35
Hogmanay
Das Jahr ging klar und kalt zu Ende, und ein kleiner, heller Mond stieg hoch am schwarz-violetten Himmel auf und überflutete die Schlupfwinkel und Pfade des Berges mit Licht. Das war auch gut so, denn die Leute kamen aus ganz Fraser’s Ridge - und manche sogar von weiter her -, um Hogmanay im »Herrenhaus« zu feiern.
Die Männer hatten die neue Scheune ausgeräumt und zum Tanzen mit frischem Stroh ausgelegt. Jigs, Reels, Strathspeys - und eine ganze Reihe anderer Tänze, deren Namen ich nicht kannte, die aber alle so aussahen, als würden sie Spaß machen - wurden im Licht von Bärenfettlaternen getanzt, begleitet von Evan Lindsays kratziger Geige und der quietschenden Holzflöte seines Bruders Murdo, während der Herzschlag von Kennys Bodhran den Rhythmus vorgab.
Thurlo Guthries betagter Vater hatte außerdem seinen Dudelsack mitgebracht - Uilleann Pipes, die fast genauso heruntergekommen aussahen wie Mr. Guthrie, die aber einen schönen Ton erzeugten. Manchmal stimmten die Töne seiner Melodiepfeife mit der Vorstellung überein, die die Lindsays von einer Melodie hatten, manchmal auch nicht, aber im Großen und Ganzen hatten sie eine fröhliche Wirkung, und an diesem Punkt der Festivitäten war bereits so viel Whisky konsumiert worden, dass es niemanden mehr störte.
Nach ein oder zwei Stunden wirbelte mir vor lauter Whisky und wilden Reels das Blut im Kopf herum wie das Wasser in einer Waschmaschine. Am Ende eines solchen Tanzes schwankte ich daher von der Tanzfläche, lehnte mich an einen der Stützbalken der Scheune und schloss ein Auge, um das Schwindelgefühl zu stoppen.
Als mich jemand an meiner blinden Seite anstupste, öffnete ich das Auge, und Jamie kam zum Vorschein. Er hielt zwei bis zum Rand gefüllte Becher in den Händen. Erhitzt und durstig, wie ich war, interessierte mich nicht, was sie enthielten, solange es nur nass war. Zum Glück war es Cidre, und ich stürzte ihn hinunter.
»Wenn du ihn so trinkst, fällst du mir noch um, Sassenach«, sagte er, während er sich seines eigenen Getränks auf dieselbe Weise entledigte. Er war rot und verschwitzt vom Tanzen, aber seine Augen glitzerten, als er mich angrinste.
»Unsinn«, sagte ich. Mit ein wenig Cidre als Ballast hatte der Raum aufgehört, sich zu drehen, und ich war bester Laune, wenn mir auch ziemlich heiß war. »Wie viele Leute sind hier drinnen, was meinst du?«
»Achtundsechzig, beim letzten Nachzählen.« Er lehnte sich neben mir zurück und betrachtete die wirbelnde Menge mit einem Ausdruck tiefer Zufriedenheit. »Aber es kommen und gehen ständig welche, deswegen kann ich es nicht genau sagen. Und ich habe die Kinder nicht mitgezählt«, fügte er hinzu und machte eine kleine Bewegung, um eine Kollision mit einem Trio kleiner Jungen zu vermeiden, die durch die Menge flitzten und kichernd an uns vorbeitobten.
Heuballen waren im Dunklen an den Wänden der Scheune aufgestapelt; die Kinder, die zu klein waren, um wach zu bleiben, lagen wie die Kätzchen darauf zusammengerollt. Das flackernde Laternenlicht fing sich in etwas rotgolden und seidig Schimmerndem; Jemmy schlief tief und fest unter seiner Decke und ließ sich offensichtlich von dem Lärm angenehm einlullen. Ich sah, wie Brianna die Tanzfläche verließ und ihm kurz prüfend die Hand auflegte, dann wandte sie sich wieder um. Roger hielt ihr die Hand entgegen, dunkel und lächelnd, und sie ergriff sie lachend und ließ sich in die stampfende Masse zurück wirbeln.
Es herrschte tatsächlich ein stetes Kommen und Gehen - vor allem unter den kleinen Gruppen junger Leute und den verliebten Pärchen. Draußen war es eiskalt und frostklar, aber die Kälte machte das Kuscheln mit einem wärmenden Partner nur noch verlockender. Einer der älteren MacLeodjungen kam an uns vorbei, den Arm um ein viel jüngeres Mädchen gelegt - eine der Enkeltöchter des alten Guthrie, dachte ich; er hatte drei davon, die sich alle ziemlich ähnlich sahen -, und als Jamie jovial etwas auf Gälisch zu ihm sagte, bekam er rote Ohren. Das Mädchen war zwar schon vom Tanzen errötet, lief aber ebenfalls puterrot an.
»Was hast du zu ihnen gesagt?«
»Das kann man nicht übersetzen«, sagte er und schob mir seine Hand ins Kreuz. Er pulsierte vor Hitze und Whisky und leuchtete vor Glück; wenn ich ihn nur ansah, wurde mir ganz warm ums Herz. Er sah das und lächelte zu mir hinab, und die Hitze seiner Hand brannte sich durch den Stoff meines Kleides.
»Möchtest du einen Moment nach draußen gehen, Sassenach?«, sagte er mit leiser, ausgesprochen suggestiver Stimme.
»Jetzt, wo du es sagst... ja«, sagte ich. »Vielleicht aber noch nicht sofort?« Ich wies mit einer Kopfbewegung an ihm vorbei, und er drehte sich um und sah ein Häuflein älterer Damen an der Wand auf einer Bank sitzen. Sie betrachteten uns mit den glänzenden Augen einer neugierigen Krähenschar. Jamie winkte und lächelte ihnen zu, und sie brachen mit roten Gesichtern in Gekicher aus. Dann wandte er sich seufzend wieder zu mir zurück.
