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Gul, 12
In Israel herrscht
Wehrpflicht, was bedeutet, dass alle jungen Männer Militärdienst
leisten müssen, wenn sie 18 werden. Es gibt nur wenige Ausnahmen.
Ultraorthodoxe Juden und israelische Araber brauchen nicht zu
dienen. Auch junge Frauen werden ermuntert, zur Armee zu gehen.
Diejenigen, die sich dazu entschließen, Wehrdienst zu leisten, tun
dies Seite an Seite mit den Männern; sie erledigen die gleichen
Aufgaben wie ihre männlichen Kollegen.
Junge Männer, die den Dienst an
der Waffe verweigern, werden womöglich für psychisch ungeeignet
erklärt, ein Etikett, das ihnen dann für den Rest ihres Lebens
anhängt. Außerdem kann es sein, dass sie ins Gefängnis
müssen.
Manche junge Männer sind mit dem,
was ihre Regierung in den Palästinensergebieten tut, nicht
einverstanden. Aus Protest weigern sie sich, zur Armee zu gehen
oder, wenn sie schon in der Armee sind, in diesen Gebieten ihren
Dienst abzuleisten. Es gibt mehr als 450 von diesen Protestierern
oder Verweigerern. Viele von ihnen sind wegen ihrer Haltung ins
Gefängnis gekommen.
Gul wohnt in einem grünen
Wohnviertel in West-Jerusalem. Seine Eltern sind beide Akademiker.
Ihre Wohnung ist voll mit Büchern und Pflanzen. Obwohl er noch
einige Jahre vom wehrpflichtigen |63|Alter entfernt ist, beschäftigt ihn die
Frage, was ihm dann bevorsteht, schon jetzt.
Ich bin in der siebten Klasse. Mein
Lieblingsfach ist Englisch.
Ich wohne mit meiner Mutter, meinem Vater
und meinem älteren Bruder im obersten Stock eines kleinen
Wohnhauses. In einer sehr schönen Gegend mit vielen Bäumen am
Straßenrand. Die Juden, die vor vielen Jahren hierhergekommen sind,
haben diese Bäume gepflanzt, und jetzt sind sie groß und machen die
Straße sehr schattig.
Ich werde bald 13 und feiere dann
natürlich meine Bar Mizwa. An diesem Tag gibt es eine besondere
Zeremonie in der Synagoge. Ich werde aus der Tora vorlesen und eine
Ansprache halten müssen. Dann bin ich nach jüdischem Gesetz ein
Mann. Ich mache mir weiter noch keine Gedanken darüber. Ich muss
erst nächste Woche anfangen, dafür zu lernen. Dann fange ich auch
an, darüber nachzudenken. Nach der Zeremonie werde ich zwei Partys
feiern, eine mit meiner Familie und eine mit meinen Freunden.
Ich wohne gern in Jerusalem. Diese Stadt
ist der Mittelpunkt von allem in Israel. Man kann hier viel
unternehmen, ins Kino gehen oder Sport treiben, alles Mögliche. Wir
wohnen im neuen Teil der Stadt. Es gibt auch noch die Altstadt, wo
die ganzen historischen Ereignisse stattgefunden haben. Sie ist
Tausende von Jahren alt. Dorthin machen wir unsere Schulausflüge.
Alleine fahre ich da nie hin. Im neuen Teil der Stadt kann man
genug unternehmen, man muss nicht in die Altstadt fahren, aber ich
schaue sie |64|mir gern aus der
Ferne an. Wenn die Sonne auf die Mauern scheint, sieht sie sehr
schön aus, wie aus einem Buch, nur besser.
Es gefällt mir nicht, dass ich in ein
paar Jahren zur Armee muss, aber ich habe keine andere Wahl.
Vielleicht denke ich dann anders darüber, aber ich glaube nicht.
Ich habe nie Soldat oder so etwas gespielt. Andere Kinder tun das,
aber ich nicht. Ich spiele lieber Basketball.
Manchmal geht die Armee in
palästinensische Städte wie Hebron oder Bethlehem. Sie holen die
Palästinenser aus ihren Häusern und walzen diese dann platt, bis
nichts mehr davon übrig ist. Das machen sie für den Fall, dass eine
Bombe in dem Haus ist. Die Soldaten müssen manchmal auch grob
werden, um die Palästinenser aus ihrem Haus zu kriegen, weil sie
nicht rauswollen. Es ist schließlich ihr Zuhause, und sie wollen
dableiben.
Meine Mutter möchte nicht, dass ich grob
und gemein zu anderen bin, wenn ich Soldat bin. Sie sagt, sie hat
uns dazu erzogen, freundlich zu anderen Menschen zu sein. Wenn ich
zur Armee gehe, werde ich ein anderer Mensch, glaubt sie. Aber ich
wüsste nicht, wie das passieren sollte. Ich bin, wie ich bin. Wie
sollte sich daran etwas ändern können?
