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Happy Birthday to You
I. Mai 1771,
Feldlager der Union
Feldlager der Union
Ich erwachte kurz nach Anbruch der Dämmerung, weil
mir ein Insekt über das Bein wanderte. Ich zuckte mit dem Fuß, und
was auch immer es war, es huschte hastig ins Gras davon, offenbar
erschrocken über die Feststellung, dass ich lebendig war. Ich
wackelte argwöhnisch mit den Zehen, doch da ich keine weiteren
Eindringlinge unter meiner Decke fand, atmete ich tief die von
Frühlingssäften erfüllte, frische Luft ein und entspannte mich
genüsslich.
Ich konnte hören, dass sich in der Nähe leise etwas
regte, doch es war nur das Stampfen und Schnauben der
Offizierspferde, die immer lange vor den Männern erwachten. Im
Feldlager selbst war es noch still ─ oder zumindest so still, wie
ein Lager mit mehreren hundert Männern irgend sein konnte. Das
Zeltleinen über mir spiegelte sanftes Licht und Laubschatten wider,
doch die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen. Ich schloss halb
die Augen, entzückt über den Gedanken, dass ich vorerst noch nicht
aufzustehen brauchte─und dass schon jemand das Frühstück gemacht
haben würde, wenn ich mich in die Senkrechte begab.
Am Abend zuvor waren wir nach einem langen,
verschlungenen Weg aus dem Gebirge und über das Vorgebirge am
Treffpunkt auf Oberst Bryans Plantage angelangt. Wir waren zeitig;
Tryon und seine Truppen waren noch nicht aus New Bern eingetroffen,
genauso wenig wie die Abteilungen aus Craven und Carteret County,
die die Feldgeschütze und die Drehbassen dabei hatten. Man rechnete
damit, dass Tryons Truppen im Lauf des Tages eintreffen würden; so
hatte es uns Oberst Bryan zumindest am Abend zuvor beim Essen
erzählt.
Ein Grashüpfer landete mit einem hörbaren Plop über
mir auf dem Leinen. Ich beobachtete ihn genau, aber er machte zum
Glück keine Anstalten, ins Zelt zu kommen. Vielleicht hätte ich ja
Mrs. Bryans Angebot annehmen sollen, die mir und ein paar anderen
Offiziersfrauen, die ihre Männer begleitet hatten, ein Bett im Haus
zur Verfügung stellen wollte. Doch Jamie hatte darauf bestanden,
draußen bei seinen Männern zu schlafen, und ich hatte ihn
begleitet, weil ich mir lieber mit Jamie ein Bett mit den Käfern
teilen wollte als keines von beidem an meiner Seite zu haben.
Ich lugte zur Seite, achtsam, Jamie nicht zu
stören, falls er noch schlief. Er war wach. Allerdings lag er
völlig reglos da, ganz und gar entspannt, bis auf seine rechte
Hand. Die hatte er erhoben und schien sie genau zu betrachten,
wobei er sie hin und her drehte und seine Finger langsam bog und
wieder gerade richtete - so gut er konnte. Der Ringfinger hatte ein
verwachsenes Gelenk und war steif; der Mittelfinger war ein wenig
verdreht, und eine tiefe, weiße Narbe wand sich um sein mittleres
Gelenk.
Seine Hand war schwielig und mitgenommen von der
Arbeit, und in der Mitte der Handfläche sah man das winzige,
blassrosafarbene Stigma einer Nagelwunde. Die Haut seiner Hand war
dunkel gebräunt und verwittert, mit Sonnenflecken übersät und mit
gebleichten, goldenen Härchen überzogen. Ich fand ihre Schönheit
bemerkenswert.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte ich
leise. »Bestandsaufnahme?«
Er ließ die Hand auf seine Brust sinken und drehte
mir lächelnd das Gesicht zu.
»Aye, etwas in der Art. Obwohl mir noch ein paar
Stunden bleiben. Ich bin um halb sechs geboren; mein halbes
Jahrhundert ist erst voll, wenn es Abendessen gibt.«
Ich drehte mich lachend auf die Seite und befreite
mich von der Decke. Noch war die Luft wunderbar kühl, doch das
würde nicht mehr lange anhalten.
»Rechnest du denn damit, dich bis zum Abendessen in
deine Bestandteile aufzulösen?«, fragte ich neckend.
»Oh, ich gehe nicht davon aus, dass mir bis dahin
etwas abfällt«, sagte er nachdenklich. »Aber was meine
Funktionsfähigkeit angeht... aye, nun...« Er bog den Rücken durch,
reckte sich und sank mit einem zufriedenen Stöhnen wieder zurück,
als sich meine Hand auf ihm niederließ.