»Aye, well. Dann eben später... nach dem First-Footing vielleicht.«
Die jüngste Tanzrunde ging zu Ende, und es folgte ein allgemeiner Ansturm auf die Wanne mit dem Cidre am anderen Ende der Scheune, die von Mr. Wemyss gehütet wurde. Die Tänzer umdrängten sie wie ein durstiger Wespenschwarm, so dass von Mr. Wemyss nicht mehr als sein Scheitel zu sehen war, dessen helles Haar im Schein der Laternen fast weiß wirkte.
Daraufhin hielt ich nach Lizzie Ausschau, um zu sehen, ob sie sich amüsierte. Offensichtlich war es so; sie hielt auf einem Heuballen Hof, umringt von vier oder fünf Bauernjungen, deren Verhalten dem der Tänzer an der Cidrewanne nicht unähnlich war.
»Wer ist denn der große Bursche?«, fragte ich Jamie, nachdem ich ihn auf die kleine Versammlung aufmerksam gemacht hatte. »Ich kenne ihn gar nicht.« Er kniff die Augen ein wenig zusammen und warf einen Blick hinüber.
»Oh«, sagte er und entspannte sich. »Das ist Jacob Schnell. Er ist mit einem Freund aus Salem hier; sie sind mit den Muellers gekommen.«
»Wirklich.« Bis Salem war es eine ordentliche Strecke; fast dreißig Meilen. Ich fragte mich, ob er nur durch das Fest angezogen worden war. Ich sah mich nach Tommy Mueller um, den ich insgeheim als möglichen Partner für Lizzie im Kopf hatte, aber ich sah ihn nirgendwo in der Menge.
»Weißt du irgendetwas über diesen Schnell?«, fragte ich, während ich den Jungen kritisch betrachtete. Er war ein oder zwei Jahre älter als die anderen Jungen, die Lizzie umtänzelten, und ziemlich groß. Sein Gesicht war unauffällig, sah aber freundlich aus; er hatte einen schweren Knochenbau, und seine kräftige Taille ließ jetzt schon eine wohlgenährte Plauze in den mittleren Jahren ahnen.
»Den Jungen selber kenne ich nicht, aber seinem Onkel bin ich einmal begegnet. Es ist eine anständige Familie; ich glaube, sein Vater ist Schuster.« Wir warfen beide automatisch einen Blick auf die Schuhe des jungen Mannes; nicht neu, aber sehr gute Qualität mit großen, quadratischen Zinnschnallen nach deutscher Facon.
Der junge Schnell schien sich einen Vorsprung erarbeitet zu haben; er stand dicht über Lizzie gebeugt und sagte gerade etwas zu ihr. Sie hatte die Augen fest auf sein Gesicht gerichtet, und ein konzentriertes Stirnrunzeln zerfurchte die Haut zwischen ihren hellen Augenbrauen, während sie versuchte auszumachen, was er zu ihr sagte. Dann bekam sie es heraus, und ihr Gesicht entspannte sich lachend.
»Ich glaube nicht.« Jamie schüttelte den Kopf, während er sie mit leichtem Stirnrunzeln beobachtete. »Seine Leute sind Herrnhuter; sie würden nicht zulassen, dass er eine Katholikin heiratet - und es würde Joseph das Herz brechen, das Mädchen so weit fort zu schicken.«
Lizzies Vater hing sehr an seiner Tochter, und da er sie schon einmal fast verloren hatte, war es unwahrscheinlich, dass er sie an einen Ort verheiraten würde, der so weit entfernt lag, dass er sie erneut aus den Augen verlor. Dennoch, ich war mir sicher, dass Joseph Wemyss fast alles tun würde, um sicher zu stellen, dass seine Tochter glücklich war.
»Es könnte doch sein, dass er mit ihr geht.«
Jamie machte ein trostloses Gesicht bei dieser Vorstellung, gab mir aber mit einem widerstrebenden Kopfnicken Recht.
»Möglich. Ich würde ihn nicht gern verlieren, wenn ich auch annehme, dass Arch Bug vielleicht -«
Mac Dubh!-Rufe unterbrachen ihn.
»Komm schon, Seaumais ruaidh, zeig ihm, wie es geht!«, rief Evan vom anderen Ende der Scheune und fuchtelte gebieterisch mit seinem Bogen.
Es hatte eine Tanzpause gegeben, damit die Musiker wieder zu Atem kommen und etwas trinken konnten, und in der Zwischenzeit hatten sich einige Männer an einem Schwerttanz versucht, denn dazu war nur ein Dudelsack oder eine einzelne Trommel als Begleitung nötig.
Ich hatte kaum darauf geachtet und nur die ermutigenden oder verächtlichen Rufe aus dieser Ecke der Scheune gehört. Anscheinend waren die meisten Anwesenden keine großen Meister in dieser Sportart - der letzte Herr, der sich daran versucht hatte, war über eines der Schwerter gestolpert und auf die Nase gefallen; man half ihm gerade wieder auf die Beine. Er war rot im Gesicht und tauschte lachend scherzhafte Beleidigungen mit seinen Freunden aus, die ihm das Heu und den Staub aus den Kleidern klopften.
»Mac Dubh, Mac Dubh!«, riefen Kenny und Murdo einladend und gestikulierten, aber Jamie winkte lachend ab.
»Nein, das habe ich schon so lange nicht mehr gemacht, dass ich...«
»Mac Dubh! Mac Dubh! Mac Dubh!« Kenny schlug unter rhythmischem Gesang sein Bodhran, und die Gruppe der Männer um ihn herum stimmte ein. »Mac Dubh! Mac Dubh! Mac Dubh
Jamie warf mir einen kurzen, hilflos flehenden Blick zu, aber Ronnie Sinclair und Bobby Sutherland steuerten bereits gezielt auf uns zu. Ich trat lachend aus dem Weg, und jeder von ihnen packte Jamie an einem Arm, und seine Proteste gingen in ausgelassenem Gejohle unter, als sie ihn in die Mitte der Tanzfläche schoben.
