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Michael, 11
Jerusalem ist eine der
ältesten durchgängig bewohnten Städte der Welt. Seit 3000 vor
Christus wohnen dort Menschen. Im Lauf der Jahrhunderte herrschten
immer wieder andere Völker in der Region, darunter Juden
(Israeliten), Babylonier, Perser, Griechen, Römer, Ägypter,
Kreuzritter, Araber, Türken und Briten.
Die Altstadt von Jerusalem ist
eine Welt für sich. Sie ist von einer hohen Steinmauer umgeben, auf
der ein Wehrgang verläuft, den man immer noch entlanggehen kann. In
die Altstadt gelangt man durch sehr große Tore oder Eingänge. Sie
hat enge, kreuz und quer verlaufende Straßen wie ein Labyrinth. Ein
herrlicher Ort, um sich darin zu verirren. Die offenen Auslagen von
Läden, die Obst, Gebäck, Spielzeug, Kleider, Medizin und alles
Mögliche andere verkaufen, drängen auf die Straßen hinaus. Eine
Fülle von Sinneseindrücken stürmt auf den Besucher ein. Man riecht,
wie Brot gebacken, Kebab gegrillt und warmes Gebäck mit Honig
bestrichen wird. Obst und Gemüse bilden leuchtende Farbkleckse vor
den alten Steinmauern. Stoffe fließen auf die Wege hinab, Musik
plärrt aus den CD-Verkaufsständen, und Souvenirläden verkaufen
alles von Holzkamelen bis zu Stickarbeiten. Und an jeder Ecke
begegnet man der Geschichte.
Die Altstadt ist in vier
Stadtviertel unterteilt – das christliche, |37|das armenische, das jüdische und das
muslimische Viertel. Sie steckt voller Orte und Erinnerungen, die
dem Judentum, dem Christentum und dem Islam heilig sind, und alle
drei Religionen betrachten Jerusalem als eine heilige Stätte. Drei
der meistverehrten heiligen Orte der Welt befinden sich innerhalb
der alten Stadtmauern – die Grabeskirche, wo Jesus gekreuzigt und
beigesetzt wurde; die Westliche Mauer (auch Klagemauer genannt),
die Stätte des Heiligen Jüdischen Tempels, wohin Juden aus der
ganzen Welt kommen, um zu beten; und der Felsendom, von dem aus
Mohammed in den Himmel aufgefahren ist.
Michael, ein palästinensischer
Christ, lebt in einem Waisenhaus im Christenviertel.
Ich bin ein palästinensischer Christ.
Viele Palästinenser sind Muslime, und viele von uns sind Christen.
Es ist egal, welche Religion wir haben. Wir sind alle
Palästinenser.
Ich wohne im Terra-Sancta-Jungenheim in
der Altstadt von Jerusalem, in der Nähe des Neuen Tores. Es heißt
zwar Neues Tor, ist aber sehr alt. Allerdings nicht so alt wie das
Damaskustor, das auch nicht weit ist. Unser Heim befindet sich im
oberen Stockwerk eines Hauses, das zu einer großen katholischen
Kirche gehört. Wenn man den Weg kennt, kann man von dort aus in die
Kirche gehen, ohne nach draußen zu müssen.
Das Terra-Sancta-Jungenheim wird von
Mönchen geleitet. Es ist ein Heim für Jungen, die keine Eltern mehr
haben oder Eltern, die nicht für sie sorgen können. Meine Mutter
lebt nicht mehr, aber mein Vater schon. Er ist in Amerika und kann
sich im Augenblick nicht um mich und meine |38|Geschwister kümmern. Ich vermisse ihn.
Vielleicht kommt er mich Weihnachten besuchen.
Nicht alle Jungen hier sind
Palästinenser, aber wir sind alle Christen. Einer der Jungen kommt
aus Russland. Er redet nicht viel. Ich glaube, er hat
Heimweh.
Ich habe kurze Zeit in Amerika gewohnt.
Es hat mir da gefallen, vor allem der Schnee. Ich würde gern an
einem Ort leben, wo es viel schneit. In Jerusalem haben wir auch
manchmal Schnee, aber nicht so wie in Amerika. Hier geht der Schnee
weg, sobald er auf den Boden fällt.
Ich bin seit zweieinhalb Jahren in diesem
Heim. Ich habe drei Brüder und eine Schwester, die alle jünger sind
als ich. Sie wohnen bei den Nonnen in einem Kinderheim auf dem
Ölberg, außerhalb der Altstadt-Mauern. Wenn meine Brüder größer
sind, kommen sie hierher zu mir. Meine Schwester bleibt dann bei
den Nonnen oder kommt in ein anderes Heim, das nur für Mädchen ist.
Manchmal darf ich hinfahren und meine Geschwister besuchen.
Der Ölberg ist ein sehr heiliger Ort für
Christen. Der Garten von Gethsemane, in dem Jesus betete, bevor die
Römer ihn gekreuzigt haben, liegt dort. Jerusalem ist voll von
heiligen Stätten, zum Beispiel die, wo Maria geboren wurde, und
die, wo Jesus das Kreuz getragen hat und gekreuzigt wurde. Manchmal
machen wir mit den Mönchen Ausflüge dorthin. Da können wir zu Fuß
hingehen. Die Altstadt ist nicht besonders groß, und die Straßen
sind für die meisten Autos zu schmal.
