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Nachwort von Helga
Dieter
Koordinatorin der Aktion »Ferien vom
Krieg« des »Komitees für Grundrechte und Demokratie«
Im Januar 2003 besuchte ich mit
einer Delegation des Projekts »Ziviler Friedensdienst« zwei Wochen
lang Israel und die besetzten Gebiete (Palästina). Bei dieser und
einer späteren Reise habe ich viele Dinge gesehen und erlebt, wie
sie die Kinder und Jugendlichen in den Gesprächen in diesem Buch
beschreiben. Im Rahmen der Aktion »Ferien vom Krieg« treffe ich
jeden Sommer Jugendliche und junge Erwachsene aus Israel und
Palästina bei gemeinsamen Freizeiten in Deutschland und stehe mit
unseren Partnerorganisationen auf beiden Seiten auch das übrige
Jahr in enger Verbindung. Die meisten TeilnehmerInnen unserer
Begegnungen sind ein paar Jahre älter als die Kinder und
Jugendlichen in den Interviews. Da diese schon einige Jahre
zurückliegen, wäre es aber im Grunde möglich, dass ein Kind, das in
diesem Buch interviewt wurde, später einmal an unseren Begegnungen
teilgenommen hat.
Beim Lesen der Kurzbiografien kommt
beinahe wie von selbst der Gedanke: »Was wäre, wenn zum Beispiel
Talia aus Israel mit Mona aus Palästina zusammenträfe? Würden sie
auf ihren Positionen beharren? Oder würden sie aufeinander
zugehen?«
|139|Wenn
man die Gespräche mit israelischen und palästinensischen Kindern
anschaut, ist es bemerkenswert, wie sehr sich viele Aussagen
gleichen. So oft wird betont, dass man die Gegenseite nicht kenne,
dass man selbst doch nett, die anderen aber sicherlich böse seien,
und dass man besser gar nicht mit ihnen zusammenkäme. Doch ebenso
scheint in vielen Gesprächen der Wunsch nach Austausch, die
Notwendigkeit der Begegnung mit dem Anderen durch.
Man stelle sich vor, diese Kinder seien
nicht nur interviewt worden, sondern könnten einander treffen und
darüber sprechen, wie sie sich selbst und die Anderen sehen.
Wahrscheinlich wären sie darüber erstaunt, wie sich die Vorurteile
gleichen.
In unserem Projekt »Ferien vom
Krieg« steht eben diese Begegnung, das Kennenlernen, der Dialog,
die zeitweise Perspektivenübernahme und ein möglicher
Veränderungsprozess durch diese Erfahrungen im Mittelpunkt. Das
Nachdenken über die eigene Lebensgeschichte, die ja mit einem
biografischen Interview immer verbunden ist, ist ein erster
Schritt. Wenn diesem die Begegnung mit den »Anderen« folgt, sind
Erschütterungen von bisherigen Überzeugungen zu erwarten. In einem
dritten Schritt erfolgen Wandlungsprozesse in der Wahrnehmung von
sich selbst und den Fremden. In diesem Sinne erscheint das Projekt
»Ferien vom Krieg« als die konsequente Fortsetzung der von Deborah
Ellis aufgeschriebenen Erzählungen der Kinder aus Israel und
Palästina.
|140|Das Projekt »Ferien vom Krieg«
Seit 1994 ist es dem »Komitee für
Grundrechte und Demokratie« gelungen, Kinder, Jugendliche und junge
Erwachsene aus verfeindeten Bevölkerungsgruppen in Krisen- und
Kriegsgebieten zum gemeinsamen Urlaub und friedenspolitischen
Seminaren einzuladen. Mehr als 20 000 junge Menschen haben bisher
an diesem Projekt teilgenommen, davon über 1 000 aus Israel und
Palästina.
Bei diesen Treffen konnten alle
Teilnehmer gleichberechtigt mit ihren angeblichen Feinden unter
einem Dach leben, zusammen spielen und lernen, einander zuhören und
debattieren, gemeinsam lachen und trauern. Für viele von ihnen
bedeutete diese Erfahrung einen Wendepunkt in ihrem Leben. Davon
erzählten sie in den Familien, der Schule oder Universität und im
Freundeskreis. Die Teilnahme an diesen Begegnungen erforderte
häufig großen Mut, denn oft drohen den Jugendlichen Ablehnung und
Ausgrenzung vom sozialen Umfeld und sogar der eigenen
Familie.
Trotz aller Warnungen, dass das
Aufeinandertreffen von Jugendlichen verfeindeter Gruppen zu
unkontrollierbaren Gewaltausbrüchen auf beiden Seiten führen
könnte, gab es bei den nun fast 20 000-fachen »Begegnungen mit den
vermeintlichen Feinden« keine einzige tätliche Auseinandersetzung
zwischen Teilnehmern der politischen Konfliktparteien. Das zeigt
deutlich, dass es in allen Krisen- und Kriegsgebieten junge
Menschen gibt, die der Propaganda ihrer politischen Führung nicht
mehr trauen und neugierig auf die Perspektive der »Anderen« sind,
die Verständigung |141|suchen und
für eine friedliche Zukunft zu Kompromissen bereit sind.
Das »Komitee für Grundrechte und
Demokratie« vertritt einen »streitbaren Pazifismus«. Dieses Konzept
wendet sich gegen die Verdächtigung, dass Pazifismus duldend passiv
sei. Im Rahmen der deutschen Friedensbewegung mischen wir uns ein.
Wir verstehen besonders die Aktion »Ferien vom Krieg« als
beispielhafte vorbeugende Friedensarbeit. Wir sind davon überzeugt,
dass, wenn auch nur die Hälfte der Waffen- und Kriegskosten in
ähnliche Dialogprojekte für Erwachsene gesteckt würde, die jeweils
Herrschenden keine Chance mehr für die Rechtfertigung bewaffneter
Auseinandersetzung hätten. Die Grundsätze unserer Arbeit lassen
sich auf drei Punkte zusammenfassen:
-
Humanitäre Hilfe für alle, die Not leiden.
-
Verteidigung der Menschenrechte für alle Gedemütigten.
-
Politische Unterstützung für die Wenigen, die für Aussöhnung kämpfen – auf beiden Seiten!
»Gerechte« Kriege
Kriege sind grausam – das weiß und
sagt jeder. Auch, dass in modernen Kriegen mit weitreichenden
Geschossen und Luftangriffen immer mehr Zivilisten die Opfer sind,
ist bekannt, genauso wie die Tatsache, dass auch noch Jahre nach
den Kampfhandlungen besonders Kinder die Opfer von Minen oder im
Straßenstaub lauernden kleinsten Teilchen von Uranmunition werden.