Applaus und Beifallsrufe erhoben sich, als sie ihn an einer freien Stelle postierten, an der das Stroh so fest in den feuchten Boden gestampft war, dass es eine harte Oberfläche bildete. Als er sah, dass er keine Wahl hatte, richtete Jamie sich auf und strich seinen Kilt gerade. Er fing meinen Blick auf, verdrehte in gespielter Resignation die Augen und begann, sich seines Rockes, seiner Weste und seiner Schuhe zu entledigen, während Ronnie in der Hocke herumhüpfte, um die beiden gekreuzten Breitschwerter zu seinen Füϐen zurechtzulegen.
Kenny Lindsay begann, sanft sein Bodhran zu schlagen. Er zögerte zwischen den einzelnen Schlägen, ein Geräusch leiser Spannung. Die Menge murmelte und trat erwartungsvoll auf der Stelle. Nur mit Hemd, Kilt und Strümpfen bekleidet, verbeugte sich Jamie ausladend und drehte sich mit der Sonne, um sich viermal zu verneigen, einmal in jede Himmelsrichtung. Dann stellte er sich aufrecht hin und nahm seinen Platz direkt über den gekreuzten Schwertern ein. Seine Hände hoben sich, und seine Finger wiesen steif in die Höhe.
Neben mir brach Applaus aus, und ich sah, wie Brianna zwei Finger in den Mund steckte und einen Ohren betäubenden Beifallspfiff losließ - was ihre unmittelbaren Nachbarn sichtlich schockierte.
Ich sah, wie Jamie Brianna mit einem schwachen Lächeln anblickte, und dann fanden seine Augen die meinen wieder. Das Lächeln verharrte auf seinen Lippen, doch es lag etwas anderes in seinem Ausdruck; etwas Bedauerndes. Der Schlag des Bodhrans beschleunigte sich allmählich.
Ein Schwerttanz wurde in den Highlands aus drei Gründen getanzt. Zur Demonstration und Unterhaltung, wie jetzt gerade. Als Wettkampf, wie es die jungen Männer beim gathering taten. Und so, wie man es ursprünglich getan hatte, als Omen. Wenn man ihn am Vorabend einer Schlacht tanzte, sagte das Können des Tänzers Erfolg oder Niederlage voraus. In der Nacht vor Prestonpans, vor Falkirk hatten junge Männer zwischen gekreuzten Schwertern getanzt. Nicht aber vor Culloden. In der Nacht vor jener letzten Schlacht hatten keine Lagerfeuer gebrannt, war niemand in der Stimmung für Barden und Kampflieder gewesen. Es spielte keine Rolle; damals hatte niemand ein Omen gebraucht.
Jamie schloss einen Moment die Augen, senkte den Kopf, und die Trommel begann prasselnd zu schlagen.
Ich wusste aus seinen Erzählungen, dass er seinen ersten Schwerttanz bei einem Wettkampf getanzt hatte und dann - mehr als einmal - am Vorabend von Schlachten, zuerst in den Highlands, dann in Frankreich. Die alten Soldaten hatten ihn gebeten zu tanzen, hatten sein Können als Versicherung geschätzt, dass sie überleben und triumphieren würden. Da die Lindsays von seinem Können wussten, musste er auch in Ardsmuir getanzt haben. Doch das war in der Alten Welt gewesen, in seinem alten Leben.
Er wusste - und das hatte Roger ihm nicht sagen müssen -, dass sich die alten Traditionen veränderten, weiter verändern würden. Dies war eine neue Welt, und der Schwerttanz würde nie wieder im Ernst getanzt werden, weil der Tänzer ein Omen wünschte und die alten Götter des Krieges und Blutes um ihre Gunst bat.
Seine Augen öffneten sich, und sein Kopf fuhr auf. Der Schlegel traf mit einem abrupten Knall auf die Trommel, und mit einem Ausruf der Menge begann der Tanz. Seine Füße berührten den fest gestampften Boden im Norden und im Süden, im Osten und im Westen, und sie landeten wie der Blitz zwischen den Schwertern.
Seine Füße bewegten sich geräuschlos und zielsicher, und sein Schatten ragte hinter ihm an der Wand auf und tanzte mit, die langen Arme hoch erhoben. Sein Gesicht blickte immer noch zu mir, doch er sah mich nicht länger, dessen war ich mir sicher.
Die Beinmuskeln unter seinem Kiltsaum waren so kräftig wie die eines flüchtenden Hirsches, und er tanzte mit dem ganzen Können des Kriegers, der er gewesen, der er nach wie vor war. Doch ich hatte das Gefühl, dass er jetzt nur noch um der Erinnerung willen tanzte, damit seine Zuschauer es nicht vergaßen; er tanzte, und der Schweiß flog ihm von der Stirn, und der Blick in seinen Augen war unaussprechlich fern.
 
Die Leute redeten immer noch davon, als wir uns kurz vor Mitternacht vor dem First Footing zu heißem Gebäck, Bier und Cidre ins Haus zurückzogen.
Mrs. Bug brachte einen Korb mit Äpfeln zum Vorschein und versammelte alle jungen, unverheirateten Mädchen in einer Ecke der Küche, wo jede - unter großem Gekicher und verstohlenen Blicken in Richtung der jungen Männer - eine Frucht so schälte, dass die Schale in einem Stück blieb. Jedes Mädchen warf seine Schale hinter sich, und dann wirbelte die ganze Gruppe herum und scharte sich um den Streifen, um zu sehen, was für einem Buchstaben er ähnlich sah.
