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Das hört sich einsam an
Brianna schloss das Buch mit einer Mischung aus
Erleichterung und unangenehmen Vorahnungen. Sie hatte nichts
dagegen gehabt, als Jamie vorschlug, dass sie ein paar kleinen
Mädchen aus Fraser’s Ridge das ABC beibrachte. Es füllte die
Blockhütte für ein paar Stunden mit fröhlichen Klängen, und Jemmy
genoss es, sich von einem halben Dutzend Miniaturmüttern verwöhnen
zu lassen.
Doch sie war keine geborene Lehrerin, und am Ende
der Stunde war sie stets erleichtert. Aber das unangenehme Gefühl
folgte sogleich. Die meisten Mädchen kamen allein oder wurden von
einer älteren Schwester beaufsichtigt. Anne und Kate Henderson, die
zwei Meilen entfernt wohnten, wurden von ihrem älteren Bruder
Obadiah begleitet.
Sie wusste nicht genau, wann oder wie es angefangen
hatte. Möglicherweise schon am ersten Tag, als er ihr mit einem
schwachen Lächeln ins Gesicht gesehen hatte und ihren Blick eine
Sekunde zu lange erwidert hatte, bevor er seinen Schwestern die
Köpfe tätschelte und sie in Briannas Obhut entließ. Doch rational
betrachtet, gab es nichts, worüber sie sich beschweren konnte.
Damals nicht, und auch in den Tagen nicht, die seitdem vergangen
waren. Und doch...
Wenn sie sich selbst gegenüber ganz ehrlich war,
bekam sie bei dem Gedanken an Obadiah Henderson eine Gänsehaut. Er
war ein hoch gewachsener, junger Mann von etwa zwanzig, kräftig
bemuskelt und nicht unansehnlich, braunhaarig und blauäugig. Aber
irgendetwas stimmte mit ihm nicht; er hatte einen brutalen Zug um
den Mund, etwas Raubtierhaftes in seinen tief liegenden Augen. Und
die Art, wie er sie ansah, hatte etwas zutiefst Beunruhigendes an
sich.
Sie hasste es, am Ende des Unterrichts zur Tür zu
gehen. Die kleinen Mädchen würden sich kichernd und mit flatternden
Kleidchen zerstreuen - und Obadiah würde wartend an einem Baum
lehnen, auf dem Brunnenrand sitzen, und einmal hatte er es sich
sogar auf der Bank vor ihrer Tür gemütlich gemacht.
Die konstante Unsicherheit, nie zu wissen, wo er
sein würde - aber genau zu wissen, dass er da sein würde, ging ihr
fast genauso sehr an die Nieren wie seine halb lächelnde Miene und
das schweigende Grienen, fast so, als kniffe er ihr ein Auge, wenn
er sie stehen ließ, als ob er ein schmutziges, kleines Geheimnis
über sie wüsste, das er jedoch für sich behielt - vorerst.
Mit einer gewissen Ironie begriff sie, dass Roger
an ihrer Beklommenheit in Obadiahs Gegenwart zumindest nicht ganz
unschuldig war. Sie hatte sich daran gewöhnt, Dinge zu hören, die
nicht laut ausgesprochen wurden.
Und Obadiah sprach nicht laut. Er sagte gar nichts
zu ihr, machte ihr gegenüber keine einzige ungehörige Geste. Konnte
sie ihm verbieten, sie anzusehen? Das war lächerlich. Lächerlich
auch, dass etwas so Simples dazu führen konnte, dass ihr das Herz
in die Kehle hüpfte, wenn sie die Tür öffnete, und ihr der Schweiß
unter den Achseln ausbrach, wenn sie ihn sah.
Sie holte tief Luft und öffnete den Mädchen die
Tür. Sie rief auf Wiedersehen, als sie sich zerstreuten, dann stand
sie da und sah sich um. Er war nicht da. Weder am Brunnen noch am
Baum, auf der Bank... nirgendwo.
Anne und Kate suchten ihn erst gar nicht; sie
hatten die Lichtung schon halb überquert und waren Hand in Hand mit
Janie Cameron unterwegs.
»Annie!«, rief sie. »Wo ist dein Bruder?«
Annie drehte sich halb um, und ihre Zöpfe flogen
auf und ab.
»Er ist in Salem, Miss«, rief sie zurück. »Wir
gehen heute zum Essen zu Jane!« Ohne eine Antwort abzuwarten,
hüpften die Mädchen wie ein Trio von Gummibällen davon.