Dennoch toben zur Zeit laut UN-Angaben fast 40 Kriege auf der
Welt.
|142|Viele
Leute sagen: »Kriege gab es immer, das Kämpfen um Macht und Besitz
liegt in der Natur des Menschen.« Doch diese scheinbare Logik
entschuldigt nicht nur Mord und Totschlag zwischen den Nationen,
sondern letztlich auch den Kampf Jeder gegen Jeden im Alltag sowie
Wirtschaftskriminalität und Gewalt in der Familie.
In der Geschichte wurden viele
»Glaubenskriege« geführt. Diejenigen, die meinten, den einzig
wahren Glauben zu haben, eroberten die Gebiete der »Ungläubigen«
(Heiden). Auch die Christen führten im Namen Gottes
jahrhundertelang grausame Kriege, von den mittelalterlichen
Kreuzzügen ins »Heilige Land« (heute Israel / Palästina /
Jordanien) bis zu den kolonialen Eroberungen von Amerika, Asien und
Afrika. In allen Religionen gibt es auch heute noch
Fundamentalisten, die vermeintlich Ungläubige verachten und deren
Vernichtung wünschen.
Allerdings verstecken sich hinter den
religiösen Motiven meist handfeste und sehr weltliche Interessen.
Die Kriegsherren versuchen mit sozialen Geschenken die Massen auf
ihre Seite zu bringen und sie gleichzeitig zu fanatisierten
»Gotteskämpfern« zu schulen. Das ist aus unserer heutigen
Perspektive oft leicht zu durchschauen und abzulehnen.
Schwieriger wird es bei den sogenannten
»gerechten Kriegen« der Gegenwart, wenn eine Minderheit durch die
Mehrheit brutal unterdrückt wird und um ihre Freiheit kämpft.
Manchmal ist es sogar umgekehrt, dass nur eine kleine Gruppe im
Land die Macht besitzt und mit Waffengewalt die Mehrheit
tyrannisiert.
Früher war ich der Meinung, dass
»gerechte Kriege«, die |143|die
Regeln des Völkerrechts einhalten, in manchen Fällen der
Verhinderung des Blutvergießens dienen könnten. Nach vielen Jahren
der Arbeit in Kriegsgebieten glaube ich das heute nicht mehr. Wenn
erst die Waffen sprechen, gewinnt die Kriegsmaschine durch
Drohungen, Ultimaten, Angriffe und überzogene Revanche eine
unkontrollierbare Dynamik. Der angeblich gute Zweck heiligt dann
die grausamsten Mittel. Manch netter Mitbürger und treusorgender
Familienvater wurde schon in kurzer Zeit zum Sadisten und Mörder.
Sein Hass kann sich nicht nur gegen ferne »Terroristen« wenden
(Irak), sondern auch gegen den langjährigen Nachbarn
(Bosnien).
Viele Kriege sind sogenannte
»asymmetrische« Konflikte. Das heißt, die eine Seite ist ungleich
stärker als die andere, weil sie über die moderneren Waffen
verfügt, Unterstützung von außen erfährt oder aus welchen Gründen
auch immer. Wenn wir im Fernsehen die Bilder der Opfer sehen,
wollen wir helfen – und das ist auch der richtige Impuls. Aber
gleichzeitig erwarten wir von den Opfern auch, dass sie die
»besseren Menschen« sind, die selbst keine Gewalt anwenden und
moralische statt wirtschaftliche Ziele verfolgen.
Doch das ist oft ein Trugschluss. Viele
Opfer denken nur an Rache, und wenn sie später dazu die Gelegenheit
erhalten, sind sie noch grausamer als ihre Peiniger es waren.
Deshalb sollte man sich nicht vorschnell in eine »
Solidaritätsfalle« mit einer bestimmten Opfergruppe treiben lassen,
sondern genau hinsehen, ob Rachegelüste oder
Aussöhnungsbestrebungen das Handeln der Opfer bestimmen.
|144|In
den Berichten der Kinder und Jugendlichen in diesem Buch darüber,
wie das Kriegsgeschehen ihren Alltag beeinträchtigt, wird deutlich,
dass es sich bei diesem Krieg um einen asymmetrischen Konflikt
handelt. Die Lebensumstände der palästinensischen Jugendlichen sind
weit mehr davon beeinträchtigt als die der israelischen. Dennoch
darf man nicht übersehen, dass das nicht parteiisch oder moralisch
gemeint ist, sondern reale Zustände beschreibt. Ein »Gleichgewicht
des Schreckens« kann dabei nicht angestrebt werden und würde das
Bild verzerren.
Die Nachrichten und Bilder über
hungernde, gefangene, gequälte, verletzte und tote Menschen aus
Kriegsgebieten sind kaum zu ertragen. Wenn diese einer
unterdrückten Volksgruppe angehören, die um ihre Selbstbestimmung
kämpft, mischen sich in unseren Gefühlen Mitleid und Empörung. Wir
neigen dann zur Unterstützung ihres Freiheitskampfes. Was die
humanitäre Seite betrifft, ist das auch uneingeschränkt richtig.
Was die politische Seite betrifft, muss aber vor blinder
Solidarität gewarnt werden.
Das lehrte mich, dass Opfer nicht von
vornherein die besseren Menschen sind, sondern sie unter
veränderten Machtverhältnissen schnell zu Rächern und Tätern werden
können. Das klingt womöglich banal, ist aber angesichts des Leids
der Opfer bei den Begegnungen im Rahmen der Aktion »Ferien vom
Krieg« immer wieder eine schwer zu vermittelnde Einsicht.
Doch auch wenn die Bevölkerung im Krieg
auf beiden Seiten leidet, kann es dennoch große Unterschiede bei
der Bedrohung im Alltag geben, die beschrieben werden müssen
|145|. Der Benennung der Verbrechen
der einen Seite muss nicht im gleichen Atemzug die Aufrechnung der
Verbrechen der anderen Seite folgen, vor allem, wenn dies nicht der
Realität entspricht. Nur die Wahrnehmung und Respektierung des
Leidens der schwächeren Partei durch die stärkere sowie die
ungeschönte Aufarbeitung der Kriegsverbrechen auf beiden Seiten
kann einen Friedensprozess nicht nur auf das Papier, sondern auch
in die Herzen einschreiben.
