|124|
Salam, 12
Wenn jemand Selbstmord
begeht, bedeutet das, dass er sich selbst das Leben nimmt.
Selbstmord hat normalerweise mit Verzweiflung zu tun, der
Betroffene sieht keinen anderen Weg, seine Probleme zu lösen, und
fühlt sich außerstande, noch einen Tag länger unter den
gegenwärtigen Bedingungen zu leben. Menschen, die Selbstmord
begehen, haben gewöhnlich das Gefühl, ihr Leben würde nie mehr
besser werden.
Selbstmordattentäter töten sich,
indem sie sich Dynamit oder anderes explosives Material um den
Körper binden. Dann gehen sie an einen öffentlichen Ort, zünden den
Sprengstoff und sprengen sich selbst in die Luft. Und mit sich
jeden, der gerade in der Nähe steht. Eine ganze Reihe von
Palästinensern hat sich und viele Israelis schon auf diese Weise
umgebracht.
Viele Palästinenser lehnen solche
Selbstmordattentate ab. Sie glauben, dass eine dauerhafte,
aussichtsreiche Veränderung nur durch gewaltfreie Mittel erreicht
werden kann, und haben Organisationen gegründet, die darauf
hinarbeiten, das palästinensische Volk durch Bildung und
politisches Handeln zu stärken. Sie glauben außerdem, dass die
Selbstmordattentate der israelischen Armee lediglich einen Vorwand
für weitere Unterdrückungsmaßnahmen liefern und dem Ansehen der
Palästinenser im Ausland schaden.
|125|Andere Palästinenser betrachten
Selbstmordattentäter jedoch als Märtyrer oder Helden. Ihre Fotos
hängen in palästinensischen Städten und Lagern. Kinder sammeln
Karten und Schmuckstücke mit ihren Bildern und Namen. Menschen, die
als Märtyrer sterben, bekommen angeblich besondere Plätze im
Paradies. Ihre Familien erhalten finanzielle Entschädigungen von
ausländischen Regierungen. Nach einigen von ihnen sind
Sommerferienlager benannt, und sie werden im Fernsehen und in den
Zeitungen gefeiert. Bevor sie sich, zusammen mit möglichst vielen
Israelis, in die Luft sprengen, nehmen sie Videobänder auf, in
denen sie sich ihrer bevorstehenden Tat rühmen.
Am 29. März 2002 ging die
17-jährige Aayat Al-Akhras in ein West-Jerusalemer Schuhgeschäft
und sprengte sich in die Luft. Sie tötete sich selbst, einen
Wachmann und ein 17-jähriges Mädchen namens Rachel Levy und
verwundete 28 Menschen.
Aayats Familie lebt im
Flüchtlingslager Dheisheh gleich außerhalb von Bethlehem. Das Lager
beginnt nahe der Hauptstraße am Stadtrand. Vor der Geburtskirche,
dem Ort, an dem Jesus geboren wurde, steht ein riesiger Panzer.
Obwohl bald Weihnachten ist, sieht man dort weder Pilger noch
Touristen oder Bürger. In Bethlehem herrscht gerade
Ausgangssperre.
Es gibt keine Absperrung zwischen
der Stadt und dem Lager. Die Gebäude im Lager sind durch matschige
Wege voneinander getrennt. Ihre Wände schmücken Poster von
palästinensischen Märtyrern; auch viele Fotos von Aayat sind
darunter. Das Haus ihrer Familie ist ein quadratisches Betongebäude
an einer Straße mit vielen anderen, gleich aussehenden Häusern. Die
israelische Regierung zerstört für gewöhnlich die Häuser von
Selbstmordattentätern, wodurch deren Familien obdachlos
|126|werden, aber bislang haben
israelische Anwälte Aayats Haus vor diesem Schicksal bewahrt.
An jeder Wand dieses Hauses
hängen Bilder von Aayat. Im Wohnzimmer gibt es ein sehr großes Bild
von ihr mit einem hübsch bestickten grünweißen Rahmen.
Salam ist Aayats zwölfjährige
Schwester.
Ich habe sechs Schwestern und vier
Brüder. Ich gehe in die sechste Klasse. Wenn ich groß bin, möchte
ich Anwältin werden.
Ich bin gerade ziemlich müde, weil ich
nur ganz kurz geschlafen habe. Die Soldaten kommen normalerweise
nachts, deshalb habe ich zu viel Angst, um nachts zu schlafen. Ich
bleibe lieber wach, damit sie mich nicht überraschen können. Wenn
sie einen im Schlaf überraschen, ist es noch schlimmer, dann geht
es mir noch schlechter, und ich habe noch mehr Angst und schäme
mich noch mehr.
Wir haben gerade Ausgangssperre, also ist
es ohnehin egal, wann ich schlafe. Wir dürfen nicht aus dem Haus
gehen, also kann ich schlafen, wann ich will. Mir ist es egal, ob
Ausgangssperre ist, weil ich nicht gern zur Schule gehe, und
während einer Ausgangssperre fällt die Schule aus. Mir macht das
Lernen keinen Spaß und meine Hausaufgaben mache ich auch nicht
gern. Wozu denn auch? Die Israelis lassen uns ja doch nichts mit
unserer Schulausbildung anfangen. Warum soll ich mir da überhaupt
Mühe geben, was zu lernen?
Blöd finde ich bloß, dass ich während der
Ausgangssperre meine Freundinnen nicht besuchen und nicht wie
|127|ein normales Kind leben kann.
Aber wenn wir aus dem Haus gehen, schießen die Soldaten auf uns.
Wenn ich mich mit meinen Freundinnen treffe, machen wir gar nichts
Besonderes. Wir sind einfach nur gern zusammen. Ich mag nicht mehr
mit meinen Geschwistern im Haus eingesperrt sein.