Die Anspannung in ihrem Hals und ihren Schultern
verflog allmählich, und sie holte tief Luft. Im ersten Augenblick
fühlte sie sich leer, als sei ihr nicht ganz klar, was sie tun
sollte. Dann richtete sie sich auf und strich sich die zerknitterte
Schürze glatt. Jemmy schlief; das nasale Alphabetlied der Mädchen
hatte ihn eingelullt. Sie konnte sein Nickerchen ausnutzen, um
Buttermilch aus dem Kühlhaus zu holen. Roger aß gern
Buttermilchbrötchen; sie würde sie zum Abendessen machen, mit etwas
Schinken.
Im Kühlhaus war es frisch und dunkel, und das
Geräusch des Wassers, das durch den steingefassten Kanal im Boden
lief, war beruhigend. Sie liebte es, dort hineinzugehen und zu
warten, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, so
dass sie die dahintreibenden Algenwedel bewundern konnte, die auf
den Steinen wuchsen und sich in der Strömung wiegten. Jamie hatte
außerdem erwähnt, dass sich eine Fledermausfamilie im Kühlhaus
niedergelassen hatte - ja, da waren sie, vier winzige Bündel, die
in der dunkelsten Ecke hingen, ein jedes kaum fünf Zentimeter lang
und ordentlich eingewickelt
wie eines dieser griechischen Weinblattröllchen. Sie lächelte bei
diesem Gedanken, auch wenn ihm ein Stich folgte.
Sie hatte einmal in einem griechischen Restaurant
in Boston mit Roger Dolmades gegessen. Sie hatte nicht besonders
viel für griechisches Essen übrig, aber es hätte eine geteilte
Erinnerung an ihre eigene Zeit sein können, wenn sie ihm von den
Fledermäusen erzählte. Wenn sie es ihm jetzt erzählte, so dachte
sie, würde er als Erwiderung lächeln - aber das Lächeln würde nicht
bis zu seinen Augen reichen, und sie würde mit ihrer Erinnerung
allein sein.
Sie trat aus dem Kühlhaus und ging langsam zur
Hütte zurück. Ein Stück Käse in der einen Hand bildete das
Gegengewicht zu dem Eimer mit Buttermilch in der anderen. Ein
Käseomelett zum Mittagessen war eine gute Idee; es war schnell
zuzubereiten, und Jemmy liebte es. Er benutzte seinen Löffel
meistens nur zum Erlegen seiner Beute, die er dann unter großem
Gematsche mit beiden Händen verschlang, aber er aß allein,
und das war ein Fortschritt.
Sie lächelte immer noch, als sie vom Pfad
aufblickte und Obadiah Henderson auf ihrer Bank sitzen sah.
»Was macht Ihr denn hier?« Ihre Stimme war scharf,
aber höher als beabsichtigt. »Die Mädchen haben gesagt, Ihr seid in
Salem.«
»Da war ich auch.« Er erhob sich und trat vor,
dieses wissende Lächeln auf den Lippen. »Ich bin wieder da.«
Sie unterdrückte das Bedürfnis, einen Schritt
zurückzutreten. Dies war ihr Haus, der Teufel sollte sie holen,
wenn er sie dazu brachte, von ihrer eigenen Tür
zurückzuweichen.
»Nun, die Mädchen sind schon fort«, sagte sie, so
kühl sie konnte. »Sie sind bei den Camerons.« Ihr Herz pumpte
heftig, doch sie trat an ihm vorbei, um den Eimer auf die Veranda
zu stellen.
Sie bückte sich, und er legte ihr seine Hand ins
Kreuz. Im ersten Augenblick erstarrte sie. Er machte keine
Bewegung, versuchte nicht, sie zu streicheln oder Druck auszuüben -
doch das Gewicht der Hand ruhte auf ihrer Wirbelsäule wie eine tote
Schlange. Sie fuhr auf, wirbelte herum und trat einen Schritt
zurück. So viel dazu, dass sie sich von ihm nicht einschüchtern
lassen würde. Es war schon geschehen.
»Ich habe Euch etwas mitgebracht«, sagte er. »Aus
Salem.« Das Lächeln lag ihm nach wie vor auf den Lippen, doch es
schien vollkommen vom Ausdruck seiner Augen abgekoppelt zu
sein.
»Ich möchte es nicht«, sagte sie. »Ich meine -
danke. Aber nein. Es ist nicht recht - und mein Mann würde es nicht
wollen.«
»Er braucht es ja nicht zu wissen.« Er trat einen
Schritt auf sie zu; sie trat einen zurück, und sein Lächeln wurde
breiter.
»Ich habe gehört, Euer Mann ist in diesen Tagen
nicht oft zu Hause«, sagte er leise. »Das hört sich einsam
an.«
Er streckte seine große Hand aus, um ihr Gesicht zu
berühren. Dann erklang
ein seltsames, leises Geräusch, eine Art fleischiges Tnk!,
und sein Gesicht verlor jeden Ausdruck, während sich seine Augen
vor Schreck weiteten.