Zur Geschichte des
Nahost-Konflikts
Damit sind wir mitten im
Nahost-Konflikt. Das Schwierige ist, dass es sich bei dem
Nahost-Konflikt in vielerlei Hinsicht um einen »ganz gewöhnlichen«
Krieg handelt. Nicht nur die Spirale von Rache und Vergeltung
ähnelt anderen Kriegen, auch die Sippenhaftung oder die
Gewaltzunahme im zivilen Lebensraum. Hinzu kommt aber, dass sich
dieser Krieg seit 60 Jahren im »Heiligen Land« abspielt und die
Staatsgründung von Israel unter anderem eine Folge der Ermordung
der europäischen Juden durch die Nazi-Diktatur und ihre
Kollaborateure war.
Schon mehr als 2 000 Jahre vor unserer
Zeitrechnung, also vor Christi Geburt, lebten Juden im Nahen Osten.
Über ihre frühe Geschichte gibt es im Alten Testament viele
Erzählungen. Das Land wurde zeitweise von verschiedenen
Nachbarvölkern erobert, zuletzt von den Griechen und Römern. Obwohl
sich die Juden gegen die römische Fremdherrschaft wehrten, wurden
sie besiegt, Jerusalem wurde erobert, der Tempel niedergebrannt und
die jüdischen Bewohner |146|vertrieben. Viele gingen nach Spanien, wo
sie jahrhundertelang unbehelligt ein kulturelles und religiöses
Leben entfalten konnten. Im späten Mittelalter wurden sie jedoch
von dort vertrieben. Auch in Osteuropa und den deutschen
Fürstentümern siedelten sich viele Juden an und bildeten religiöse
und kulturelle Gemeinschaften. Das Bemerkenswerte ist, dass sich
die Juden über die Jahrhunderte hinweg zwar im Alltag an die
jeweilige Mehrheitsgesellschaft angepasst, aber nur selten
Nicht-Juden geheiratet haben. Sie haben ihre Traditionen,
religiösen Riten und Feiern gepflegt und so eine gewisse
Eigenständigkeit ihrer Familien und Gemeinschaften bewahrt. Das
rief bei der Mehrheitsgesellschaft oft Misstrauen, Verdächtigungen
und Aggressionen hervor. In vielen Teilen der Welt waren sie
Verfolgungen ausgesetzt. Sie mussten in Ghettos leben, durften
viele Berufe nicht ausüben, und wenn sie dennoch erfolgreich waren,
erlitten sie oft Neid und Intrigen bis hin zu Ermordungen und
Pogromen.
Aufgrund antisemitischer Ausschreitungen
in einigen europäischen Ländern schlossen sich 1897 jüdische
Verbände unter der Leitung von Theodor Herzl beim 1. Zionistischen
Weltkongress zusammen mit dem Ziel, eine »Heimstätte des jüdischen
Volkes« zu schaffen. Sie sammelten Geld, um in Palästina, dem
»gelobten Land«, das zu dieser Zeit noch von den Türken – dem
damaligen Osmanischen Reich – besetzt war, Land zu kaufen.
Die Parole »Palästina ist ein Land ohne
Volk; die Juden sind ein Volk ohne ein Land« fand viele Anhänger.
Aus der Wüste sollte ein fruchtbarer Landstrich für eine ideale
Gemeinschaft |147|von Juden aus
aller Welt werden. Dass das Land von arabischen Bauern und Händlern
bewohnt war, schien dabei nicht zu interessieren. Fast alle
europäischen Länder hatten zu dieser Zeit Kolonien. So meinten die
Verfechter eines jüdischen Staates wohl, sie könnten problemlos den
dort ansässigen arabischen Bauern und Nomaden das Land abkaufen
oder sie vertreiben.
Die Zuwanderung zeigte Wirkung: Während
um 1900 circa 10 000 Juden in Palästina lebten, waren es 1914
bereits 85 000. Als die Engländer im Ersten Weltkrieg gegen die
Türken kämpften, versprachen sie der zionistischen Bewegung die
Unterstützung bei der Gründung einer »nationalen Heimstatt« für
Juden in Palästina. Damit verschenkte die damals noch führende
Weltmacht Großbritannien Land, das ihr gar nicht gehörte. Zwar
sollten die Rechte der arabischen Bevölkerung gewahrt bleiben. Wie
das aber aussehen sollte, blieb offen. Ein Teil der arabischen
Herrscher stimmte der Deklaration zu, andere wandten sich dagegen.
Es kam zu gewaltsamen Anschlägen auf jüdische Bewohner und
Einrichtungen. Die Spannungen verstärkten sich, als bekannt wurde,
dass in jüdischen Betrieben nur jüdische Arbeiter beschäftigt
werden sollten und nur den Juden erlaubt wurde, Waffen zu tragen.
Unter dem Druck dieser Unruhen und der arabischen Machthaber der
Region wurde von der Mandatsmacht die Einwanderung der Juden nach
Palästina gedrosselt. Die Engländer setzten in Jerusalem mit
Mohammed Amin al-Husseini einen arabischen Nationalisten als
Zivilverwalter ein, der die Juden hasste und später mit Hitler über
deren Ermordung beriet.
|148|Als
vielen jüdischen Deutschen nach 1933 klar wurde, dass die Nazis und
ihre Helfer in Wehrmacht und Bevölkerung ihnen nicht nur die
Lebensgrundlage durch Enteignungen und Berufsverbote entziehen
würden, sondern auch ihren Tod wollten, wanderten rund 200 000
europäische Juden nach Palästina aus. Nach der fabrikmäßigen
Ermordung von Millionen Juden wollten viele der Überlebenden des
Holocaust nach der Befreiung nicht in Europa bleiben, sondern nach
Palästina auswandern. Doch die Engländer verhinderten dies, um die
Spannungen im Land nicht noch weiter zu verstärken. Sie sperrten
Tausende von KZ-Überlebenden wieder in Lagern ein (zum Beispiel auf
Zypern). Jüdische Gruppen in Palästina schleusten Flüchtlinge auf
illegalen Wegen ins Land. Viele bewaffneten sich und verübten
Anschläge gegen die Engländer. Heute würden wir dies Terrorismus
nennen.
Ende November 1947 stimmte die
Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) für einen Teilungsplan Palästinas
in einen jüdischen und einen arabischen Staat, wobei Jerusalem und
Bethlehem unter UN-Kontrolle gestellt werden sollten. Die beiden
neuen Länder sollten durch eine Wirtschaftsunion verbunden sein.
Die jüdische Verwaltung akzeptierte den Plan, wenn auch viele
weiterhin von einem jüdischen Land in biblischer Größe träumten.