Da Apfelschalenstreifen von Natur aus ziemlich kreisförmig sind, entdeckte man eine ganze Reihe von Cs, Gs und Os - gute Neuigkeiten für Charley Chisholm und den jungen Geordie Sutherland, während man allgemein spekulierte, ob ein »O« wohl »Angus Og« bedeuten konnte, denn Angus Og MacLeod war ein fröhlicher Junge, der sehr beliebt war, während der einzige »Owen« ein älterer Witwer war, der ungefähr einsfünfzig groß war und ein großes Geschwür im Gesicht hatte.
Ich hatte Jemmy nach oben gebracht, um ihn ins Bett zu stecken, und nachdem ich seinen völlig entspannten, schnarchenden Körper in die Wiege gelegt hatte, kam ich genau rechtzeitig wieder nach unten, um zu sehen, wie Lizzie ihre Schale warf.
»C!«, riefen zwei der Guthriemädchen im Chor, die fast mit den Köpfen aneinander stießen, als sie sich bückten, um die Schale zu betrachten.
»Nein, nein, es ist ein J!«
Nachdem ein Appell an Mrs. Bug als die anwesende Expertin ergangen war, bückte sie sich und beäugte den roten Schalestreifen mit schief gelegtem Kopf wie ein Rotkehlchen bei der Betrachtung eines in Frage kommenden Wurms.
»Das ist allerdings ein J, keine Frage«, urteilte sie und richtete sich auf, und die Gruppe brach in Gekicher aus und drehte sich geschlossen um, um John Lowry anzustarren, einen jungen Farmer aus Woolam’s Mill, der sich völlig verblüfft nach ihnen umsah.
Aus dem Augenwinkel sah ich es rot aufblitzen, und als ich mich umdrehte, sah ich Brianna in der Tür zum Flur stehen. Sie winkte mich herbei, und ich eilte zu ihr.
»Roger ist fertig und könnte losgehen, aber wir konnten das gemahlene Salz nicht finden; es war nicht in der Vorratskammer. Hast du es in deinem Sprechzimmer?««
»Oh! Ja, das habe ich«, sagte ich schuldbewusst. »Ich habe es zum Trocknen von Schlangenwurz benutzt und vergessen, es zurückzustellen.«
Gäste drängten sich auf den Verandas, standen an den Wänden des breiten Flures und kamen aus der Küche geströmt. Alles redete, trank und aϐ, und ich schlängelte mich vorsichtig hinter Brianna durch das Gedränge auf mein Sprechzimmer zu, tauschte Grüße aus, während ich in meine Richtung geschwenkten Cidrebechern auswich und auf Gebäckkrümel trat.
Das Sprechzimmer selbst war allerdings so gut wie leer; die Leute mieden es lieber - aus Aberglauben, schmerzhafter Erinnerung oder schlichtem Argwohn -, und da ich den Raum dunkel gelassen und kein Feuer angezündet hatte, lud ich sie auch nicht zum Eintreten ein. Auch jetzt brannte nur eine Kerze in dem Zimmer, und es war niemand da außer Roger, der in den Utensilien herumstöberte, die ich auf der Arbeitsfläche liegen gelassen hatte.
Als ich eintrat, blickte er auf und lächelte. Vom Tanzen noch schwach errötet, hatte er seinen Rock wieder angezogen und sich einen Wollschal um den Hals gewickelt; sein Umhang hing neben ihm über dem Stuhl. Der Brauch wollte es so, dass sich als First Foot nach Hogmanay am besten ein hoch gewachsener, gut aussehender, dunkelhaariger Mann eignete; einen solchen Mann nach Mitternacht als den ersten Besucher zu begrüßen, der die heimische Schwelle überschritt, brachte dem Haus im kommenden Jahr Glück.
Da Roger ohne Zweifel der größte - und mit Abstand best aussehendste - dunkelhaarige Mann in Reichweite war, hatte man ihn zum First Foot gewählt, nicht nur für das Herrenhaus, wie die Leute es nannten, sondern auch für die Häuser in der näheren Umgebung. Fergus und Marsali und die anderen, die in der Nähe wohnten, waren bereits nach Hause geeilt, um zur Begrüßung des First Foot bereit zu sein, wenn er kam.
Ein rothaariger Mann dagegen brachte als First Foot fürchterliches Unglück, und man hatte Jamie in sein Studierzimmer verbannt, wo ihn die Lindsaybrüder unter großem Hallo bewachten, denn sie sollten dafür sorgen, dass er bis nach Mitternacht sicher verwahrt blieb. Es gab zwar von hier bis Cross Creek keine einzige Standuhr, aber der alte Mr. Guthrie hatte eine Taschenuhr, die noch älter war als er selbst; dieses Instrument würde uns den mystischen Moment anzeigen, in dem das Jahr dem nächsten Platz machte. Angesichts der Tatsache, dass diese Uhr dazu neigte, stehen zu bleiben, bezweifelte ich, dass dies mehr als eine symbolische Ankündigung sein würde, aber das reichte ja schließlich auch.
»Zehn vor zwölf«, verkündete Brianna, als sie hinter mir in das Sprechzimmer platzte, ihren Umhang ebenfalls über dem Arm. »Ich habe gerade auf Mr. Guthries Uhr nachgesehen.«
»Zeit genug. Kommst du etwa mit?« Roger grinste Brianna an, als er ihren Umhang sah.
»Soll das ein Witz sein? Ich bin schon seit Jahren nicht mehr bis nach Mitternacht von zu Hause weg geblieben.« Sie erwiderte sein Grinsen und schwang sich den Umhang um die Schultern. »Hast du alles?«
»Bis auf das Salz.« Roger wies auf einen Leinenbeutel auf der Arbeitsfläche. Ein First Foot brachte Geschenke mit ins Haus: ein Ei, ein Stückchen Holz, eine Prise Salz - und etwas Whisky, damit sicher gestellt war, dass es dem Haushalt im kommenden Jahr nicht am Notwendigsten mangeln würde.