Sie starrte ihn an, denn sie begriff ganz und gar
nicht, was geschehen war. Dann richtete er seinen stieren Blick auf
seine ausgestreckte Hand, und sie sah, dass ein kleines Messer in
der Haut seines Unterarms steckte und sich ringsum ein roter Fleck
auf seinem Hemd ausbreitete.
»Verlasst dieses Grundstück.« Jamies Stimme war
leise, aber deutlich. Er trat zwischen den Bäumen hervor und hielt
den Blick feindselig auf Henderson gerichtet. Er war mit drei
Schritten bei ihnen, streckte die Hand aus und zog Henderson das
Messer aus dem Arm. Obadiah stieß einen leisen, tiefen Kehllaut
aus, wie ihn vielleicht ein verwundetes Tier gemacht hätte,
verblüfft und Mitleid erregend.
»Fort«, sagte Jamie. »Und kommt nie wieder hier
her.«
Das Blut lief an Obadiahs Arm hinunter und tropfte
von seinen Fingern. Ein paar Tropfen fielen in die Buttermilch und
schwammen hellrot auf der sattgelben Oberfläche. Benommen
registrierte sie die entsetzliche Schönheit dieses Bildes - wie in
Gold gefasste Rubine.
Dann setzte sich der Junge in Bewegung, er presste
die freie Hand auf seinen verletzten Arm und hielt erst schlurfend,
dann im Laufschritt auf den Pfad zu. Er verschwand zwischen den
Bäumen, und auf dem Hof war es still.
»Musstest du das tun?«, war das Erste, was sie
herausbrachte. Sie war so verdattert, als sei sie selbst von etwas
getroffen worden. Die Blutstropfen verschwammen langsam; ihre
Ränder lösten sich in der Buttermilch auf, und sie hatte das
Gefühl, sie müsste sich übergeben.
»Hätte ich warten sollen?« Ihr Vater fasste sie am
Arm und zog sie zum Sitzen auf die Veranda hinunter.
»Nein. Aber du - hättest du nicht... etwas zu ihm
sagen können?« Ihre Lippen fühlten sich taub an, und am Rand ihres
Blickfeldes leuchteten kleine Blitze auf. Geistesabwesend
realisierte sie, dass sie im Begriff war, ohnmächtig zu werden, und
beugte sich vor, den Kopf zwischen den Knien, das Gesicht in der
Zuflucht ihrer Schürze vergraben.
»Das habe ich doch. Ich habe ihm gesagt, er soll
gehen.« Die Veranda knarrte, als Jamie sich neben sie setzte.
»Du weißt genau, was ich meine.« Ihre durch den
Stoff gedämpfte Stimme klang merkwürdig in ihren eigenen Ohren. Sie
setzte sich langsam auf; die Rotfichte neben dem großen Haus
schwankte leicht in ihrem Blickfeld, kam dann aber zur Ruhe. »Was
hast du nur getan? Wolltest du angeben? Wie konntest du dich
darauf verlassen, aus dieser Entfernung jemanden mit einem Messer
zu treffen? Und was war das überhaupt - ein
Taschenmesser?«
»Aye. Es war alles, was ich dabei hatte. Und
eigentlich wollte ich ihn gar nicht treffen«, gab Jamie zu. »Ich
wollte es in die Wand der Hütte werfen
und ihm in dem Moment, in dem er sich nach dem Geräusch umsah, von
hinten einen Boxhieb versetzen. Aber er hat sich bewegt.«
Sie schloss die Augen und atmete heftig durch die
Nase, um ihren Magen zur Ruhe zu bringen.
»Geht es, a muirninn?«, fragte er
leise. Er legte ihr sacht die Hand auf den Rücken - etwas höher als
Obadiah. Sie fühlte sich gut an; groß, warm und tröstend.
»Ja«, sagte sie und öffnete die Augen. Er machte
ein besorgtes Gesicht, und sie riss sich zusammen und lächelte ihn
an. »Gut.«
Jetzt entspannte er sich ein wenig, und sein Blick
verlor etwas von seinem beunruhigten Ausdruck, wenn er auch weiter
gebannt an ihr hing.
»Nun denn«, sagte er. »Es war doch nicht das erste
Mal, aye? Wie lange hat der kleine Schuft sein Spielchen schon mit
dir getrieben?«
Sie holte erneut Luft und zwang ihre Fäuste, sich
zu lösen. Sie hätte die Situation gern verharmlost, weil sie ein
schlechtes Gewissen hatte - denn sie hätte Obadiah doch sicher
irgendwie Einhalt gebieten können? Doch angesichts von Jamies
unverwandtem, blauen Blick konnte sie nicht lügen.