»Scheint alles wunderbar zu funktionieren«,
versicherte ich ihm unter vorsichtigem Zupfen, woraufhin er leise
aufjaulte. »Nichts ist lose.«
»Gut«, sagte er und umschloss meine Hand fest mit
der seinen, um weitere, unautorisierte Experimente zu verhindern.
»Woher hast du gewusst, was ich mache? Das mit der
Bestandsaufnahme, wie du es ausdrückst?«
Ich überließ ihm meine Hand, rückte jedoch näher an
ihn heran und legte mein Kinn in die Mitte seiner Brust, wo eine
kleine Mulde just dafür gemacht zu sein schien.
»Das mache ich immer, wenn ich Geburtstag habe -
obwohl ich es normalerweise am Vorabend tue. Mehr als Rückblick,
glaube ich, und als Reflektion über das vergangene Jahr. Aber ich
betrachte mich auch prüfend. Ich glaube, das macht wohl jeder. Nur
um zu sehen, ob man noch dieselbe Person ist wie tags zuvor.«
»Da bin ich mir einigermaßen sicher«, versicherte
er mir. »Dir sind doch keine drastischen Veränderungen aufgefallen,
oder?«
Ich hob mein Kinn von seinem Rastplatz und
betrachtete ihn sorgfältig. Es fiel mir wirklich schwer, ihn
objektiv zu betrachten; ich war so sehr an seine Gesichtszüge
gewöhnt und hing so sehr an ihnen, dass ich oft kleine,
liebenswerte Dinge an ihm wahrnahm - die Sommersprosse auf seinem
Ohrläppchen, den unteren Schneidezahn, der sich vordrängte und
nicht ganz in einer Reihe mit seinen Kollegen stand - und auf die
leiseste Veränderung seines Gesichtsausdrucks reagierte, ihn aber
eigentlich nicht als integriertes Ganzes betrachtete.
Er ließ meine Untersuchung in aller Ruhe über sich
ergehen und hielt die Augenlider zum Schutz gegen das zunehmende
Licht halb gesenkt. Sein Haar hatte sich gelöst, während er
schlief, und sich auf seinen Schultern verteilt, so dass die
rötlichen Wellen ein Gesicht einrahmten, das deutlich von Humor und
Leidenschaft geprägt war - jedoch gleichzeitig eine paradoxe und
bemerkenswerte Fähigkeit zur Reglosigkeit besaß.
»Nein«, sagte ich schließlich und stützte mein Kinn
mit einem zufriedenen Seufzer wieder ab. »Du bist noch der
Alte.«
Er grunzte belustigt auf, blieb aber still liegen.
Ich konnte hören, wie einer der Männer in der Nähe herumstakste und
fluchte, als er über eine Wagendeichsel stolperte. Das Lager war
noch im Aufbau begriffen; einige der Kompanien - diejenigen, unter
deren Männern und Offizieren sich ein großer Prozentsatz an
ehemaligen Soldaten befand - waren ordentlich und gut organisiert.
Viele andere waren es nicht, und ihre wackeligen Zelte und ihre
Ausrüstung lagen als pseudomilitärisches Durcheinander überall auf
der Wiese verstreut.
Eine Trommel begann zu schlagen, ohne jedoch eine
Wirkung zu zeigen. Die Armee setzte ihren Schlummer fort.
»Meinst du, dass der Gouverneur mit diesen Truppen
etwas ausrichten kann?«, fragte ich skeptisch.
Der anwesende Armeevertreter schien ebenfalls
wieder eingeschlafen zu sein. Doch auf meine Frage hin reagierte
er, indem er seine langen, auberginenfarbigen Wimpern träge
hob.
»Oh, aye. Tryon ist Soldat. Er weiß genau, was er
tun muss - zumindest für den Anfang. Es ist nicht besonders schwer,
Männer dazu zu bringen, in Reih und Glied zu marschieren und
Latrinen zu buddeln. Sie zum Kämpfen zu bewegen, ist etwas
anderes.«
»Kann er das?«
Die Brust unter meinem Kinn hob sich tief
seufzend.
