keziah sagte überhaupt
nichts, so dass es aller Welt frei stand, über den Indianerhändler
und seine Frau zu reden, bis das Thema erschöpft war und man es
wechseln konnte.
Mrs. Bug nahm die Beardsleys auf der Stelle unter
ihre Fittiche und brachte sie in die Küche, wo sie sich waschen,
aufwärmen und satt essen konnten. Die Hälfe der Gäste war nach
Hause gegangen, um Roger und Brianna zu empfangen; diejenigen, die
erst am Morgen gehen würden, teilten sich in mehrere Gruppen auf.
Die jüngeren Leute kehrten wieder in die Scheune zurück, um zu
tanzen - oder um zwischen den Heuballen ein wenig Zurückgezogenheit
zu suchen. Die älteren saßen am Kamin, um Erinnerungen
auszutauschen, und diejenigen, die es mit dem Whisky oder dem Tanz
übertrieben hatten, rollten sich in der nächstbesten - oder
nächstschlechtesten - Ecke zum Schlafen zusammen.
Ich fand Jamie in seinem Studierzimmer, mit
geschlossenen Augen in seinen Sessel zurückgelehnt, irgendeine
Zeichnung vor sich auf dem Tisch. Er schlief nicht und öffnete die
Augen, als er meine Schritte hörte.
»Frohes, neues Jahr«, sagte ich leise und beugte
mich über ihn, um ihn zu küssen.
»Dir auch ein frohes, neues Jahr, a nighean
donn.« Er war warm und roch schwach nach Bier und getrocknetem
Schweiß.
»Möchtest du immer noch nach draußen gehen?«,
fragte ich mit einem Blick zum Fenster. Der Mond war schon lange
untergegangen, und die Sterne brannten klein und kalt am Himmel.
Der Hof draußen war nackt und schwarz.
»Nein«, sagte er unverblümt und rieb sich mit der
Hand über das Gesicht. »Ich möchte ins Bett gehen.« Er gähnte und
blinzelte, während er versuchte, die zerzausten Haare zu glätten,
die von seinem Kopf abstanden. »Aber ich möchte, dass du
mitkommst«, fügte er großzügig hinzu.
»Nichts, was ich lieber täte«, versicherte ich ihm.
»Was ist denn das?« Ich trat von hinten um ihn herum und warf über
seine Schulter hinweg einen Blick auf die Zeichnung, die eine Art
Grundriss zu sein schien, dessen Ränder mit mathematischen
Berechnungen bekritzelt waren.
Er setzte sich auf und sah jetzt etwas wacher
aus.
»Ah. Nun, es ist ein Geschenk von unserem Roger für
Brianna, zu Hogmanay.«
»Er baut ihr ein Haus? Aber sie-«
»Nicht ihr.« Er grinste zu mir auf, beide Hände
flach auf die Kanten der Zeichnung gelegt. »Den Chisholms.«
Listig, wie es sonst nur Jamie konnte, hatte sich
Roger bei den Siedlern auf dem Berg umgehört und eine Vereinbarung
zwischen Ronnie Sinclair und Geordie Chisholm arrangiert.
Ronnie besaß ein sehr geräumiges Blockhaus neben
seiner Küferwerkstatt. Die Vereinbarung besagte nun, dass Ronnie,
der unverheiratet war, in die Werkstatt ziehen würde, wo er
problemlos schlafen konnte. Daraufhin würden die Chisholms in
Ronnies Blockhaus ziehen, und sobald das Wetter es erlaubte, würden
sie zwei Zimmer anbauen, wie in dem Plan auf Jamies Tisch
vorgegeben. Außerdem würde Mrs. Chisholm für Ronnie kochen und
seine Wäsche waschen. Wenn die Chisholms im Frühjahr ihre eigene
Heimstatt übernahmen und dort ein Haus bauten, würde Ronnie wieder
in sein frisch erweitertes Blockhaus ziehen - und er hoffte, dass
die Pracht seines verbesserten Quartiers ausreichen würde, um
irgendeine junge Frau dazu zu bewegen, einen Heiratsantrag von ihm
anzunehmen.
»Und unterdessen bekommen Roger und Brianna ihre
Hütte zurück, Lizzie und ihr Vater brauchen nicht mehr im
Sprechzimmer zu schlafen, und alles ist in Butter!« Ich drückte ihm
entzückt die Schultern. »Das ist ja eine wunderbare Abmachung. Hast
du den Plan gezeichnet?«
»Aye. Geordie ist kein Zimmermann, und ich wollte
nicht, dass ihm das Haus über dem Kopf zusammenfällt.« Er blinzelte
den Plan an, zog einen Federkiel aus dem Glas, öffnete den
Tintenbehälter und nahm eine kleine Verbesserung an einer der
Zahlen vor.