Die arabischen Führer lehnten es ab, bei einem Bevölkerungsanteil
von 67 Prozent nur 44 Prozent des Landes zu erhalten und die
fruchtbarsten Teile sowie die Küste an den jüdischen Staat
abzugeben.
Am 14. Mai 1948 lief das englische Mandat
aus und der |149|israelische
Politiker David Ben Gurion verkündete die Gründung des Staates
Israel. Seitdem feiert Israel an diesem Tag die Unabhängigkeit,
während er für die Palästinenser der Tag der Katastrophe ist
(Nakba). Einen Tag später erklärte die arabische Liga aus Ägypten,
Libanon, Syrien, Jordanien und dem Irak dem neuen Staat den
Krieg.
In den folgenden Tagen verließen fast 800
000 Palästinenser ihre Häuser. Bislang stellte die israelische
Regierung diesen Massenexodus stets als freiwilligen Auszug aus dem
neuen Staatsgebiet dar. Doch in den letzten Jahren haben einige
Historiker aus Israel Forschungsergebnisse präsentiert, die die
palästinensische Sichtweise bestätigen, nämlich dass es sich um
eine Vertreibung unter Zwang gehandelt habe. Damit die Bewohner
nicht zurückkehren konnten, wurden 400 Dörfer zerstört. Die meisten
dieser Flüchtlinge leben bis heute unter elenden Bedingungen in
Lagern in der Westbank, im Libanon oder in Jordanien. Viele sind in
der ganzen Welt verstreut. Die Rückkehr der Flüchtlinge und ihrer
Nachkommen ist bis heute eines der größten Probleme bei allen
Friedensverhandlungen.
Im »Palästinakrieg« oder aus israelischer
Sicht dem » Unabhängigkeitskrieg« gewannen die Israelis die
Oberhand, weil viele ihrer Soldaten zuvor auf Seiten der Alliierten
gegen Hitler-Deutschland gekämpft hatten und durch die
Unterstützung mit westlichen Waffen auch besser ausgerüstet waren,
während die Soldaten aus den arabischen Ländern keine gemeinsame
Struktur oder Strategie hatten. Dennoch gab es auf beiden Seiten
Tausende von Opfern. Der Krieg endete 1949, als Israel mit den
einzelnen arabischen |150|Ländern
Waffenstillstand schloss. Der Gaza-Streifen wurde von Ägypten
vereinnahmt und die Westbank (das Land westlich des Jordan) wurde
von Jordanien besetzt. Die im Waffenstillstand festgelegten Grenzen
entsprachen für Israel der vor dem Krieg in der UN-Resolution
festgelegten »Grünen Linie«. Von einem selbstständigen
palästinensischen Staat war zu dieser Zeit auch in den arabischen
Nachbarländern keine Rede mehr.
Der 1948 gegründete Staat Israel war von
arabischen Nachbarn umgeben, die seine Existenz nicht diplomatisch
anerkannten und damit drohten, den jüdischen Staat zu vernichten,
weil dieser einen Teil der arabischen Welt durch Landraub
kolonialisiere. So gab es viele Drohungen und nach einer
Nadelstichtaktik Störmanöver an den Grenzen. Die meisten Israelis
fühlten sich eingekesselt und bedroht. Das Trauma der Überlebenden
der Shoa war deutlich: »Wir werden uns nie wieder einsperren und
töten lassen. Wir brauchen eine Armee, die bei jeder Bedrohung
Stärke zeigt.« Als Anfang Juni 1967 in mehreren Nachbarstaaten
Truppen in Grenznähe aufmarschierten und vor allem Ägypten auf der
Sinai-Halbinsel und im Gazastreifen militärische Übungen abhielt,
entschloss sich die israelische Regierung zum Präventivschlag. Ob
Ägypten tatsächlich angreifen wollte, war unklar, wie
Ministerpräsident Begin später zugab.
Israel bombardierte schon am ersten Tag
die ägyptischen Militärflugzeuge und Landebahnen. In nur sechs
Tagen hatte die israelische Armee alle Nachbarländer geschlagen und
das zu Jordanien gehörende Westjordanland, die syrischen
|151|Golanhöhen und die ägyptische
Sinaihalbinsel sowie den Gazastreifen besetzt. Israels Armee galt
nun im eigenen Land als unschlagbar.
Im November 1967 forderten die Vereinten
Nationen Israel in der Resolution 242 auf, sich aus den besetzten
Gebieten zurückzuziehen. Doch das Gegenteil geschah: Israel begann
mit dem Bau jüdischer Siedlungen in den besetzten Gebieten.
Trotz oder wegen der hohen Verluste im
Sechs-Tage-Krieg planten Ägypten und Syrien 1973 nun ihrerseits
einen präventiven Blitzkrieg zur Rückeroberung ihrer besetzten
Gebiete und griffen Israel am jüdischen Jom-Kippur-Feiertag an zwei
Fronten an. Unter Vermittlung der US-Regierung gab es einen
Waffenstillstand und Jahre später einen Friedensvertrag mit Ägypten
und Jordanien.
Nach dem Scheitern der
Friedensverhandlungen in Oslo und Camp David spitzte sich ab dem
Sommer 2000 die Lage im Nahen Osten erneut zu. Es gab verschiedene
Selbstmordattentate auf Zivilisten in Israel, auch auf Treffpunkte
von Jugendlichen wie Cafés oder Discos und einige Anschläge auf
Soldaten an den Checkpoints. Die israelische Armee bombardierte die
Häuser und Autos von Anführern der gewalttätigen palästinensischen
Gruppen wie Hamas und Al-Aqsa-Brigaden. Dabei wurden zahlreiche
zufällig in der Umgebung anwesende Zivilisten getötet, auch viele
Kinder (Militärs und Politiker nennen das zynisch
»Kollateralschäden«). Sowohl die Selbstmordattentate als auch die
Bombardierungen sind völkerrechtswidrig und somit Terrorakte.
|152|Die
Auseinandersetzungen eskalierten, als sich im September 2000 der
israelische Politiker Ariel Scharon unter dem Schutz von 1000
Polizisten Zugang zum Tempelberg verschaffte. Auf diesem Berg
liegen heilige Stätten sowohl des Judentums als auch des Islam. Auf
der Westseite steht die »Klagemauer« der Juden, die noch von der
Zerstörung des (zweiten) Tempels im Jahr 70 n. Chr. stammt und der
wichtigste Gebetsort von Juden in aller Welt ist. Auf dem Gipfel
befindet sich die Al-Aqsa-Moschee, eines der bedeutendsten
Heiligtümer des Islam. Mit Ausnahme der »Klagemauer« steht der
Tempelberg unter palästinensischer Verwaltung. Radikale orthodoxe
Juden beanspruchen den ganzen Berg und träumen davon, in einem
Israel mit biblischen Ausmaßen dort den Dritten Tempel zu
erbauen.