Immer wenn ich an die Zukunft denke, ist
da die Armee. Alle Jungen müssen zur Armee. Das schreibt das Gesetz
vor.
Ich habe eine ältere Schwester, Ori. Sie
ist jetzt 18 und hat sich entschieden, Zivildienst zu leisten
anstatt zur Armee zu gehen. Sie lebt zusammen mit anderen Mädchen
in |65|einem Haus in Tel Aviv und
arbeitet irgendwie mit Kindern. Sie findet die Besatzungspolitik
falsch und will sich daran nicht beteiligen. Sie sagt, wenn sie bei
der Armee wäre, müsste sie Menschen töten, wenn ihr das befohlen
würde, und das will sie nicht. Für sie ist es einfacher, nicht zur
Armee zu gehen, weil sie ein Mädchen ist, aber ich habe viele Leute
mit ihr darüber streiten gehört. Die Leute finden, jeder hat die
Pflicht, Israel zu verteidigen. Sie denken, sie will sich drücken,
dabei leistet sie doch ihren Beitrag für das Land, indem sie
Zivildienst macht.
Jungen haben keine Wahl. Jungen müssen
zur Armee, es sei denn, sie sind sehr religiös. Dann sind sie davon
befreit. Manchmal denke ich, die Armee könnte auch Spaß machen.
Wenn ich all die Soldaten auf der Straße betrachte, sehe ich so
vieles, was sie machen können, wie zum Beispiel Panzer fahren oder
Funkgeräte bedienen, und sie sehen stark und schlau aus.
Einmal sind Soldaten in meine Klasse
gekommen, um uns zu zeigen, wie wir unsere Gasmasken aufsetzen
sollen. Wir haben alle unsere eigenen Gasmasken, falls die
Palästinenser oder Iraker Giftgas über uns abwerfen. Die Soldaten
haben uns alles erklärt und waren so selbstsicher. So wäre ich auch
gern.
Ich versuche mir vorzustellen, ich wäre
einer von ihnen und müsste so was machen, wie zum Beispiel Häuser
von Palästinensern durchsuchen oder mit Panzern durch ihre Städte
fahren. Vielleicht gibt es ja Frieden, bis ich zur Armee muss, und
ich brauche so etwas gar nicht mehr zu tun.
|66|Die
Soldaten machen das alles wegen der Bomben. Die Palästinenser
zünden Bomben in Bussen oder Restaurants. Ich kenne jemanden, der
beinahe durch eine Bombe getötet worden wäre. Er war auf dem Markt
und stieg dann in einen Bus, um nach Hause zu fahren. Der Bus fuhr
los, und die Bombe ging hoch. Er wurde verletzt, aber er hat
überlebt. Andere Menschen sind an diesem Tag gestorben, aber ich
weiß nicht, wie viele es waren.
Eine ganze Zeit lang war es ruhig hier.
Als es wieder losging mit der Gewalt, wollten meine Eltern mich
nicht mehr in die Innenstadt lassen, weil sie Angst hatten, dass
eine Bombe hochgeht. Manchmal fuhren wir durch die Stadt, und es
war vollkommen still, weil alle zu Hause blieben. Im Augenblick ist
wieder viel los in der Innenstadt, aber überall stehen
Sicherheitskräfte. Die Soldaten halten jeden an und durchsuchen
seine Taschen und Sachen. Meine Freunde und ich sind immer noch
nervös, wenn wir Bus fahren.
Manchmal sind Bomben in geparkten Autos
versteckt. Sie explodieren und töten die Menschen, die gerade
vorbeigehen. Wenn ich draußen bin, denke ich oft daran. Jedes Auto,
an dem ich vorbeikomme, könnte in die Luft fliegen und mich töten.
Das macht einem ganz schön Angst. Deshalb bemühe ich mich, nicht
daran zu denken.
Über den Krieg weiß ich nur, dass es
dabei um diesen Staat, dieses Land geht. Die Palästinenser wollen
es haben, und wir wollen es auch haben, also kämpfen wir darum.
Keine Ahnung, wie das enden wird oder ob es jemals enden
wird.
|67|Ich
habe mal ein paar palästinensische Kinder getroffen, in Abu Gosh,
einem Dorf in der Nähe von Jerusalem. Sie waren ziemlich nett und
auch nicht anders als wir. Aber im Augenblick kenne ich keine
Palästinenser. Sie dürfen nicht herkommen, und für uns ist es zu
gefährlich, zu ihnen zu fahren.
Es ist an vielen Orten gefährlich für
Juden. Die Palästinenser sind nicht die einzigen Menschen auf der
Welt, die Juden hassen. Meine Mutter hat eine Freundin in Montreal,
in Kanada. Sie hat auch von Leuten erzählt, die Juden hassen. Immer
und überall gab es Leute, die Juden hassen, nicht nur die
Deutschen, und nicht nur die Palästinenser.