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Artov, 15
Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, lange bevor der Staat Israel gegründet wurde, kamen viele jüdische Einwanderer aus Russland und Osteuropa nach Palästina. Diese Einwanderer waren auf der Suche nach einem Ort, an dem sie – fernab von Antisemitismus und der Verfolgung, die sie erlitten hatten – ein jüdisches Leben führen konnten. Viele hatten während der Pogrome – der Ausschreitungen, die zur Zerstörung der jüdischen Gemeinden führten – alles verloren. Unter dem russischen Zaren waren Pogrome an der Tagesordnung gewesen, doch selbst nachdem der Zar 1917 durch die Russische Revolution gestürzt worden war, machte das kommunistische Regime Juden häufig zur Zielscheibe von Misshandlungen. Auch heute ziehen noch viele Juden wegen des Antisemitismus in ihren Heimatländern nach Israel.
Es ist ein Grundsatz israelischer Politik, dass jeder Mensch jüdischen Glaubens das Recht hat, dort zu leben. Die Regierung unterstützt die Einwanderung, und die israelische Gesellschaft vereint Menschen, die im Land geboren sind, mit denen, die aus mehr als 80 anderen Ländern dorthin gezogen sind. Einwanderer werden beim Erlernen der hebräischen Sprache unterstützt und erhalten auch andere Hilfen bei der Eingliederung.
Artov ist ein Neuankömmling in Israel. Er besichtigt gerade |16|Jad Vashem, die Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem. Fußwege durch den 182 Quadratkilometer großen Park verbinden die Museen, Kunstgalerien und Mahnmale, die an die sechs Millionen Juden erinnern, die von den Nazis ermordet wurden.
 
Ich bin erst seit drei Monaten in Israel. Ich komme aus Russland. Israel ist sehr schön, aber ich vermisse Russland sehr. Vor allem das Essen. Mein Lieblingsessen ist Plow, ein Gericht aus Usbekistan. Es gibt zwar auch hier russisches Essen, weil in Israel viele Russen leben, aber es schmeckt trotzdem nicht genauso wie zu Hause.
Ich bin zusammen mit meiner Familie nach Israel gekommen. Ich habe eine Schwester. Sie ist älter als ich. Manchmal ist sie nett, aber manchmal nervt sie auch. Sie ist gern hier, aber ich glaube, sie vermisst unsere Heimat auch.
Meine Eltern wollten hierher. Sie wollten als Juden in Israel leben. Obwohl sie ihr Zuhause in Russland liebten, wollten sie trotzdem lieber nach Israel. Viele Juden haben Russland schon verlassen und sind hierhergekommen.
Russland mochte die Juden nicht. Viele sind dort umgebracht worden. Meine Großeltern haben mir von den Pogromen erzählt, bei denen Juden aus ihren Häusern getrieben und getötet wurden, einfach nur weil sie Juden waren. Deshalb sind viele russische Juden nach Israel gezogen. Um einen Ort zu finden, an dem sie sicher leben können. Auch heute ist es nicht gerade ungefährlich, als Jude in Russland zu leben. Wir hören in den Nachrichten davon. Manche Leute stellen Schilder an den Straßen auf. Auf denen steht: »Tod den Juden« und »Juden sind Dreck«. Wenn |17|jemand versucht, sie wegzunehmen, explodieren sie, weil eine Bombe daran befestigt ist. Auch jüdische Friedhöfe wurden in Russland verwüstet und Rabbis zusammengeschlagen.
Wir wohnen jetzt in Netanja. Das liegt nördlich von Tel Aviv am Mittelmeer. Es ist schön, so nah am Meer zu wohnen, außerdem ist es hier wärmer als in Russland. Ich gehe gern zur Schule. Neues zu sehen und zu lernen macht mir wahnsinnig viel Spaß. Mein Lieblingsfach ist Sport. Außerdem spiele ich gern Computerspiele, besonders Dragon.