»Seit der ersten Woche«, sagte sie.
Er riss die Augen auf.
»Schon so lange? Und warum hast du deinem Mann
nichts davon gesagt?«, fragte er ungläubig.
Sie erschrak und kramte nach einer Antwort.
»Ich - nun ja - ich habe nicht gedacht... ich
meine, es war doch nicht sein Problem.« Sie hörte, wie er plötzlich
Atem holte, zweifellos die Einleitung zu einer beißenden Bemerkung
über Roger, und beeilte sich, ihn zu verteidigen.
»Es - er - er hat doch eigentlich nichts
getan. Es waren nur Blicke. Und er hat... mich angelächelt.
Wie sollte ich Roger denn sagen, dass er mich angesehen hat?
Ich wollte doch nicht schwach oder hilflos aussehen.« Doch sie war
beides gewesen, und das wusste sie auch. Dieses Wissen brannte wie
Ameisenbisse unter ihrer Haut.
»Ich wollte... ihn nicht bitten müssen, mich zu
verteidigen.«
Er starrte sie an, und seine Miene spiegelte
absolutes Unverständnis. Er schüttelte langsam den Kopf, ohne den
Blick von ihr abzuwenden.
»Was in Gottes Namen glaubst du denn, wozu ein Mann
da ist?«, fragte er schließlich. Er sprach leise, doch aus
seinem Tonfall klang völlige Verwirrung. »Willst du ihn denn wie
ein Haustier halten? Einen Schoßhund? Oder einen Vogel im
Käfig?«
»Du verstehst mich nicht.«
»Oh. Ach nein?« Er atmete so kurz aus, dass es wie
ein sardonisches Lachen klang. »Ich bin seit fast dreißig Jahren
verheiratet, du weniger als zwei. Was verstehe ich denn deiner
Meinung nach nicht, mein Schatz?«
»Es ist - bei Mama und dir ist es nicht das Gleiche
wie bei Roger und mir!«, platzte sie heraus.
»Nein, das ist es nicht«, pflichtete er ihr mit
neutraler Stimme bei. »Deine Mutter achtet meinen Stolz, und ich
den ihren. Oder hältst du sie vielleicht für einen Feigling, der
seine eigenen Schlachten nicht ausfechten kann?«
»Ich... nein.« Sie schluckte, weil sie das Gefühl
hatte, den Tränen gefährlich nahe zu sein, aber entschlossen war,
sie nicht entwischen zu lassen. »Aber Pa - es ist anders. Wir
stammen von einem anderen Ort, aus einer anderen Zeit.«
»Das weiß ich wohl«, sagte er, und sie sah, wie
sich sein Mundwinkel zu einem ironischen Lächeln verzog. Seine
Stimme wurde sanfter. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass
Männer und Frauen dort so anders sind.«
»Nicht unbedingt.« Sie schluckte und zwang ihre
Stimme zur Ruhe. »Aber vielleicht ist Roger ja anders. Seit
Alamance.«
Er holte Luft, als wollte er etwas sagen, atmete
dann aber wieder aus und schwieg. Er hatte seine Hand fortgezogen;
sie fehlte ihr. Er lehnte sich ein wenig zurück und sah sich auf
dem Hof um. Seine Finger pochten leise zwischen ihnen auf die
Verandadielen.
»Aye«, sagte er schließlich leise.
»Vielleicht.«
Sie hörte ein gedämpftes Rumpeln hinter ihnen in
der Hütte, dann noch einmal. Jemmy war aufgewacht und warf seine
Spielsachen aus der Wiege. Gleich würde er anfangen, nach ihr zu
rufen, damit sie sie aufhob. Sie stand auf und strich sich ihr
Kleid gerade.
»Jemmy ist wach; ich muss zu ihm.«
Jamie erhob sich ebenfalls, hob den Eimer auf und
schüttete die Buttermilch in einer dickflüssigen, gelben Pfütze ins
Gras.
»Ich hole dir neue«, sagte er und war fort, bevor
sie ihm sagen konnte, er solle sich keine Mühe machen.
Jemmy hatte sich hingestellt und klammerte sich an
die Seitenwand seiner Wiege. Er brannte darauf zu entwischen und
warf sich ihr an den Hals, als sie sich bückte, um ihn
hochzunehmen. Er wurde langsam schwer, aber sie drückte ihn fest an
sich und presste ihre Wange an seinen Kopf, der vom Schlaf
verschwitzt und feucht war. Ihr Herz schlug heftig in ihrer Brust
und fühlte sich verwundet an.
Das hört sich einsam an, hatte Obadiah
Henderson gesagt. Er hatte Recht.