»So«, sagte er und ließ den Federkiel sinken. »So
geht es. Unser Roger will es Brianna zeigen, wenn sie heute Nacht
heim kommen; ich habe gesagt, ich lasse den Plan für ihn
liegen.«
»Sie wird begeistert sein.« Ich lehnte mich an
seine Sessellehne und massierte ihm mit beiden Händen die
Schultern. Er lehnte sich zurück, bis das Gewicht seines Kopfes
warm gegen meinen Bauch drückte, und schloss vor Vergnügen seufzend
die Augen.
»Kopfschmerzen?«, fragte ich leise, als ich die
senkrechte Falte zwischen seinen Augen sah.
»Aye, ein bisschen. Oh, aye, das ist schön.« Meine
Hände waren jetzt an seinem Kopf angekommen und rieben ihm sanft
die Schläfen. Für jeden anderen hätte ich das Lavendelöl holen
können, aber nicht für ihn.
Das Haus war still geworden, obwohl ich in der
Küche noch immer Stimmengebrumm hören konnte. Jenseits davon
schwebte der hohe, liebliche Klang von Evans Geige durch die kalte,
stille Luft.
»My Brown-Haired Maid«, sagte ich und
schwelgte seufzend in Erinnerungen. »Ich liebe dieses Lied.« Ich
löste das Band, das seinen Zopf zusammen hielt, und entflocht sein
Haar. Es fühlte sich warm und weich an, als ich es genießerisch mit
den Fingern ausbreitete.
»Es ist wirklich merkwürdig, dass du kein Ohr für
Musik hast«, sagte ich, um ihn durch eine Unterhaltung abzulenken,
während ich seine Augenbrauen glatt strich, indem ich dicht am Rand
des Auges Druck ausübte. »Ich weiß nicht, warum, aber
mathematisches Talent tritt oft gleichzeitig mit musikalischem auf.
Brianna hat beides.«
»Ich früher auch«, sagte er geistesabwesend.
»Was?«
»Ich hatte früher auch beides.« Er seufzte und
beugte sich vor, um seinen Hals zu recken, die Ellbogen auf den
Tisch gestützt. »Oh, Himmel. Bitte. Oh, aye. Ah.«
»Wirklich?« Ich massierte seinen Hals und seine
Schultern und knetete seine verspannten Muskeln fest durch den
Stoff. »Du meinst, du konntest früher singen?« Er war die
Zielscheibe des Gespötts der ganzen Familie; Jamie hatte zwar eine
schöne Sprechstimme, aber sein Gefühl für Töne war unberechenbar,
und jedes Lied, das er sang, fiel so unmelodisch aus, dass er damit
Babys vor Schreck in den Schlaf versetzte, anstatt sie
einzulullen.
»Nun ja, das vielleicht nicht gerade.« Ich konnte
das Lächeln in seiner Stimme hören, gedämpft durch sein Haar, das
ihm vor das Gesicht gefallen war. »Aber ich konnte einzelne
Melodien unterscheiden - oder sagen, ob jemand gut oder schlecht
sang. Jetzt ist alles nur noch ein Lärmen und Kreischen.« Er zuckte
gleichmütig mit den Achseln.
»Was ist denn geschehen?«, fragte ich. »Und
wann?«
»Oh, das war, bevor wir uns kennen gelernt haben,
Sassenach. Ziemlich kurz davor sogar.« Er hob eine Hand und
streckte sie nach seinem Hinterkopf
aus. »Erinnerst du dich noch, dass ich in Frankreich gewesen war?
Ich war gerade mit Dougal MacKenzie und seinen Männern auf dem
Rückweg, als Murtagh dich beim Spazierengehen im Hemd aufgelesen
hat...«
Er sprach unbeschwert, doch meine Finger hatten die
alte Narbe unter seinem Haar gefunden. Jetzt war sie kaum mehr als
fadendick, der wulstige Riss zu einer haarfeinen Linie verheilt.
Doch es war einmal eine fast zwanzig Zentimeter breite Wunde
gewesen, die durch eine Axt verursacht worden war. Sie hatte ihn
damals fast umgebracht, das wusste ich; in einer französischen
Abtei war er monatelang dem Tod nah gewesen und hatte unter
lähmenden Kopfschmerzen gelitten.
»Das war es? Du meinst... seit dieser Verletzung
kannst du keine Musik mehr hören?«
Seine Schultern hoben sich zu einem kurzen
Achselzucken.