»Gut. Wo habe ich nur - oh, Himmel!« Als ich auf der Suche nach dem Salz die Schranktür aufschlug, sah ich mich einem glühenden Augenpaar gegenüber, das mich aus der Dunkelheit anfunkelte.
»Ach du meine Güte.« Ich legte mir eine Hand auf die Brust, um mein Herz am Herausspringen zu hindern, und winkte mit der anderen schwach in Rogers Richtung, denn bei meinem Ausruf war er aufgesprungen, zu meiner Verteidigung bereit. »Keine Sorge - es ist bloß die Katze.«
Adso war vor der Party geflüchtet und hatte sich die Überreste einer frisch erlegten Maus als Gesellschaft mitgenommen. Er fauchte mich an, da er offensichtlich glaubte, ich wollte ihm diese Delikatesse wegschnappen, aber ich schob ihn energisch beiseite und zog den Beutel mit dem gemahlenen Salz hinter seinem pelzigen Hintern hervor.
Ich schloss die Schranktür wieder und überließ Adso seinem Festmahl, um Roger das Salz zu geben. Er nahm es entgegen und legte den Gegenstand hin, den er in der Hand gehabt hatte.
»Wo hast du denn das alte Weiblein her?«, fragte er und wies mit dem Kinn auf den Gegenstand, während er das Salz in seine Tasche steckte. Ich blickte zur Arbeitsfläche und sah, dass er die kleine, rosafarbene Steinfigur betrachtet hatte, die Mrs. Bug mir gegeben hatte.
»Von Mrs. Bug«, erwiderte ich. »Sie sagt, es ist ein Fruchtbarkeitszauber - und so sieht es auch aus. Dann ist es also sehr alt?« Ich hatte mir das schon gedacht, und Rogers Interesse bestätigte mir meinen Eindruck.
Er nickte, den Blick immer noch auf die Figur gerichtet.
»Sehr alt. Die Stücke, die ich in Museen gesehen habe, werden auf mehrere tausend Jahre geschätzt.« Er zeichnete die kugelförmige Umrisse ehrfürchtig mit dem Zeigefinger nach.
Brianna trat näher, und ohne zu überlegen legte ich ihr die Hand auf den Arm.
»Was denn?«, sagte sie und wandte mir das Gesicht zu, um mich anzulächeln. »Soll ich es nicht anfassen? Funktioniert es denn so gut?«
»Nein, natürlich nicht.«
Ich zog meine Hand fort. Ich lachte zwar, fühlte mich aber sehr verlegen. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass es mir tatsächlich lieber war, wenn sie die Figur nicht berührte, und ich war erleichtert, als sie sich nur über die Arbeitsfläche beugte, um sie zu betrachten, sie aber liegen ließ. Rogers Blick war ebenfalls auf die Figur gerichtet - oder vielmehr sah er Brianna an und hatte seine Augen mit einer seltsamen Intensität auf ihren Hinterkopf gerichtet. Ich konnte mir nahezu vorstellen, dass er sie genauso heftig beschwor, die Figur anzufassen, wie ich sie beschwor, es nicht zu tun.
Beauchamp, sagte ich schweigend zu mir selbst, du hast heute Abend zu viel getrunken. Dennoch streckte ich impulsiv die Hand aus, ergriff die Figur und ließ sie in meine Tasche fallen.
»Komm schon! Wir müssen los!« Da ich die merkwürdige Stimmung des Augenblicks abrupt zerstört hatte, richtete Brianna sich auf und wandte sich drängend an Roger.
»Aye, gut. Dann lass uns gehen.« Er schlang sich die Tasche über die Schulter und lächelte mich an, dann ergriff er ihren Arm, und sie verschwanden und ließen die Sprechzimmertür hinter sich zufallen.
Ich löschte die Kerze und war schon im Begriff, ihnen zu folgen, doch dann hielt ich inne, denn ich zögerte plötzlich, mich sofort wieder in das Chaos der Feiernden zu stürzen.
Ich konnte spüren, dass das ganze Haus in Bewegung war, dass es mich pulsierend umschloss, und unter der Tür strömte das Licht aus dem Flur herein. In der Stille spürte ich das Gewicht der kleinen Figur in meiner Tasche und drückte sie, bis ich ihren harten Umriss an meinem Bein fühlte.
Der erste Januar hat überhaupt nichts Besonderes an sich, abgesehen von der Bedeutung, die wir ihm verleihen. Die Altvorderen feierten das neue Jahr am Imbolc, Anfang Februar, wenn der Winter nachlässt und das Licht wieder zurückzukehren beginnt - oder im Frühling am Tag der Tag-und-Nachtgleiche, wenn die Welt zwischen den Mächten der Finsternis und des Lichtes im Gleichgewicht ist. Und doch stand ich dort in der Dunkelheit, lauschte dem Kauen und Schmatzen der Katze im Schrank und spürte, wie die Energie der Erde sich unter meinen Füßen verschob, als das Jahr - oder zumindest irgendetwas - sich zu wechseln anschickte. Ich hörte den Lärm und spürte die Menschenmenge in meiner Nähe, und doch stand ich allein da, während das Gefühl in mir aufstieg und in meinem Blut summte.
Das Seltsame daran war, dass es mir überhaupt nicht fremd vorkam. Es war nichts, das von außerhalb meiner selbst kam, sondern nur die Bestätigung von etwas, das ich bereits in mir trug und dessen ich mir bewusst war, wenn ich auch keine Ahnung hatte, wie ich es nennen sollte. Doch Mitternacht näherte sich rasch. Immer noch voller Fragen, öffnete ich die Tür und trat in den hell erleuchteten, lärmenden Flur.
Ein lauter Ruf von der anderen Flurseite verkündete die Ankunft der magischen Stunde gemäß Mr. Guthries Zeitmesser, und die Männer kamen schubsend, drängelnd und scherzend aus Jamies Studierzimmer und richteten ihre Gesichter erwartungsvoll auf die Tür.