Jeden Freitag gibt es eine Prozession
durch die Altstadt, die Via Dolorosa entlang; das heißt Straße der
Schmerzen. |39|Sie führt an allen
Stationen des Kreuzwegs vorbei, da, wo Jesus zum Tode verurteilt
und ausgepeitscht wurde, wo er hingefallen ist und wo eine Frau ihm
Wasser angeboten hat. Manchmal gehen wir zusammen mit den Mönchen
bei dieser Prozession mit, aber nicht jede Woche.
Wir Jungen schlafen alle in einem großen
Raum, dem Schlafsaal. Ich habe mein eigenes Bett und einen Schrank,
wo ich meine Sachen aufbewahre. Wir sind die ganze Zeit zusammen,
wie eine Art Familie. Manchmal streiten wir uns um so was wie
Taschengeld oder einfach nur albernes Zeug. Manchmal, wenn sich
einer schlecht fühlt oder traurig ist, fängt er auch Streit an,
weil er dabei seine Gefühle vergisst.
Wir haben hier einen festen Tagesablauf.
Die Mönche wecken uns um sechs, dann ziehen wir uns an, machen
unsere Betten und räumen den Schlafsaal auf. Danach frühstücken
wir. Das Essen wird uns von Nonnen zubereitet. Zum Frühstück gibt
es normalerweise Brot, Marmelade und Käse. Dann müssen wir Aufgaben
erledigen, wie den Boden putzen oder die Treppe kehren. Wenn wir
das ordentlich machen, freuen sich die Brüder, und ich habe es
gern, wenn sie finden, dass ich etwas gut gemacht habe. Manchmal
tue ich so, als würde ich das für meinen Vater tun, und er käme, um
es sich anzusehen, und wäre zufrieden mit mir.
Wir spielen auch viel. Im
Gemeinschaftsraum breiten die Mönche ein großes Puzzle mit
Aberhunderten von Teilen aus. Daran arbeiten wir dann alle hin und
wieder und versuchen, die richtigen Teile zusammenzusetzen. Ich mag
|40|auch Computerspiele, vor allem
Jak and Daxter, das gibt es für PlayStation2.
Wir sind alle abwechselnd Messdiener in
der großen Kirche hier. Die Messdiener haben mehrere Aufgaben, wie
zum Beispiel das Kreuz oder den Weihrauch zu tragen oder dem
Priester am Altar zu helfen. Anfangs mussten wir uns eine Menge
dafür merken, aber es ist nicht wirklich schwer. Allerdings muss
man sich während der Messe benehmen. Da darf man nicht rumalbern.
So eine Messe ist ziemlich ernst, und wenn man sich auf das
konzentriert, was man gerade macht, ist einem auch nicht nach
rumhampeln zumute.
Wir gehen hier im Heim auch zur Schule.
Die Brüder unterrichten uns. Mein Lieblingsfach ist Englisch. Ich
bin ganz gut in der Schule. Wenn ich groß bin, möchte ich
Taxifahrer werden, weil ich dann in mein Taxi steigen und überall
hinfahren kann.
An Feiertagen dürfen wir ausschlafen.
Wenn ich über Weihnachten hier bin, falls mein Vater mich nicht
abholt, darf ich bis zehn oder elf Uhr schlafen. Aber ich hoffe,
dass mein Vater kommt. Er hat mir zum Geburtstag ein Spielzeugauto
geschickt.
Ich weiß nicht besonders viel über den
Krieg, nur dass die Palästinenser deswegen voneinander getrennt
leben müssen. Meine Familie ist nicht die einzige, die getrennt
ist. Familien sollten zusammen sein oder sich wenigstens besuchen
können, wann immer sie wollen, aber die meisten palästinensischen
Familien dürfen das nicht. Wir sind offenbar alle voneinander
getrennt, weil wir nicht durch die Straßensperren kommen.
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|43|Wenn
ich draußen herumlaufe oder auch in der Kirche, sehe ich manchmal
Familien, in denen alle zusammen sind. Dann werde ich ganz traurig
innerlich.
Ich habe noch nie einen jüdischen Jungen
kennengelernt. Ich sehe sie auf der Straße, wenn wir aus dem Heim
kommen. Manche von ihnen tragen dunkle Kleider und schwarze Hüte
und haben Haare, die vor den Ohren runterhängen. Das sind die
chassidischen Juden. Nicht alle Juden sind so angezogen. Wenn ich
jüdische Jungen in meinem Alter treffe, sehen sie mich an, und ich
sehe sie an, aber wir sagen nichts. Ich weiß nichts über sie, und
sie wissen nichts über mich. Manchmal sehen sie mich nicht an. Und
manchmal denke ich gerade an etwas anderes und sehe sie auch nicht
an.
Wir hören ein bisschen was über die
Kämpfe zwischen Israelis und Palästinensern, aber ich weiß
eigentlich nicht, was los ist oder warum sie sich bekämpfen. Ich
wünschte, die Kämpfe würden aufhören, weil mir die Vorstellung
nicht gefällt, dass Menschen sich gegenseitig wehtun. Wenn der
Krieg vorbei wäre, könnte meine Familie vielleicht
zusammenleben.
Am meisten Angst habe ich vor Hunden. Und
auch vor kleinen Insekten, weil die stechen. Am glücklichsten bin
ich, wenn ich mit der PlayStation spiele. Aber ich habe nur einen
Wunsch. Nämlich zurück nach Amerika zu fahren und bei meinem Vater
zu wohnen. Ich weiß nicht, was ich da machen würde, aber ich wäre
bei ihm, und dort ist es besser als hier.