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Yanal, 14
Da ihnen fast keine
Bewegungsfreiheit zugestanden wird, verlieren viele junge
Palästinenser die Hoffnung, jemals in ihrem Leben irgendetwas Gutes
erreichen zu können. Manche von ihnen haben Stipendien für
Universitäten in Jordanien oder anderswo, doch man verweigert ihnen
die Ausreiseerlaubnis. Palästinenser aus den besetzten Gebieten
dürfen auch nicht über den Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv
ausfliegen. Werden sie an einer Schule angenommen, die in einer
anderen palästinensischen Stadt liegt, müssen sie diese Chance
manchmal ungenutzt lassen, weil sie nicht durch die Straßensperren
kommen.
UNICEF zufolge sind mehr als 60
Prozent der Palästinenser unter 18 Jahre alt. Es gibt fast eine
Million Palästinenser im schulpflichtigen Alter. Die
palästinensische Alphabetisierungsrate gehört zu den höchsten in
der Region und palästinensische Mädchen waren die ersten in der
arabischen Welt, die den gleichen Bildungsstand erreichten wie ihre
Brüder.
Die Besatzung behindert ihre
Ausbildung, da palästinensische Schulen häufig während der
Ausgangssperren geschlossen sind. Einige Schulen wurden vom
israelischen Militär in Gefangenenlager umgewandelt, andere während
des Krieges teilweise beschädigt oder völlig zerstört. Die
Straßensperren |69|und
Kontrollpunkte behindern mehr als 200 000 Schüler und mehr als 9
000 Lehrer dabei, ihre regulären Schulen zu erreichen. An einigen
Orten wurden behelfsmäßige Schulen in Moscheen, Kellern und
Durchgängen errichtet.
Da die palästinensische
Wirtschaft durch den Krieg zerrüttet ist, können viele Eltern oft
die Sachen nicht bezahlen, die ihre Kinder für die Schule brauchen.
Eine Maßnahme der UNICEF versorgt die Kinder, die
es am schlimmsten trifft, mit Schuluniformen, Schultaschen und dem
nötigen Zubehör.
Selbst jene, die die Schule
abschließen, haben wenig Hoffnung, einen Job zu finden. Unter den
Palästinensern herrscht eine Arbeitslosenquote von durchschnittlich
60 Prozent.
Yanal lebt in Ramallah im
Westjordanland. Diese Stadt liegt wenige Kilometer nördlich von
Jerusalem und wird seit 2 000 Jahren bewohnt. Französische
Kreuzritter nutzten sie schon als Stützpunkt für ihre Angriffe auf
Jerusalem. Die moderne Besiedlung geht bis ins Jahr 1550 zurück.
Jetzt kontrolliert das israelische Militär das Gebiet und führt
dort Patrouillen durch.
Yanal besucht die Schule der
Hoffnung in Ramallah, in der seit 45 Jahren palästinensische Kinder
unterrichtet werden. Die Schule hat 400 Schüler aller Alterstufen.
Früher gab es mehr Anmeldungen, da auch Schüler aus den Dörfern
rund um Ramallah diese Schule besuchten, aber die Ausgangs- und
Straßensperren machen es diesen Kindern unmöglich, sich von dort
wegzubewegen.
Ich bin ein Palästinenser. Einmal, als
ganz kleines Kind, war ich ein Jahr lang in Saudi-Arabien, aber
seitdem lebe ich in Ramallah, schon mein ganzes Leben lang. Ich
habe |70|einen Bruder und eine
Schwester. Mein Vater ist ein sehr gelehrter Mann. Er unterrichtet
an einer Universität und hat viele Bücher über Palästina
geschrieben. Meine Mutter ist auch gebildet. Sie arbeitet bei der
Schulbehörde.
Die meisten Menschen, die ich kenne,
haben Ramallah nie verlassen. Jerusalem ist ganz nah, aber wir
konnten noch nie dorthin. Die Hälfte der Kinder auf unserer Schule
sind Muslime und die andere Hälfte Christen. Wir feiern sowohl
Advent für die Christen als auch Ramadan für die Muslime. In
Jerusalem gibt es für beide Religionen viele heilige Stätten, aber
wir dürfen trotzdem nicht hinfahren, um sie zu besuchen.
Religiös zu sein bedeutet, egal ob man
Muslim, Christ oder Jude oder was auch immer ist, dass man den
Menschen helfen und die Welt besser machen und nicht nur an sich
selbst denken sollte. Wenigstens in unseren Religionen haben wir
etwas gemeinsam.