Gegen die angekündigte Provokation
Scharons protestierten viele Palästinenser, manche auch gewaltsam.
Die israelische Armee schlug die Demonstrationen blutig nieder, was
zum Aufstand in den palästinensischen Gebieten führte. Es kam zum
Ausbruch der Zweiten Intifada.
Ängste, Bedrohungen und
Beeinträchtigungen im Alltag der Kinder
Wie in anderen Kriegsgebieten ist
der Alltag auf beiden Seiten meist durch Angst und
Vorsichtsmaßnahmen geprägt. Allerdings kann das Ausmaß der
Bedrohungen und Einschränkungen sehr unterschiedlich sein.
Einerseits ist der Alltag in Israel
geprägt von der Angst vor Selbstmord-Attentätern. Die Menschen
rechnen ständig |153|damit, dass
sich jemand irgendwann und irgendwo in die Luft sprengen und dabei
möglichst viele Menschen mit in den Tod reißen könnte. Deshalb
stehen überall Wachmänner und Soldaten, sogar in den Schulen.
Andererseits gibt es ein pulsierendes öffentliches Leben mit bunten
Läden, dichtem Verkehr und vielen Menschen in den Straßen. So hören
wir von Gili, dass sie oft reitet und sich amüsiert. Auch die
anderen Kinder und Jugendlichen erzählen, wie sie sich mit Freunden
treffen, feiern, ausgehen oder Sport treiben. Der Krieg sei zwar
bedrohlich, doch über lange Phasen könnten sie unbeschwert ihre
Kindheit genießen.
Für die palästinensischen Kinder in den
besetzten Gebieten ist ein unbeschwerter Alltag nicht möglich, in
vielen Orten schon seit Jahren nicht mehr. Ich selbst habe die
Auswirkungen der Ausgangssperre gespürt. Als ich mit der
ZFD-Delegation zu einem Treffen mit einer Friedensorganisation in
Bethlehem wollte, hatten wir Mühe, ein Taxi zu finden, weil es
während der Ausgangssperre verboten war zu fahren. Die Stadt machte
den Eindruck einer Geisterstadt, die Straßen menschenleer, alle
Jalousien der Läden waren heruntergelassen, niemand hinter den
Fenstern zu erblicken. Doch wir wussten, dass hier etwa 30 000
Menschen in ihren Wohnungen eingesperrt waren. Selbst ein Blick aus
dem Fenster wäre zu gefährlich gewesen. Darüber berichten auch
Mahmood und Maryam.
Das Schlimmste an der Besatzung jedoch,
sagen viele Palästinenser, sei die Willkür und die Erniedrigung,
die sie erleiden müssten. Ich habe selbst gesehen, wie an einem
Checkpoint ein Krankenwagen lange in der Gluthitze stehen
|154|musste, während die Soldaten
zusammenstanden, rauchten und lachten. Auch Nora beschwert sich im
Interview über die allmorgendlichen Schikanen im Schulbus mit
behinderten Kindern, die trotz Sondererlaubnis jeden Morgen
ausgefragt werden. Mona steht jeden Morgen auf dem Schulweg in der
Schlange, bis ihr die Füße weh tun. Besonders schlimm ist es, dass
es keine Toiletten für Frauen gibt.
Bei unseren Seminaren gibt es einen
kulturellen Abend, bei dem sich häufig die Gruppen Szenen aus ihrem
Alltag zu Hause vorspielen. Die Palästinenser stellen oftmals dar,
wie sie an den Checkpoints warten müssen und dazu noch verspottet
und erniedrigt werden. Die israelischen Teilnehmer und
Teilnehmerinnen sind meist schockiert, wenn sie solche Szenen sehen
oder Geschichten hören. Das hätten sie nicht gewusst, meinen viele
empört.
Die palästinensischen Jugendlichen können
sich nicht vorstellen, dass solche Szenen tatsächlich der
Wahrnehmnung vieler israelischer Jugendlicher entgehen können. Doch
in deren Erziehung werden israelische Soldaten stets als Vorbild
und Ideal dargestellt. Nach dem öffentlichen Bild sind sie edle
Beschützer und mutige Kämpfer für die Gemeinschaft, die niemals
Unrecht tun. Dieses Idealbild mit der Wirklichkeit von Brutaliät
und Willkür zusammenzubringen, ist für israelische Jugendliche oft
einfach nicht vorstellbar.
Ein junger israelischer Soldat hat einmal
gestanden, dass er mitgemacht habe bei der sadistischen Quälerei
eines Palästinensers. Dabei habe er sich nichts weiter gedacht, die
Kameraden hätten ihren Spaß gehabt! Erst jetzt in der Begegnung
|155|nehme er die »Anderen« als
Menschen mit Würde wahr und nicht mehr als Terroristen und
Ungeheuer.
Die meisten der jungen Israelis
bei unseren Seminaren sprechen fließend Englisch, viele auch
Französisch oder Spanisch, sie sind weit gereist, studieren zum
Teil in anderen Ländern, sind insgesamt also sehr weltgewandt und
kosmopolitisch. Die palästinensischen TeilnehmerInnen haben zwar
meist, wie die israelischen, in aller Welt Verwandte, doch können
sie von Auslandsreisen in der Regel nur träumen – schließlich sind
oft nicht einmal Reisen in die nächste Stadt möglich. Auch an Orten
und zu Zeiten ohne Ausgangssperre ist die Bewegungsfreiheit der
palästinensischen Bevölkerung stark eingeschränkt. Nach Israel
dürfen sie überhaupt nicht. Seitdem die israelische Armee den kurz
zuvor mithilfe europäischer Gelder gebauten Flughafen von Ramallah
bombardierte, können sie das Land nur noch über Jordanien
verlassen.
Bei all den geschilderten Schwierigkeiten
kann man sich vorstellen, wie viele unserer jungen Gäste aus
Palästina versucht haben, die Checkpoints zu umgehen und mit großen
Umwegen auf Trampelpfaden durch die Berge oder die Wüste nach
Jericho zu gelangen. Das kann gefährlich werden, auch wenn die
meisten verschlungene Wege kennen, die für Militärfahrzeuge kaum
befahrbar sind. Einige ließen sich auf Mopeds bringen, einer hatte
die Papiere eines Cousins, der israelischer Staatsbürger ist, ein
anderer versteckte sich unter Obst und Gemüse auf einem
Lieferwagen. Trotz des großen Risikos wagten sie es, um in
|156|Deutschland Gleichaltrige zu
treffen, die sie selbst oder ihr Umfeld als Feinde
betrachteten.
