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Salam, 12
Wenn jemand Selbstmord begeht, bedeutet das, dass er sich selbst das Leben nimmt. Selbstmord hat normalerweise mit Verzweiflung zu tun, der Betroffene sieht keinen anderen Weg, seine Probleme zu lösen, und fühlt sich außerstande, noch einen Tag länger unter den gegenwärtigen Bedingungen zu leben. Menschen, die Selbstmord begehen, haben gewöhnlich das Gefühl, ihr Leben würde nie mehr besser werden.
Selbstmordattentäter töten sich, indem sie sich Dynamit oder anderes explosives Material um den Körper binden. Dann gehen sie an einen öffentlichen Ort, zünden den Sprengstoff und sprengen sich selbst in die Luft. Und mit sich jeden, der gerade in der Nähe steht. Eine ganze Reihe von Palästinensern hat sich und viele Israelis schon auf diese Weise umgebracht.
Viele Palästinenser lehnen solche Selbstmordattentate ab. Sie glauben, dass eine dauerhafte, aussichtsreiche Veränderung nur durch gewaltfreie Mittel erreicht werden kann, und haben Organisationen gegründet, die darauf hinarbeiten, das palästinensische Volk durch Bildung und politisches Handeln zu stärken. Sie glauben außerdem, dass die Selbstmordattentate der israelischen Armee lediglich einen Vorwand für weitere Unterdrückungsmaßnahmen liefern und dem Ansehen der Palästinenser im Ausland schaden.
|125|Andere Palästinenser betrachten Selbstmordattentäter jedoch als Märtyrer oder Helden. Ihre Fotos hängen in palästinensischen Städten und Lagern. Kinder sammeln Karten und Schmuckstücke mit ihren Bildern und Namen. Menschen, die als Märtyrer sterben, bekommen angeblich besondere Plätze im Paradies. Ihre Familien erhalten finanzielle Entschädigungen von ausländischen Regierungen. Nach einigen von ihnen sind Sommerferienlager benannt, und sie werden im Fernsehen und in den Zeitungen gefeiert. Bevor sie sich, zusammen mit möglichst vielen Israelis, in die Luft sprengen, nehmen sie Videobänder auf, in denen sie sich ihrer bevorstehenden Tat rühmen.
Am 29. März 2002 ging die 17-jährige Aayat Al-Akhras in ein West-Jerusalemer Schuhgeschäft und sprengte sich in die Luft. Sie tötete sich selbst, einen Wachmann und ein 17-jähriges Mädchen namens Rachel Levy und verwundete 28 Menschen.
Aayats Familie lebt im Flüchtlingslager Dheisheh gleich außerhalb von Bethlehem. Das Lager beginnt nahe der Hauptstraße am Stadtrand. Vor der Geburtskirche, dem Ort, an dem Jesus geboren wurde, steht ein riesiger Panzer. Obwohl bald Weihnachten ist, sieht man dort weder Pilger noch Touristen oder Bürger. In Bethlehem herrscht gerade Ausgangssperre.
Es gibt keine Absperrung zwischen der Stadt und dem Lager. Die Gebäude im Lager sind durch matschige Wege voneinander getrennt. Ihre Wände schmücken Poster von palästinensischen Märtyrern; auch viele Fotos von Aayat sind darunter. Das Haus ihrer Familie ist ein quadratisches Betongebäude an einer Straße mit vielen anderen, gleich aussehenden Häusern. Die israelische Regierung zerstört für gewöhnlich die Häuser von Selbstmordattentätern, wodurch deren Familien obdachlos |126|werden, aber bislang haben israelische Anwälte Aayats Haus vor diesem Schicksal bewahrt.
An jeder Wand dieses Hauses hängen Bilder von Aayat. Im Wohnzimmer gibt es ein sehr großes Bild von ihr mit einem hübsch bestickten grünweißen Rahmen.
Salam ist Aayats zwölfjährige Schwester.
Ich habe sechs Schwestern und vier Brüder. Ich gehe in die sechste Klasse. Wenn ich groß bin, möchte ich Anwältin werden.
Ich bin gerade ziemlich müde, weil ich nur ganz kurz geschlafen habe. Die Soldaten kommen normalerweise nachts, deshalb habe ich zu viel Angst, um nachts zu schlafen. Ich bleibe lieber wach, damit sie mich nicht überraschen können. Wenn sie einen im Schlaf überraschen, ist es noch schlimmer, dann geht es mir noch schlechter, und ich habe noch mehr Angst und schäme mich noch mehr.
Wir haben gerade Ausgangssperre, also ist es ohnehin egal, wann ich schlafe. Wir dürfen nicht aus dem Haus gehen, also kann ich schlafen, wann ich will. Mir ist es egal, ob Ausgangssperre ist, weil ich nicht gern zur Schule gehe, und während einer Ausgangssperre fällt die Schule aus. Mir macht das Lernen keinen Spaß und meine Hausaufgaben mache ich auch nicht gern. Wozu denn auch? Die Israelis lassen uns ja doch nichts mit unserer Schulausbildung anfangen. Warum soll ich mir da überhaupt Mühe geben, was zu lernen?
Blöd finde ich bloß, dass ich während der Ausgangssperre meine Freundinnen nicht besuchen und nicht wie |127|ein normales Kind leben kann. Aber wenn wir aus dem Haus gehen, schießen die Soldaten auf uns. Wenn ich mich mit meinen Freundinnen treffe, machen wir gar nichts Besonderes. Wir sind einfach nur gern zusammen. Ich mag nicht mehr mit meinen Geschwistern im Haus eingesperrt sein.