Nichts geschah. Hatte Roger sich angesichts des Gedränges in der Küche entschlossen, die Hintertür zu nehmen? Ich drehte mich um und blickte den Flur hinunter, doch nein, auch in der Küchentür drängten sich die Gesichter und sahen mir erwartungsvoll entgegen.
Immer noch kein Klopfen an der Tür. Im Flur wurde es unruhig, und die Gespräche verstummten, eine jener peinlichen Pausen, in denen niemand etwas sagen möchte, weil er befürchtet, plötzlich unterbrochen zu werden.
Dann hörte ich das Geräusch von Schritten auf der Veranda und ein rasches Klopfen, eins-zwei-drei. Jamie trat als Hausherr vor, um die Tür aufzureißen und den First Foot willkommen zu heißen. Ich stand dicht genug bei ihm, um den erstaunten Ausdruck in seinem Gesicht zu erkennen, und sah rasch nach, was der Grund dafür war.
An Stelle von Roger und Brianna standen zwei kleinere Gestalten auf der Veranda. Hager und zerlumpt, aber definitiv dunkelhaarig, traten die beiden Beardsleyzwillinge auf Jamies Wink schüchtern gemeinsam ein.
»Ein frohes, neues Jahr, Mr. Fräser«, sagte Josiah krächzend wie ein Ochsenfrosch. Er verbeugte sich höflich vor mir, ohne den Arm seines Bruders loszulassen. »Da sind wir.«
 
Man war sich allgemein einig, dass dunkelhaarige Zwillinge ein ausgesprochen gutes Omen waren, da sie unzweifelhaft doppelt so viel Glück brachten wie ein einzelner First Foot. Dennoch machten sich Roger und Brianna - die den zögernden Zwillingen auf dem Hof begegnet waren und sie vorgeschickt hatten - auf den Weg, um für die anderen Häuser auf dem Berg ihr Möglichstes zu tun, nachdem man Brianna ausdrücklich gewarnt hatte, kein Haus zu betreten, bevor nicht Roger die Schwelle überschritten hatte.
Glück bringend oder nicht, das Auftauchen der Beardsleys sorgte für einiges Gerede. Jeder hatte von Aaron Beardsleys Tod gehört - das heißt, die offizielle Version, welche lautete, dass er an einer Apoplexie gestorben war -, und alle wussten vom mysteriösen Verschwinden seiner Frau, doch die Ankunft der Zwillinge hatte nun zur Folge, dass die ganze Angelegenheit erneut hervorgekramt und beredet wurde. Niemand wusste, was die Jungen in der Zeit zwischen der Milizexpedition und Neujahr gemacht hatten; »wandern«, war alles, was Josiah mit seiner Krächzstimme sagte, als man ihn fragte-und sein Bruder Keziah sagte überhaupt nichts, so dass es aller Welt frei stand, über den Indianerhändler und seine Frau zu reden, bis das Thema erschöpft war und man es wechseln konnte.
Mrs. Bug nahm die Beardsleys auf der Stelle unter ihre Fittiche und brachte sie in die Küche, wo sie sich waschen, aufwärmen und satt essen konnten. Die Hälfe der Gäste war nach Hause gegangen, um Roger und Brianna zu empfangen; diejenigen, die erst am Morgen gehen würden, teilten sich in mehrere Gruppen auf. Die jüngeren Leute kehrten wieder in die Scheune zurück, um zu tanzen - oder um zwischen den Heuballen ein wenig Zurückgezogenheit zu suchen. Die älteren saßen am Kamin, um Erinnerungen auszutauschen, und diejenigen, die es mit dem Whisky oder dem Tanz übertrieben hatten, rollten sich in der nächstbesten - oder nächstschlechtesten - Ecke zum Schlafen zusammen.
Ich fand Jamie in seinem Studierzimmer, mit geschlossenen Augen in seinen Sessel zurückgelehnt, irgendeine Zeichnung vor sich auf dem Tisch. Er schlief nicht und öffnete die Augen, als er meine Schritte hörte.
»Frohes, neues Jahr«, sagte ich leise und beugte mich über ihn, um ihn zu küssen.
»Dir auch ein frohes, neues Jahr, a nighean donn.« Er war warm und roch schwach nach Bier und getrocknetem Schweiß.
»Möchtest du immer noch nach draußen gehen?«, fragte ich mit einem Blick zum Fenster. Der Mond war schon lange untergegangen, und die Sterne brannten klein und kalt am Himmel. Der Hof draußen war nackt und schwarz.
»Nein«, sagte er unverblümt und rieb sich mit der Hand über das Gesicht. »Ich möchte ins Bett gehen.« Er gähnte und blinzelte, während er versuchte, die zerzausten Haare zu glätten, die von seinem Kopf abstanden. »Aber ich möchte, dass du mitkommst«, fügte er großzügig hinzu.
»Nichts, was ich lieber täte«, versicherte ich ihm. »Was ist denn das?« Ich trat von hinten um ihn herum und warf über seine Schulter hinweg einen Blick auf die Zeichnung, die eine Art Grundriss zu sein schien, dessen Ränder mit mathematischen Berechnungen bekritzelt waren.
Er setzte sich auf und sah jetzt etwas wacher aus.
»Ah. Nun, es ist ein Geschenk von unserem Roger für Brianna, zu Hogmanay.«
»Er baut ihr ein Haus? Aber sie-«
»Nicht ihr.« Er grinste zu mir auf, beide Hände flach auf die Kanten der Zeichnung gelegt. »Den Chisholms.«
Listig, wie es sonst nur Jamie konnte, hatte sich Roger bei den Siedlern auf dem Berg umgehört und eine Vereinbarung zwischen Ronnie Sinclair und Geordie Chisholm arrangiert.