Ich bin heute mit meiner Lehrerin nach Jad Vashem gekommen. Hier wird an die Juden erinnert, die während des Holocaust ums Leben kamen. Wir haben schon alle Gebäude besichtigt und sind jetzt gerade im Historischen Museum. Danach ist unser Besuch beendet. Im Erdgeschoss ist in Glaskästen Spielzeug von den Kindern aus den Konzentrationslagern ausgestellt – Puppen aus Stroh und so was. Als ich das sah, habe ich überlegt, womit ich wohl gespielt hätte, wenn ich in einem Lager gewesen wäre.
Hier ist es wie in einem Park. Pfade führen zwischen den Bäumen hindurch von einem Haus zum anderen. Jedes Gebäude steht für eine andere Art des Gedenkens. Die Halle der Erinnerung ist ein großer Raum mit einem Feuer in der Mitte, das die ganze Zeit brennt. Auf dem Fußboden rund um dieses Feuer stehen die Namen der Lager, in denen Juden umkamen. In der Halle der Namen sind die Menschen aufgelistet, die getötet wurden.
Da steht auch ein alter Eisenbahnwaggon. So einer, wie man sie früher verwendet hat, um Vieh zum Schlachthof zu |18|transportieren. Mit dem hier wurden aber die Juden in die Lager gebracht. Er steht auf einer Eisenbahnbrücke, aber die Brücke endet plötzlich, und der Waggon steht direkt an der Kante, an der es nicht weitergeht.
Ich fühle mich hier sehr jüdisch, so als wäre ich mit all diesen Menschen verbunden, obwohl ich ein ganz anderes Leben führe als sie. Jetzt verstehe ich ein bisschen besser, warum meine Eltern hierher ziehen wollten.
Das Denkmal für die Kinder war das Schlimmste. Wenn man da reinkommt, ist es so, wie wenn man eine Höhle betritt. Zuerst ist alles dunkel und still da drinnen. Man folgt einem Weg und hält sich dabei an Seilen fest, bis allmählich die Lichter sichtbar werden.
Überall sind kleine Kerzen angezündet. Sie werden wieder und wieder von Spiegeln reflektiert, und es sieht aus, als wären da unendlich viele kleine Lichter. Die Kerzen stehen für die jüdischen Kinder, die von den Nazis umgebracht wurden. Sie funkeln wie Sterne. Darüber liest eine Stimme über Lautsprecher leise die Namen und das Alter der ermordeten Kinder vor. Ich kann jetzt nicht weiter darüber reden, sonst muss ich weinen.
Schon bevor wir nach Israel zogen, hörten wir von dem Krieg hier. Wir wussten, dass es gefährlich ist, aber wir wollten trotzdem kommen. Bald werde ich israelischer Staatsbürger sein und deshalb werde ich auch zur Armee gehen. Der Gedanke, dass ich mal Soldat sein werde, macht mir ein bisschen Angst. Im Fernsehen sehen wir ja, in was für schrecklich gefährliche Situationen die Soldaten manchmal geraten. Es ist schlimm, was Menschen sich gegenseitig |19|antun können. Wenn ich fertig bin mit dem Militär, möchte ich Tierarzt werden oder Zauberer.
Aus den Nachrichten weiß ich ein bisschen was über die Palästinenser. Sie scheinen uns alle zu hassen, aber ich weiß nicht wieso. Ich bin noch nie einem begegnet. Wir können uns auch gar nicht begegnen. Wir sind getrennte Völker.
Meine Lehrerin sagt, vor zwei Jahren gab es noch viele palästinensische Schüler in Israel. Sie sagt, es war gut, als Juden und Palästinenser sich treffen und sich gegenseitig ein bisschen kennenlernen konnten, um die Angst voreinander zu verlieren. Aber jetzt kommen sie nicht mehr auf israelisches Gebiet. Inzwischen ist es zu gefährlich für sie. Die Juden würden sie für Terroristen halten, und ihr eigenes Volk würde denken, sie wären Verräter. Also bleiben sie unter sich und wir unter uns.