Hier sind ständig Soldaten. Sie mögen uns nicht. Ich habe gesehen, was sie machen. Sie sind überall. Sie werfen Gasbomben, schießen auf Kinder, zerstören Häuser, verhaften Leute und zwingen sie, ganz lange mit verbundenen Augen auf dem Boden zu sitzen. Dann stehen die Soldaten über ihnen, lachen und machen alles, damit es ihnen noch schlechter geht.
Natürlich haben die Soldaten mir auch schon wehgetan. Sie haben jedem wehgetan, den ich kenne. Ich kenne eine Menge Kinder, die kleiner sind als ich, die sie verletzt oder umgebracht haben. Ich habe sogar schon gesehen, wie Soldaten auf einen Krankenwagen geschossen haben. Denen ist das doch egal. Die wollen uns doch bloß alle umbringen.
Man muss gar nichts Böses tun, um von den Soldaten verletzt zu werden. Es reicht, einfach nur die Straße entlangzugehen. Einmal, als gerade keine Ausgangssperre war, bin ich mit meinen Freundinnen ein Stück die Straße runtergelaufen. Da standen ein paar Jungs in der Nähe, und die Israelis haben auf einen von ihnen geschossen. Wir haben ihn alle zusammen zum Straßenrand getragen. Er ist nicht gestorben. Er war bloß angeschossen worden.
Als ich vom Tod meiner Schwester erfuhr, stand ich gerade |128|in der Küche und habe gebacken. Sie kam nicht zum Abendessen. Wir warteten alle mit dem Essen auf sie. Meine Eltern sahen fern, und dann kam es in den Nachrichten. Sie hat mir nicht erzählt, was sie vorhatte. Wir haben uns ein Zimmer geteilt, aber sie hat es mir nicht erzählt. Ich habe geweint und geweint.
An diesem Abend ist die Armee zu uns nach Hause gekommen. Die Soldaten haben Sachen kaputt gemacht und rumgebrüllt. Sie haben unsere Tür zertrümmert. Sarah, eine von den Frauen aus dem Ausland, war hier bei uns. Sie hat die Soldaten angeschrieen, dass sie aufhören sollen, aber sie haben nicht auf sie gehört. Sie haben sie geschlagen, als wäre sie auch eine Palästinenserin. Sie haben meinen Bruder verhaftet. Er sitzt immer noch im Gefängnis, obwohl er nichts getan hat. Aber das ist denen egal.
Wir mussten alle rausgehen. Sie haben uns auf den Boden geworfen. Und dann haben sie meine älteren Brüder mitgenommen. Wir mussten viel Geld bezahlen, um wenigstens ein paar von ihnen wieder freizubekommen.
Ich habe mir ein Zimmer mit Aayat geteilt. Sie war ordentlich, genau wie ich. Eine von meinen Schwestern ist nicht ordentlich, und ich bin froh, dass ich mir nicht mit ihr das Zimmer teilen muss. Aayat und ich haben uns vertragen, wie ganz normale Kinder sich eben vertragen. Manchmal haben wir uns gestritten. Einmal hat sie meine Schuhe angezogen, ohne mich vorher zu fragen. Da war ich wütend auf sie.
Sie hat viel gelernt. Sie war besser in der Schule als ich. Sie hat mich immer dazu angehalten, mehr zu lernen, aber |129|ich habe das nie eingesehen. Und ich hatte recht. Das Lernen hat Ayat nichts genützt.
Sie hat mir nicht gesagt, was sie vorhatte. Sie hätte es mir sagen sollen. Ich hätte ihr Geheimnis für mich behalten, wenn sie es gewollt hätte. Ich hätte gern mit ihr darüber geredet, und vielleicht hätte ich ihr an diesem Tag ein tolles Frühstück oder irgendetwas anderes Besonderes für sie gemacht. Sie hätte es mir erzählen sollen. Aber niemand von uns wusste Bescheid. Sie war fast fertig mit der Schule und stand kurz vor ihrer Hochzeit, die sie einfach weiter geplant hat, als wäre alles wie immer. Ihr Verlobter ist jetzt viel hier bei uns. Er ist dauernd traurig.
Ich möchte nicht, dass Sie ein Foto von mir machen. Irgendwer hat mein Foto in einer großen amerikanischen Zeitschrift abgedruckt. Da habe ich gerade geweint, und ich mag es nicht, dass alle in Amerika mich jetzt weinen sehen können. Darum bitte kein Foto von mir machen.
Aayats Foto ist überall, an den Wänden und in den Zeitungen. Sie ist sehr berühmt. Sie ist eine Märtyrerin und ist jetzt im Paradies, wo es sehr schön sein soll. Ich möchte sie gern dort treffen. Ich müsste eine Märtyrerin werden wie sie, um zu ihr ins Paradies zu kommen. Wenn ich sie im Paradies wiedersehe, frage ich sie, warum sie mir nichts erzählt hat.
Ich glaube nicht, dass es wehtäte, wenn ich mich in die Luft sprengen würde. Ich glaube auch nicht, dass es meiner Schwester wehgetan hat. Ich bin sicher, sie war sehr mutig und hatte überhaupt keine Angst. Wahrscheinlich war sie sehr glücklich.
|130|Ich weiß nicht, ob das Mädchen, das sie getötet hat, eine Schwester in meinem Alter hatte. Ist auch egal. Ich kenne keine israelischen Jugendlichen. Warum sollte ich das auch wollen?