Deborah Ellis konnte wegen der
Ausgangssperre ihre Gespräche mit den palästinensischen
Jugendlichen nur in Ostjerusalem, Ramallah und Bethlehem führen.
Das sind Städte, die im Vergleich zu anderen Orten in den besetzten
Gebieten, wie etwa Nablus, Jenin, Tulkarem oder Qalqilia, nicht so
häufig von der israelischen Armee heimgesucht werden, weil sie aus
jeweils anderen Gründen am ehesten im Blickpunkt der
Weltöffentlichkeit stehen. In fast jeder Beziehung am Schlimmsten
sind die Zustände im Gazastreifen. Deborah Ellis konnte keine
Kinder von dort interviewen, und auch in unseren Ferienseminaren
sind nur ganz selten Teilnehmer aus Gaza, denn es ist fast
unmöglich, dieses Gebiet zu betreten oder zu verlassen.
Mit der ZFD-Delegation durfte ich im
Januar 2003 auch nach Gaza, womit keiner von uns gerechnet hatte.
Wir waren die Einzigen am Grenzübergang, dennoch dauerten die
Kontrollen stundenlang. Am Vortag hatten Hamas-Mitglieder mit
selbst gebauten Raketen auf israelisches Gebiet geschossen, und zur
Vergeltung waren alle Brücken rund um die Stadt Gaza bombardiert
worden, sodass keine Verbindung mehr zu den südlichen und
nördlichen Teilen des Gazastreifens bestand.
Wir besuchten unter anderem ein
psychotherapeutisches Beratungszentrum. Die Ärzte klagten über die
Zunahme von Erkrankungen bei Kindern, die nicht genug zu essen
hätten, wochenlang wegen des nächtlichen Lärms der Hubschrauber
|157|nicht schlafen könnten, oder
die ständig Angst vor Bombardierungen hätten. Auch die Eltern
stünden ständig unter Stress, Frauen und Kinder seien der
steigenden häuslichen Gewalt der Männer ausgesetzt.
Die meisten palästinensischen
Jugendlichen haben Freunde oder Verwandte, die in israelischen
Gefängnissen sitzen. Ein Teilnehmer unserer Seminare war dreimal im
Gefängnis, das erste Mal als Kind, weil er Steine auf ein
israelisches Armeefahrzeug geworfen hat; das zweite Mal, weil bei
einer Hausdurchsuchung eine Pistole gefunden wurde, worauf vier
Männer seiner Familie inhaftiert worden seien; für das dritte Mal
konnte er selbst keine Erklärung finden. Er habe auf der Straße
eine Ansammlung von Menschen gesehen und sich neugierig
dazugestellt. Die Soldaten hätten ihn herausgegriffen und
mitgenommen. Er vermutete, weil er sehr groß ist und aus der Menge
herausragte. Zwei Jahre habe er gesessen, ohne jemals zu erfahren
warum.
Wenn die israelischen TeilnehmerInnen der
Seminare so etwas hören, verteidigen einige ihre Regierung: »Es
wird schon Gründe geben, das sind ja nicht alles Unschuldslämmer!«
Das bringt die Palästinenser natürlich in Rage: »Ihr behauptet,
eine Demokratie und ein Rechtsstaat zu sein. Tausende Palästinenser
sitzen in israelischen Gefängnissen, ohne konkreten Tatvorwurf,
ohne Anklage, ohne Verurteilung. Menschenrechte gelten nur für
Euch, wir sind völlig rechtlos, schlimmer als Sklaven, eingesperrt
wie Tiere!«
Andere junge Israelis reagieren
einerseits schuldbewusst, andererseits abwehrend: »Wir sind gegen
die Besatzung und gegen unsere Regierung. Wir kommen gegen den
Willen |158|unserer Familien
hierher, um Euch zu treffen und zu helfen. Jetzt hören wir nur
Vorwürfe von Euch. Das alles ist schlimm, aber wir sind dafür nicht
verantwortlich.«
Jüdische Siedlungen auf
palästinensischem Land
Einen Teil der im Sechs-Tage-Krieg
eroberten Gebiete hat Israel später an Ägypten und Syrien
zurückgegeben. Im Westjordanland begann Israel dagegen bald mit dem
Bau von jüdischen Siedlungen. Vorzugsweise auf Hügeln konnten in
den folgenden Jahren Einheimische und Einwanderer luxuriöse Häuser
zu günstigen Bedingungen bewohnen. Trotz wiederholter
Aufforderungen zum Rückzug durch UN-Resolutionen baute Israel die
Siedlungen weiter aus. Die meisten palästinensischen Familien und
Dörfer waren mit der Beschlagnahme ihres Landes durch die neuen
Nachbarn durchaus nicht einverstanden und attackierten diese.
Deshalb müssen die Siedlungen aufwändig durch das Militär geschützt
werden. Was zunächst wie ein willkürlicher Flickenteppich erschien,
hat sich inzwischen zu Siedlungsregionen mit jeweils eigener
Infrastruktur verdichtet
Die meisten Siedlungshäuser sind von
blühenden Gärten umgeben, viele haben einen Swimmingpool – der
Wasserbedarf ist hoch. Die Bohrung der notwendigen Brunnen gräbt
den benachbarten palästinensischen Bauern sprichwörtlich das Wasser
für ihre Felder ab. Ein Siedler braucht siebenmal so viel Wasser
wie ein Palästinenser, obwohl diese meist Land bewirtschaften und
Nutztiere halten. Eine Untersuchung der israelischen
Friedensorganisation »Peace |159|Now« aus dem Jahr 2006 über die etwa 150
Siedlungen zeigt, dass der größte Teile des konfiszierten Bodens
gar nicht bewohnt oder bearbeitet wird.
Inzwischen gibt es richtige Städte im
besetzten Westjordanland wie zum Beispiel Ma'aleh Adumim mit 33 000
Einwohnern. Vor allem rund um Jerusalem wurden in den letzten
Jahren viele Neubaugebiete errichtet. Aus Sicht der israelischen
Regierung sind das keine Siedlungen, weil 1980 Israel durch ein
Gesetz ganz Jerusalem und das Umland zu seinem Staatsgebiet
erklärte. Die Vereinten Nationen fassten einen Beschluss, der dies
als illegalen Akt bezeichnet (UN-Resolution 478). Deshalb haben
sich fast alle Botschaften in Tel Aviv niedergelassen, während die
Regierung Israels in Jerusalem sitzt.