»Ich höre keine Musik außer dem Klang der
Trommeln«, sagte er. »Den Rhythmus spüre ich noch, aber die
Melodien sind fort.«
Ich hielt inne, die Hände auf seinen Schultern, und
er drehte sich um und sah mich lächelnd an, versuchte, es
scherzhaft zu nehmen.
»Mach dir keine Gedanken deswegen, Sassenach; es
ist nicht wichtig. Ich habe auch nicht gut gesungen, als ich es
noch hören konnte. Und immerhin hat Dougal mich nicht
umgebracht.«
»Dougal? Also meinst du, dass es Dougal war?« Die
Gewissheit in seiner Stimme überraschte mich. Er hatte damals den
Verdacht gehabt, dass es vielleicht sein Onkel Dougal gewesen war,
der den mörderischen Angriff auf ihn unternommen hatte - und dann,
von seinen eigenen Männern überrascht, bevor er die Tat zu Ende
führen konnte, stattdessen vorgegeben hatte, ihn verletzt gefunden
zu haben. Aber es hatte keine Beweise dafür gegeben.
»Oh, aye.« Seine Miene war ebenfalls überrascht,
doch dann veränderte sie sich, als er begriff. »Daran habe ich gar
nicht gedacht - du konntest nicht verstehen, was er gesagt hat,
nicht wahr? Als er gestorben ist, meine ich - Dougal.« Meine Hände
ruhten immer noch auf seinen Schultern, und ich spürte, wie er
unwillkürlich erschauerte. Der Schauer wanderte durch meine Hände
an meinen Armen entlang, und meine Haare sträubten sich bis hin zum
Nacken.
Ich konnte das Speicherzimmer in Culloden House so
deutlich vor mir sehen, als spielte sich die Szene gerade jetzt vor
mir ab. Die ausrangierten Möbelstücke, die Gegenstände, die im Lauf
des Kampfes über den Boden rollten - und auf dem Boden zu meinen
Füßen hockte Jamie und rang mit Dougals Körper, der sich aufbäumte
und reckte, während Blut und Luft aus der Wunde schäumten, die
Jamies Dolch ihm an der Kehle beigebracht hatte. Dougals Gesicht,
fleckig und blass, während er verblutete, die Augen tiefschwarz und
fest auf Jamie gerichtet, und sein Mund, der sich lautlos auf
Gälisch bewegte. Und Jamies Gesicht, so weiß wie Dougals, die Augen
an die Lippen des Sterbenden geheftet, während er jene letzte
Botschaft las.
»Was hat er denn gesagt?« Meine Hände klammerten
sich fest an seine Schultern, und er hielt das Gesicht abgewandt,
als sich meine Daumen unter sein Haar schoben, um noch einmal nach
der alten Narbe zu suchen.
»Ganz gleich, ob du der Sohn meiner Schwester
bist - ich wünschte, ich hätte dich damals auf dem Hügel
umgebracht. Denn ich habe von Anfang an gewusst, dass nur einer von
uns überleben kann.« Er sprach gelassen und leise, und die
Emotionslosigkeit seiner Worte löste den Schauer erst recht noch
einmal aus, der diesmal von mir zu ihm übersprang.
Es war still im Studierzimmer. Das Geräusch der
Stimmen in der Küche war zu einem Murmeln abgeflaut, als hätten
sich die Geister der Vergangenheit dort eingefunden, um leise
lachend zu trinken und in Erinnerungen zu schwelgen.
»Das war es also, was du gemeint hast«, sagte ich
leise. »Als du gesagt hast, dass du deinen Frieden mit Dougal
geschlossen hast.«
»Aye.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und
streckte seine Hände aus, die sich warm um meine Handgelenke
legten. »Er hatte nämlich Recht. Es konnte nur einer
überleben, und irgendwann wäre es so oder so dazu gekommen.«
Ich seufzte, und mir fiel eine kleine Bürde der
Schuld von den Schultern. Jamie hatte mit Dougal gekämpft, um mich
zu verteidigen, als er ihn umgebracht hatte, und ich hatte stets
das Gefühl gehabt, dafür verantwortlich zu sein. Doch Dougal hatte
Recht; es stand zu viel zwischen ihnen, und wäre es nicht damals,
am Vorabend von Culloden, zu jenem letzten Konflikt gekommen, so
wäre es ein andermal geschehen.
Jamie drückte meine Handgelenke und drehte sich auf
seinem Stuhl um, ohne meine Hände loszulassen.
»Lass die Toten die Toten begraben«, sagte er
leise. »Die Vergangenheit ist vorbei - die Zukunft noch nicht da.
Und wir sind hier und jetzt zusammen, du und ich.«