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Die Frage ist -
wird es nötig sein?«
Das war in der Tat die Frage. Während der ganzen
Anreise aus Fraser’s Ridge hatten uns die Gerüchte umwirbelt wie
Herbstlaub bei Sturm. Die Regulatoren hatten zehntausend Männer,
die als Armee auf New Bern zumarschierten. General Gage war mit
einem Regiment offizieller Truppen zu Schiff aus New York
unterwegs, um in der Kolonie für Ruhe zu sorgen. Die Miliz von
Orange County hatte gemeutert und ihre Offiziere umgebracht. Die
Hälfte der Männer aus Wake County waren desertiert. Hermon Husband
war festgenommen und auf ein Schiff verschleppt worden, um in
London
wegen Hochverrats vor Gericht gestellt zu werden. Hillsborough war
in die Hände der Regulatoren gefallen, die vorhatten, die Stadt in
Brand zu setzen und Edward Fanning und alle, die mit ihm zu tun
hatten, hinzurichten. Ich hoffte sehr, dass Letzteres nicht stimmte
- oder falls es so war, dass Hubert Sherston nicht zu Fannings
engeren Vertrauten gehörte.
Wenn man diese Masse aufgeschnappter Dinge,
Vermutungen und schierer Erfindung aussortierte, schien nur eine
Tatsache übrig zu bleiben, dass nämlich Gouverneur Tryon unterwegs
war, um sich an die Spitze der Miliz zu setzen. Und danach, so
vermutete ich, würden wir einfach weitersehen müssen.
Jamies freie Hand ruhte auf meinem Rücken, und sein
Daumen streichelte die Kante meines Schulterblattes. Mit seiner
üblichen Fähigkeit zur geistigen Disziplin schien er die
Ungewissheit der militärischen Aussichten vollständig verdrängt zu
haben und dachte jetzt über etwas ganz anderes nach.
»Denkst du jemals -«, begann er und brach dann
ab.
»Denke ich was?« Ich senkte den Kopf und küsste
seine Brust. Ich räkelte mich, um Jamie aufzufordern, mir den
Rücken zu massieren, was er auch tat.
»Nun ja... ich weiß nicht, ob ich es erklären kann,
aber mir ist gerade der Gedanke gekommen, dass ich jetzt schon
länger lebe als mein Vater - und ich hatte nicht damit gerechnet,
dass es dazu kommen würde«, fügte er mit einem Hauch von Ironie
hinzu. »Es ist nur... es kommt mir einfach seltsam vor. Ich habe
mich nur gefragt, ob du das manchmal auch denkst - ich meine, du
hast deine Mutter doch auch so jung verloren.«
»Ja.« Mein Gesicht war an seiner Brust vergraben,
meine Stimme durch die Falten seines Hemdes gedämpft. »Früher - als
ich noch kleiner war. Es kam mir vor, als müsste ich eine Reise
antreten und hätte keine Landkarte.«
Seine Hand hielt einen Moment auf meinem Rücken
inne.
»Aye, genau so.« Er klang ein wenig überrascht.
»Ich habe mehr oder weniger gewusst, wie es sein würde, ein Mann
von dreißig oder vierzig zu sein - aber was jetzt?« Seine Brust
bewegte sich kurz mit einem leisen Geräusch, das wohl eine Mischung
aus Belustigung und Verwunderung war.
»Man erfindet sich selbst«, sagte ich leise in das
Dunkel unter meinem Haar, das mir ins Gesicht gefallen war. »Man
betrachtet andere Frauen - oder Männer; man versucht, sich an ihre
Stelle zu versetzen. Man nimmt sich, was man brauchen kann, und
sucht in sich selbst nach dem, was man sonst nirgends finden kann.
Und immer... immer... fragt man sich, ob man es richtig
macht.«
Seine Hand lag warm und schwer auf meinem Rücken.
Er spürte, wie die Tränen, die mir unerwartet aus den Augenwinkeln
liefen, sein Hemd befeuchteten, und hob die andere Hand, um meinen
Kopf zu berühren und mir das Haar zu glätten.
»Aye, genau so«, sagte er noch einmal ganz
leise.
Draußen begann das Lager, sich rumpelnd und
scheppernd zu regen, und ich hörte das heisere Geräusch vom Schlaf
angerauter Stimmen. Über uns begann der Grashüpfer zu zirpen, was
sich anhörte, als kratzte jemand mit einem Nagel über einen
Kupfertopf.
»Dies ist ein Morgen, den mein Vater nie gesehen
hat«, sagte Jamie nach wie vor so leise, dass ich es genauso aus
seiner Brust heraus hörte wie mit meinen Ohren. »Die Welt und jeder
Tag darin sind ein Geschenk, mo chridhe - ganz gleich, was
morgen geschieht.«
Ich seufzte tief und wandte den Kopf, um meine
Wange an seine Brust zu legen. Er streckte sanft die Hand aus und
wischte mir mit einer Kante seines Hemdes die Nase ab.
»Und was die Bestandsaufnahme angeht«, fügte er
sachlich hinzu, »so habe ich noch alle meine Zähne, mir fehlen
keine Körperteile, und mein Schwanz steht morgens immer noch
alleine auf. Es könnte schlimmer sein.«