Insgesamt leben über 400 000 Israelis auf
annektiertem Land. Bei einem Friedensschluss lassen sich nicht ohne
weiteres Hunderttausende von Menschen umsiedeln. Alle Politiker,
die wieder gewählt werden wollen, können kaum gegen die Interessen
einer so großen Bevölkerungsgruppe handeln. So wurden Fakten
geschaffen, ohne dass dies in der westlichen Welt Sanktionen gegen
Israel nach sich gezogen hätte. Damit wird es schwierig, dass
Ostjerusalem Hauptstadt eines zukünftigen Palästinenserstaates
werden kann, wie es einige der Friedenspläne vorsehen.
Apartheidsmauer oder
Sicherheitszaun?
Kurz nachdem Deborah Ellis die
Gespräche mit den Kindern und Jugendlichen führte, begann Israel
seine Grenze zu |160|den
Palästinensergebieten durch Grenzanlagen zu sichern. Für die Mauer
wurden riesige Betonplatten aneinandergereiht, alle paar Kilometer
durch einen Wachtturm oder ein riesiges Tor unterbrochen. In weiten
Teilen steht statt einer Mauer ein hoher Zaun mit Gräben rechts und
links einer Straße für Militärfahrzeuge. Die Sperrzone zu beiden
Seiten des Zauns ist bis zu 70 Meter breit. Diese undurchdringliche
Sperranlage trennt inzwischen nicht nur das Gebiet Israels und der
besetzten Gebiete, sondern reicht auch in Keilen in die Westbank,
um die Siedlungen vor den benachbarten palästinensischen Dörfern zu
sichern. Sie hat eine Länge von 760 Kilometern – und es wird weiter
gebaut!
Israel begründet die Notwendigkeit der
Mauer mit seinen Sicherheitsinteressen, denn die Zahl der Opfer von
Selbstmordattentätern, die aus den besetzten Gebieten kamen, war
mit Beginn der Zweiten Intifada gestiegen.
Der eigentliche Skandal ist, dass diese
gigantische Sperranlage an vielen Stellen auf der palästinensischen
Seite der »Grünen Linie« (so heißt die im UN-Teilungsplan
vorgesehene Grenze) liegt und nicht auf der israelischen Seite
errichtet wurde. Sie reicht bis zu 10 Kilometer in das
palästinensische Gebiet hinein. Für den Bau wurden Olivenbäume
umgehackt, manche Dörfer wurden durchschnitten, Kinder kommen nicht
mehr zur Schule. Das Acker- und Weideland vieler Bauern liegt nun
unerreichbar jenseits der Mauer. Sie gelangen dort nur mit
Genehmigung und zu bestimmten Zeitpunkten hin, die durch das
israelische Militär bestimmt werden und nicht durch den
Arbeitsrhythmus der Bauern oder den Biorhythmus der Pflanzen und
Tiere. |161|So wurde die
Existenzgrundlage tausender palästinensischer Bauern
zerstört.
In der Tat gibt es seit der Existenz der
Mauer weniger Anschläge in Israel. Der Preis dafür ist allerdings,
dass ein ganzes Volk für die Verbrechen weniger in Sippenhaft
genommen wird. Im Gazastreifen, der schon lange von einem Zaun
eingeschlossen ist, hat diese Isolation nicht zur Befriedung,
sondern zur Radikalisierung und Militanz beigetragen. Von dort
schießen militante Gruppen mit Katjuscha-Raketen auf israelisches
Gebiet. Einen wirklichen Schutz kann auch die Mauer langfristig
nicht garantieren.
Der Internationale Gerichtshof in Den
Haag bezeichnete im Jahr 2004 in einem Gutachten den Mauerbau als
rechtswidrig. Dennoch ging der israelische Ministerpräsident Olmert
zwei Jahre später davon aus, dass die Mauer den künftigen
Grenzverlauf abstecke.
Darauf wird sich die palästinensische
Delegation bei Friedensverhandlungen kaum einlassen. Denn Tatsache
ist, dass durch die Sperranlage das palästinensische Gebiet
erheblich verkleinert wurde, und dies auch noch um sehr fruchtbares
Land und wichtige Wasserreserven.
Ferien vom Krieg – Begegnungen
zwischen jungen Menschen aus Israel und Palästina
Obwohl es in Israel mehrere
Friedensorganisationen gibt, die seit vielen Jahren Begegnungen
zwischen israelischen und palästinensischen Jugendlichen
organisierten, mussten wir erstaunt feststellen, dass fast all
diese Kontakte seit |162|Ausbruch
der Zweiten Intifada zerrissen waren. Unter den Bedingungen von
Belagerung, Ausgangssperre, Kontrollen und tödlichen Angriffen
seien Dialog-Projekte nicht mehr gewünscht und auch zu gefährlich,
sagten viele PalästinenserInnen, darunter prominente
FriedensaktivistInnen. Auch Organisationen in Israel zeigten kaum
Interesse: Solange die Friedenskräfte in Palästina nichts dagegen
unternähmen, dass Selbstmord-Attentäter als »Märtyrer« verehrt
würden, sei eine Verständigung ausgeschlossen.
Vertreter von beiden Seiten meinten, die
Zeit des Dialogs sei vorbei, die Treffen und Gespräche hätten
nichts gebracht. Auf palästinensischer Seite wurde immer wieder
betont, welch große Hoffnungen man in den Osloer Friedensprozess
gesetzt habe, und wie enttäuscht man jetzt sei. Auf israelischer
Seite wurde bis in die Führung der » Peace-Now-Bewegung« ein
weiterer Dialog abgelehnt. Israel müsse von sich aus die Besatzung
beenden und die Grundlage für einen dauerhaften Frieden
schaffen.
Nur die Friedensschule Neve Shalom /
Wahat al-Salam (NSWaS)
hatte noch Kontakt zu einem Friedensaktivisten aus Qalqilia sowie
einem Jugendzentrum in Nablus und entschloss sich zu einer
Zusammenarbeit mit uns.