Ich möchte mal Sänger werden. Das wünsche
ich mir von ganzem Herzen. Mein Freund sagt mir zwar: »Du bist doch
bloß ein Palästinenser. Niemand wird deine CDs kaufen. Niemand wird deine Lieder
hören wollen.« Aber ich bin anderer Meinung als mein Freund. Ich
sorge schon dafür, dass die Menschen mich hören wollen.
Die Leute glauben, was sie in den
Nachrichten sehen, und da die Israelis die Nachrichten
kontrollieren, glauben sie, alle Palästinenser wären schlecht. Sie
können sich nicht vorstellen, dass wir ganz normale Menschen
sind.
Israelische Kinder werden von ihren
Eltern und ihrer Regierung mit Hass vollgestopft. Sie wissen gar
nichts Richtiges |71|über uns. Sie
glauben, Palästinenser haben keine Ahnung von Büchern oder Kultur.
Sie glauben, wir sind Tiere, die nicht lesen können und zu nichts
fähig sind, wozu man Grips braucht. Weil sie uns nicht kennen,
wollen sie uns umbringen. Die Menschen in Israel sollten sich gegen
die Lügen wehren, die sie über uns erzählt bekommen.
Unter einer Besatzung zu leben ist sehr
schwierig. Wir sind ständig von Soldaten umgeben, die uns erzählen,
wir wären wertlose Kriminelle, sogar noch schlimmer als Kriminelle.
Ich fühle mich wohl in meiner Haut, weil ich ein Palästinenser und
ein guter Mensch bin, aber so geht es nicht jedem. Die Israelis
wollen, dass wir uns selbst hassen, damit wir ihnen keinen
Widerstand leisten. Denn wenn wir glauben, dass wir nichts wert
sind, dann ist es auch egal, wenn wir unter ihrer Besatzung leben.
Dann glauben wir, wir hätten nichts Besseres verdient.
Die Schule hat nach drei Tagen
Ausgangssperre gerade erst wieder angefangen. Ausgangssperre
bedeutet, dass alles geschlossen ist und jeder drinnen bleiben
muss, oder er wird erschossen.
Letztes Frühjahr haben israelische
Soldaten unsere Schule besetzt. Es war gerade Ausgangssperre, als
sie ankamen, und das Gebäude stand leer, aber sie haben es trotzdem
gestürmt. Sie haben Löcher in die Türen geschlagen, Fenster und
Möbel zerbrochen, alles kaputt gehauen. Sie haben unanständiges
Zeug an die Tafeln geschrieben und sogar auf den Boden gepinkelt.
Und uns nennen sie Tiere.
Wir haben alle mit angefasst, um das
wieder sauber zu kriegen. Drei Tage hat es gedauert. Ich war sehr
wütend |72|deswegen, aber es hat mir
auch ein Gefühl von Stärke gegeben, dass wir es schaffen, alles
wieder in Ordnung zu bringen, was die Israelis uns auch immer
antun.
Meine Mutter führt Kontrollen an Schulen
durch. Es gibt viele starke palästinensische Frauen und meine
Mutter ist eine von ihnen. Sie besucht Schulen und sorgt dafür,
dass sie alles haben, was sie brauchen. Sie reist durch das ganze
Westjordanland, nach Bethlehem und nach Nablus. Sie kann aber nicht
immer fahren. Häufig wird sie an den Kontrollpunkten
zurückgewiesen. Wenn sie nicht abgewiesen wird, lassen sie sie
rumsitzen und warten. Einmal wollte sie nach Hause fahren, und sie
haben sie fünf Stunden lang warten lassen. Es war schon spät, und
sie wollte nach Hause. Sie sagten ihr, sie sollte auf dem Fußboden
schlafen, bis sie durchgelassen würde. Einmal haben sie zu ihr
gesagt, sie soll sich hinknien und Gras essen, dann dürfte sie
durch. Was sie nicht getan hat. Sie lässt sich von denen nicht
schikanieren.
Für Frauen ist es an den Kontrollpunkten
besonders hart. Es gibt keinen Ort, an den sie gehen können, wenn
sie, na ja, mal müssen. Männer können sich an den Straßenrand
stellen, wenn sie müssen, aber Frauen nicht.
An manchen Kontrollpunkten gibt es solche
Betongebäude. Wenn die Soldaten wollen, nehmen sie einen mit hinein
und zwingen ihn, sich auszuziehen. Sie behaupten, sie würden dabei
nach Bomben suchen, aber niemand, der eine Bombe hat, wäre so dumm
zu versuchen, sie durch einen Kontrollpunkt zu schmuggeln. Ich
glaube, sie tun das nur, um uns zu demütigen. Sie schlagen dort
auch Menschen, |75|weil sie niemand
dabei beobachten kann. Manchmal sieht meine Mutter israelische
Frauen mit Kameras an den Kontrollpunkten stehen. Sie fotografieren
die Soldaten, wenn sie sich nicht anständig benehmen. Nicht alle
Israelis sind unsere Feinde.