Hier sind ständig Soldaten. Sie mögen uns
nicht. Ich habe gesehen, was sie machen. Sie sind überall. Sie
werfen Gasbomben, schießen auf Kinder, zerstören Häuser, verhaften
Leute und zwingen sie, ganz lange mit verbundenen Augen auf dem
Boden zu sitzen. Dann stehen die Soldaten über ihnen, lachen und
machen alles, damit es ihnen noch schlechter geht.
Natürlich haben die Soldaten mir auch
schon wehgetan. Sie haben jedem wehgetan, den ich kenne. Ich kenne
eine Menge Kinder, die kleiner sind als ich, die sie verletzt oder
umgebracht haben. Ich habe sogar schon gesehen, wie Soldaten auf
einen Krankenwagen geschossen haben. Denen ist das doch egal. Die
wollen uns doch bloß alle umbringen.
Man muss gar nichts Böses tun, um von den
Soldaten verletzt zu werden. Es reicht, einfach nur die Straße
entlangzugehen. Einmal, als gerade keine Ausgangssperre war, bin
ich mit meinen Freundinnen ein Stück die Straße runtergelaufen. Da
standen ein paar Jungs in der Nähe, und die Israelis haben auf
einen von ihnen geschossen. Wir haben ihn alle zusammen zum
Straßenrand getragen. Er ist nicht gestorben. Er war bloß
angeschossen worden.
Als ich vom Tod meiner Schwester erfuhr,
stand ich gerade |128|in der Küche
und habe gebacken. Sie kam nicht zum Abendessen. Wir warteten alle
mit dem Essen auf sie. Meine Eltern sahen fern, und dann kam es in
den Nachrichten. Sie hat mir nicht erzählt, was sie vorhatte. Wir
haben uns ein Zimmer geteilt, aber sie hat es mir nicht erzählt.
Ich habe geweint und geweint.
An diesem Abend ist die Armee zu uns nach
Hause gekommen. Die Soldaten haben Sachen kaputt gemacht und
rumgebrüllt. Sie haben unsere Tür zertrümmert. Sarah, eine von den
Frauen aus dem Ausland, war hier bei uns. Sie hat die Soldaten
angeschrieen, dass sie aufhören sollen, aber sie haben nicht auf
sie gehört. Sie haben sie geschlagen, als wäre sie auch eine
Palästinenserin. Sie haben meinen Bruder verhaftet. Er sitzt immer
noch im Gefängnis, obwohl er nichts getan hat. Aber das ist denen
egal.
Wir mussten alle rausgehen. Sie haben uns
auf den Boden geworfen. Und dann haben sie meine älteren Brüder
mitgenommen. Wir mussten viel Geld bezahlen, um wenigstens ein paar
von ihnen wieder freizubekommen.
Ich habe mir ein Zimmer mit Aayat
geteilt. Sie war ordentlich, genau wie ich. Eine von meinen
Schwestern ist nicht ordentlich, und ich bin froh, dass ich mir
nicht mit ihr das Zimmer teilen muss. Aayat und ich haben uns
vertragen, wie ganz normale Kinder sich eben vertragen. Manchmal
haben wir uns gestritten. Einmal hat sie meine Schuhe angezogen,
ohne mich vorher zu fragen. Da war ich wütend auf sie.
Sie hat viel gelernt. Sie war besser in
der Schule als ich. Sie hat mich immer dazu angehalten, mehr zu
lernen, aber |129|ich habe das nie
eingesehen. Und ich hatte recht. Das Lernen hat Ayat nichts
genützt.
Sie hat mir nicht gesagt, was sie
vorhatte. Sie hätte es mir sagen sollen. Ich hätte ihr Geheimnis
für mich behalten, wenn sie es gewollt hätte. Ich hätte gern mit
ihr darüber geredet, und vielleicht hätte ich ihr an diesem Tag ein
tolles Frühstück oder irgendetwas anderes Besonderes für sie
gemacht. Sie hätte es mir erzählen sollen. Aber niemand von uns
wusste Bescheid. Sie war fast fertig mit der Schule und stand kurz
vor ihrer Hochzeit, die sie einfach weiter geplant hat, als wäre
alles wie immer. Ihr Verlobter ist jetzt viel hier bei uns. Er ist
dauernd traurig.
Ich möchte nicht, dass Sie ein Foto von
mir machen. Irgendwer hat mein Foto in einer großen amerikanischen
Zeitschrift abgedruckt. Da habe ich gerade geweint, und ich mag es
nicht, dass alle in Amerika mich jetzt weinen sehen können. Darum
bitte kein Foto von mir machen.
Aayats Foto ist überall, an den Wänden
und in den Zeitungen. Sie ist sehr berühmt. Sie ist eine Märtyrerin
und ist jetzt im Paradies, wo es sehr schön sein soll. Ich möchte
sie gern dort treffen. Ich müsste eine Märtyrerin werden wie sie,
um zu ihr ins Paradies zu kommen. Wenn ich sie im Paradies
wiedersehe, frage ich sie, warum sie mir nichts erzählt hat.
Ich glaube nicht, dass es wehtäte, wenn
ich mich in die Luft sprengen würde. Ich glaube auch nicht, dass es
meiner Schwester wehgetan hat. Ich bin sicher, sie war sehr mutig
und hatte überhaupt keine Angst. Wahrscheinlich war sie sehr
glücklich.
|130|Ich
weiß nicht, ob das Mädchen, das sie getötet hat, eine Schwester in
meinem Alter hatte. Ist auch egal. Ich kenne keine israelischen
Jugendlichen. Warum sollte ich das auch wollen?