Ronnie besaß ein sehr geräumiges Blockhaus neben seiner Küferwerkstatt. Die Vereinbarung besagte nun, dass Ronnie, der unverheiratet war, in die Werkstatt ziehen würde, wo er problemlos schlafen konnte. Daraufhin würden die Chisholms in Ronnies Blockhaus ziehen, und sobald das Wetter es erlaubte, würden sie zwei Zimmer anbauen, wie in dem Plan auf Jamies Tisch vorgegeben. Außerdem würde Mrs. Chisholm für Ronnie kochen und seine Wäsche waschen. Wenn die Chisholms im Frühjahr ihre eigene Heimstatt übernahmen und dort ein Haus bauten, würde Ronnie wieder in sein frisch erweitertes Blockhaus ziehen - und er hoffte, dass die Pracht seines verbesserten Quartiers ausreichen würde, um irgendeine junge Frau dazu zu bewegen, einen Heiratsantrag von ihm anzunehmen.
»Und unterdessen bekommen Roger und Brianna ihre Hütte zurück, Lizzie und ihr Vater brauchen nicht mehr im Sprechzimmer zu schlafen, und alles ist in Butter!« Ich drückte ihm entzückt die Schultern. »Das ist ja eine wunderbare Abmachung. Hast du den Plan gezeichnet?«
»Aye. Geordie ist kein Zimmermann, und ich wollte nicht, dass ihm das Haus über dem Kopf zusammenfällt.« Er blinzelte den Plan an, zog einen Federkiel aus dem Glas, öffnete den Tintenbehälter und nahm eine kleine Verbesserung an einer der Zahlen vor.
»So«, sagte er und ließ den Federkiel sinken. »So geht es. Unser Roger will es Brianna zeigen, wenn sie heute Nacht heim kommen; ich habe gesagt, ich lasse den Plan für ihn liegen.«
»Sie wird begeistert sein.« Ich lehnte mich an seine Sessellehne und massierte ihm mit beiden Händen die Schultern. Er lehnte sich zurück, bis das Gewicht seines Kopfes warm gegen meinen Bauch drückte, und schloss vor Vergnügen seufzend die Augen.
»Kopfschmerzen?«, fragte ich leise, als ich die senkrechte Falte zwischen seinen Augen sah.
»Aye, ein bisschen. Oh, aye, das ist schön.« Meine Hände waren jetzt an seinem Kopf angekommen und rieben ihm sanft die Schläfen. Für jeden anderen hätte ich das Lavendelöl holen können, aber nicht für ihn.
Das Haus war still geworden, obwohl ich in der Küche noch immer Stimmengebrumm hören konnte. Jenseits davon schwebte der hohe, liebliche Klang von Evans Geige durch die kalte, stille Luft.
»My Brown-Haired Maid«, sagte ich und schwelgte seufzend in Erinnerungen. »Ich liebe dieses Lied.« Ich löste das Band, das seinen Zopf zusammen hielt, und entflocht sein Haar. Es fühlte sich warm und weich an, als ich es genießerisch mit den Fingern ausbreitete.
»Es ist wirklich merkwürdig, dass du kein Ohr für Musik hast«, sagte ich, um ihn durch eine Unterhaltung abzulenken, während ich seine Augenbrauen glatt strich, indem ich dicht am Rand des Auges Druck ausübte. »Ich weiß nicht, warum, aber mathematisches Talent tritt oft gleichzeitig mit musikalischem auf. Brianna hat beides.«
»Ich früher auch«, sagte er geistesabwesend.
»Was?«
»Ich hatte früher auch beides.« Er seufzte und beugte sich vor, um seinen Hals zu recken, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. »Oh, Himmel. Bitte. Oh, aye. Ah.«
»Wirklich?« Ich massierte seinen Hals und seine Schultern und knetete seine verspannten Muskeln fest durch den Stoff. »Du meinst, du konntest früher singen?« Er war die Zielscheibe des Gespötts der ganzen Familie; Jamie hatte zwar eine schöne Sprechstimme, aber sein Gefühl für Töne war unberechenbar, und jedes Lied, das er sang, fiel so unmelodisch aus, dass er damit Babys vor Schreck in den Schlaf versetzte, anstatt sie einzulullen.
»Nun ja, das vielleicht nicht gerade.« Ich konnte das Lächeln in seiner Stimme hören, gedämpft durch sein Haar, das ihm vor das Gesicht gefallen war. »Aber ich konnte einzelne Melodien unterscheiden - oder sagen, ob jemand gut oder schlecht sang. Jetzt ist alles nur noch ein Lärmen und Kreischen.« Er zuckte gleichmütig mit den Achseln.
»Was ist denn geschehen?«, fragte ich. »Und wann?«
»Oh, das war, bevor wir uns kennen gelernt haben, Sassenach. Ziemlich kurz davor sogar.« Er hob eine Hand und streckte sie nach seinem Hinterkopf aus. »Erinnerst du dich noch, dass ich in Frankreich gewesen war? Ich war gerade mit Dougal MacKenzie und seinen Männern auf dem Rückweg, als Murtagh dich beim Spazierengehen im Hemd aufgelesen hat...«
Er sprach unbeschwert, doch meine Finger hatten die alte Narbe unter seinem Haar gefunden. Jetzt war sie kaum mehr als fadendick, der wulstige Riss zu einer haarfeinen Linie verheilt. Doch es war einmal eine fast zwanzig Zentimeter breite Wunde gewesen, die durch eine Axt verursacht worden war. Sie hatte ihn damals fast umgebracht, das wusste ich; in einer französischen Abtei war er monatelang dem Tod nah gewesen und hatte unter lähmenden Kopfschmerzen gelitten.
»Das war es? Du meinst... seit dieser Verletzung kannst du keine Musik mehr hören?«
Seine Schultern hoben sich zu einem kurzen Achselzucken.