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Meine Mutter verbringt eine Menge Zeit in
Menschenschlangen vor den Kontrollpunkten. Sie hat viele
Geschichten gehört, von Frauen, die ihre Babys direkt dort am
Übergang bekommen haben, und von schwer kranken Leuten, die nicht
über die Grenze zum Arzt gelassen wurden.
Manchmal ist Ramallah nur eine Stunde am
Tag geöffnet. Wir wissen nie, wann die Ausgangssperre aufgehoben
wird oder für wie lange. Also müssen wir die ganze Zeit aufpassen,
um dann rechtzeitig rauszukommen, um Lebensmittel einzukaufen oder
Nachrichten zu verschicken oder andere wichtige Dinge zu erledigen.
Eine Bekannte meiner Eltern hat Wäsche gewaschen und zum Trocknen
auf den Balkon in die Sonne gehängt, als die Ausgangssperre
aufgehoben wurde. Dann trat sie wieder in Kraft, aber die Wäsche
hing immer noch draußen. Als sie trocken war, ging die Frau raus
auf den Balkon, um sie zu holen, aber da war schon Ausgangssperre.
Einer der Soldaten sah sie, schoss auf sie und tötete sie. Wenn ich
solche Sachen höre, kommen mir die Tränen.
Manche Israelis wollen Frieden. Wenn aus
ihrer Familie jemand im Krieg stirbt, sind sie traurig, genauso wie
wir, wenn jemand aus einer palästinensischen Familie stirbt. Was
das angeht, sind wir gleich.
Meine Mutter wurde schon häufig von
Soldaten beschossen |76|, während
sie von Schule zu Schule fuhr. Einmal war sie in einer Bibliothek.
Sie kam gerade wieder raus, als die Israelis das Gebäude
bombardierten und es hinter ihr in die Luft flog. Warum jagen die
eine Bibliothek in die Luft? Das ist doch sinnlos. Ich glaube, den
Israelis macht das Bombardieren einfach Spaß, und es ist ihnen
egal, was diese Bomben zerstören.
Was die Ausgangssperren angeht,
entscheiden sich die Israelis andauernd um. Das macht mich wütend,
weil ich nichts planen kann, zum Beispiel wann ich mich mit meinen
Freunden treffe oder wann ich einkaufen gehe. Was sie tun, ergibt
einfach keinen Sinn. Wenn in Jenin etwas passiert, sperren sie
Ramallah. Sie behaupten, das geschehe zu unserer Sicherheit, aber
ich glaube, ihnen macht es einfach Spaß, uns zu bestrafen.
Einmal war ich mit meinen Freunden im
Kino. Mitten im Film verhängten die Israelis eine Ausgangssperre.
Uns wurde befohlen, zurück nach Hause zu gehen, und wir konnten uns
den Rest des Films nicht mehr ansehen. Es war ein amerikanischer
Film, Save the Last Dance mit Julia Stiles. Er handelt von
zwei sehr unterschiedlichen Menschen, die durch den Tanz und die
Musik zueinander finden. Er hat mir sehr gefallen, und ich wüsste
zu gern, wie er ausgeht.
Musik bedeutet mir alles. Sie hilft mir,
wenn ich wütend bin, und tröstet mich, wenn ich traurig bin. Und
wenn ich glücklich bin, macht die Musik mich sogar noch
glücklicher.
Irgendwie kann ich die
Selbstmordattentäter schon verstehen. Wenn man jemanden verloren
hat, wenn man niemanden |77|mehr
hat, auf den man sich verlassen kann, und keine Hoffnung, dass die
Dinge sich bessern, warum soll man dann am Leben bleiben? Ich habe
von einem fünfjährigen Jungen gehört. Er war in der Schule, und als
er nach Hause kam, war seine gesamte Familie tot und ihr Haus
zerstört. Was kann er schon tun? Er wird für den Rest seines Lebens
traurig sein. Ich bin sehr froh, dass meine Eltern noch
leben.
Bomben in Einkaufszentren zu legen ist
allerdings keine gute Idee. So etwas stellt die Palästinenser in
ein schlechtes Licht. Wir sollten die israelischen Soldaten
terrorisieren, nicht das israelische Volk. Außerdem könnten diese
Bomben auch uns selbst verletzen.
Ich wünsche mir, dass die Kämpfe
aufhören, damit wir einfach nur Musik machen und lustig sein
können, anstatt uns gegenseitig zu hassen. Vielleicht könnten wir
eines Tages sogar mit den Israelis zusammen Musik machen.