»Ich höre keine Musik außer dem Klang der Trommeln«, sagte er. »Den Rhythmus spüre ich noch, aber die Melodien sind fort.«
Ich hielt inne, die Hände auf seinen Schultern, und er drehte sich um und sah mich lächelnd an, versuchte, es scherzhaft zu nehmen.
»Mach dir keine Gedanken deswegen, Sassenach; es ist nicht wichtig. Ich habe auch nicht gut gesungen, als ich es noch hören konnte. Und immerhin hat Dougal mich nicht umgebracht.«
»Dougal? Also meinst du, dass es Dougal war?« Die Gewissheit in seiner Stimme überraschte mich. Er hatte damals den Verdacht gehabt, dass es vielleicht sein Onkel Dougal gewesen war, der den mörderischen Angriff auf ihn unternommen hatte - und dann, von seinen eigenen Männern überrascht, bevor er die Tat zu Ende führen konnte, stattdessen vorgegeben hatte, ihn verletzt gefunden zu haben. Aber es hatte keine Beweise dafür gegeben.
»Oh, aye.« Seine Miene war ebenfalls überrascht, doch dann veränderte sie sich, als er begriff. »Daran habe ich gar nicht gedacht - du konntest nicht verstehen, was er gesagt hat, nicht wahr? Als er gestorben ist, meine ich - Dougal.« Meine Hände ruhten immer noch auf seinen Schultern, und ich spürte, wie er unwillkürlich erschauerte. Der Schauer wanderte durch meine Hände an meinen Armen entlang, und meine Haare sträubten sich bis hin zum Nacken.
Ich konnte das Speicherzimmer in Culloden House so deutlich vor mir sehen, als spielte sich die Szene gerade jetzt vor mir ab. Die ausrangierten Möbelstücke, die Gegenstände, die im Lauf des Kampfes über den Boden rollten - und auf dem Boden zu meinen Füßen hockte Jamie und rang mit Dougals Körper, der sich aufbäumte und reckte, während Blut und Luft aus der Wunde schäumten, die Jamies Dolch ihm an der Kehle beigebracht hatte. Dougals Gesicht, fleckig und blass, während er verblutete, die Augen tiefschwarz und fest auf Jamie gerichtet, und sein Mund, der sich lautlos auf Gälisch bewegte. Und Jamies Gesicht, so weiß wie Dougals, die Augen an die Lippen des Sterbenden geheftet, während er jene letzte Botschaft las.
»Was hat er denn gesagt?« Meine Hände klammerten sich fest an seine Schultern, und er hielt das Gesicht abgewandt, als sich meine Daumen unter sein Haar schoben, um noch einmal nach der alten Narbe zu suchen.
»Ganz gleich, ob du der Sohn meiner Schwester bist - ich wünschte, ich hätte dich damals auf dem Hügel umgebracht. Denn ich habe von Anfang an gewusst, dass nur einer von uns überleben kann.« Er sprach gelassen und leise, und die Emotionslosigkeit seiner Worte löste den Schauer erst recht noch einmal aus, der diesmal von mir zu ihm übersprang.
Es war still im Studierzimmer. Das Geräusch der Stimmen in der Küche war zu einem Murmeln abgeflaut, als hätten sich die Geister der Vergangenheit dort eingefunden, um leise lachend zu trinken und in Erinnerungen zu schwelgen.
»Das war es also, was du gemeint hast«, sagte ich leise. »Als du gesagt hast, dass du deinen Frieden mit Dougal geschlossen hast.«
»Aye.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und streckte seine Hände aus, die sich warm um meine Handgelenke legten. »Er hatte nämlich Recht. Es konnte nur einer überleben, und irgendwann wäre es so oder so dazu gekommen.«
Ich seufzte, und mir fiel eine kleine Bürde der Schuld von den Schultern. Jamie hatte mit Dougal gekämpft, um mich zu verteidigen, als er ihn umgebracht hatte, und ich hatte stets das Gefühl gehabt, dafür verantwortlich zu sein. Doch Dougal hatte Recht; es stand zu viel zwischen ihnen, und wäre es nicht damals, am Vorabend von Culloden, zu jenem letzten Konflikt gekommen, so wäre es ein andermal geschehen.
Jamie drückte meine Handgelenke und drehte sich auf seinem Stuhl um, ohne meine Hände loszulassen.
»Lass die Toten die Toten begraben«, sagte er leise. »Die Vergangenheit ist vorbei - die Zukunft noch nicht da. Und wir sind hier und jetzt zusammen, du und ich.«
Das Flammende Kreuz
gaba_9783641060008_oeb_cover_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_toc_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_fm1_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_ata_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_als_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_ded_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_fm2_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_p01_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c01_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c02_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c03_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c04_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c05_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c06_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c07_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c08_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c09_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c10_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c11_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c12_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c13_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c14_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c15_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c16_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c17_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_p02_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c18_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c19_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c20_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c21_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c22_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c23_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c24_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c25_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_p03_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c26_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c27_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c28_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c29_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c30_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c31_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c32_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_p04_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c33_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c34_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c35_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c36_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c37_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c38_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_p05_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c39_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c40_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c41_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c42_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c43_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c44_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c45_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c46_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c47_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c48_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c49_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c50_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c51_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c52_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c53_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c54_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c55_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_p06_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c56_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c57_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c58_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c59_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c60_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c61_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c62_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c63_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c64_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c65_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c66_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c67_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c68_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c69_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c70_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c71_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c72_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_p07_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c73_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c74_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c75_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c76_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c77_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c78_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c79_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c80_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c81_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c82_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c83_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c84_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c85_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c86_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c87_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c88_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_p08_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c89_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c90_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c91_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c92_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c93_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c94_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c95_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_p09_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c96_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c97_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c98_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c99_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c100_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c101_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c102_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c103_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c104_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c105_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c106_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c107_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c108_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c109_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c110_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_c111_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_ack_r1.html
gaba_9783641060008_oeb_cop_r1.html