Zufällig hörten wir von Keren aus
Tel-Aviv und Rami aus Ost-Jerusalem, die sich auf einem
Friedensschiff der japanischen Friedensbewegung kennengelernt
hatten. Während einer Kreuzfahrt von politisch interessierten
Touristen werden Bildungsseminare durchgeführt, die von jungen
Leuten aus allen Krisen- und Kriegsgebieten angeboten werden. Nach
vielen gemeinsamen Workshops stellten Keren und |163|Rami große Übereinstimmungen fest, aber
auch wie wenig sie jeweils von den Lebensbedingungen und der Kultur
der anderen Seite wussten. Es schien ihnen absurd, irgendwo auf dem
Atlantik zusammenzuarbeiten und dies zu Hause nicht zu wagen. Sie
erzählten vielen Freunden von dieser Erfahrung und gründeten eine
Initiative, die sich später »Breaking Barriers« nannte. Wir luden
sie nach Deutschland ein, und beide nahmen im Sommer 2002 erstmals
mit je 25 Bekannten an zwei Freizeiten in Deutschland teil. Seitdem
haben jeden Sommer Freunde von Freunden der Freunde beider Seiten
die Barrieren gebrochen, über 400 TeilnehmerInnen sind inzwischen
durch die Graswurzel-Initiative»Breaking Barriers« zu den Seminaren
in Deutschland gekommen. Soweit die politischen Bedingungen es
erlauben, bleiben viele Gruppen später in Kontakt.
Da es sich als völlig illusorisch
erwies, palästinensische Kinder unter 15 Jahren aus der Westbank
mit jüdischen Kindern aus Israel gemeinsam zu Ferien einzuladen,
sprachen wir über unsere Partnerorganisationen 16- bis 19-Jährige
und 22- bis 30-Jährige an. Die Altersgruppe dazwischen entfällt
weitgehend, weil fast alle jungen Israelis drei Jahre Militärdienst
leisten müssen.
Die Auswahl der TeilnehmerInnen
überlassen wir unseren Partnerorganisationen nach abgesprochenen
Kriterien. Demnach sollen es keine »Aktivisten« aus bestehenden
Friedensgruppen oder aus parteinahen Jugendorganisationen sein. Im
Gegensatz zu der im Nahen Osten – und nicht nur dort – verbreiteten
»education for leadership« |164|ziehen wir einen »Graswurzelansatz« vor, wo
»ganz normale« Jugendliche, von Neugier auf das »Fremde« angezogen,
hinter die Kulisse der heimischen Propaganda schauen wollen.
Soziale Kriterien gibt es natürlich auch, denn wir wollen hier
keine Spenden für die Kinder reicher Leute sammeln. Die
palästinensische Bevölkerung ist inzwischen so verarmt, dass den
meisten kein Eigenbeitrag zugemutet werden kann. Viele Jugendliche
aus Israel zahlen einen Eigenbeitrag, der in den »Topf« für die
Honorare der »facilitator« und Übersetzer geht, denn sie erhalten
aus den Spenden der Aktion »Ferien vom Krieg« nur ein
Taschengeld.
Zu den Begegnungen gehört Mut. Viele der
Teilnehmer haben Angst, zu Hause zu sagen, dass sie »die Anderen«
treffen wollen. Sie erzählen dann meist, sie seien zu einem Treffen
mit deutschen Jugendlichen eingeladen. Das gilt für beide Seiten.
Zwar sind solche Begegnungen für israelische Staatsbürger nicht
offiziell verboten, doch sprach der Ministerpräsident in diesem
Zusammenhang von » Vaterlandsverrätern«. Mir sind mehrere Fälle
bekannt, in denen Jugendliche aus Israel, die an einer Begegnung
teilnehmen wollten, unter schweren sozialen Druck seitens ihrer
Familie gerieten, und wenn sie dennoch fuhren, der Kontakt von
Verwandten und Freunden abgebrochen wurde. Auch im letzten Sommer
berichtete ein junger Mann, dass keiner zu Hause wissen dürfe, wo
er sei.
Für die Jugendlichen von der Westbank ist
eine Teilnahme noch riskanter, besonders für diejenigen, die aus
Städten mit vielen militanten Gruppen kommen wie Nablus, Jenin oder
Tulkarem. Das Misstrauen bei ihnen besteht |165|auch in Bezug auf andere palästinensische
Gruppen. Diese wollten auf keinen Fall aufeinandertreffen. Für uns
bedeutete das einen höheren Organisationsaufwand. Ich konnte
zunächst nicht verstehen, warum eine Gruppe aus Palästina solche
Angst vor ihren »palästinensischen Brüdern« zu haben schien, die
doch das gleiche Risiko eingegangen waren wie sie selbst. Als ich
später über die öffentliche Hinrichtung eines »Kollaborateurs« las,
der Kontakte zu Israelis gehabt haben sollte, wurde mir allmählich
klar, wie gefährlich diese Begegnungen für Einzelne werden
können.
Nachdem die TeilnehmerInnen vor Ort
ausgewählt worden sind, müssen viele der Palästinenser einen Pass
beantragen, denn sie waren noch nie im Ausland.
Die ersten informellen Begegnungen finden
oft nach Mitternacht in der Tagungsstätte statt, meist mit
verlegenen Gesten der Höflichkeit. Nach der Begrüßung durch die
Koordinatoren aus Israel, Palästina und Deutschland werden am
nächsten Morgen die gemischten Untergruppen (etwa fünf
TeilnehmerInnen von jeder Seite) eingeteilt, wie sie die nächsten
zwei Wochen zusammenarbeiten sollen.
Dann beginnt das »warming up«. Je nach
Teilnehmerzahl der Großgruppe gibt es drei bis sechs »Stationen«,
wo deutsche TrainerInnen, Schauspieler, Gaukler oder
Körpertherapeuten jeweils andere Angebote zur Entspannung,
Auflockerung, Vertrauensbildung und zum gemeinsamen Spaß
anbieten.
Die Gruppenleiter haben ihr Seminar in
Israel beziehungsweise Palästina mehr oder weniger gründlich
vorbereitet |166|. Wir als deutsche
Gastgeber bieten also nur den Rahmen der Begegnungen, die
inhaltliche Gestaltung überlassen wir ganz den örtlichen
Partnerorganisationen. Bei den Teambesprechungen während der
Freizeiten sind wir dann aber dabei und kommentieren bei Bedarf den
Verlauf. Unsere Aufgabe sehen wir nicht in der Intervention,
sondern bei der Organisation des Rahmens und vor allem bei der
»teilnehmenden Beobachtung« und Dokumentation der Prozesse. An
freien Tagen werden Ausflüge zu den unterschiedlichsten Zielen
organisert. Oft ist schon allein die Fahrt in der Straßenbahn oder
S-Bahn für beide Seiten aufregend: Eine Stunde ohne Kontrollen
beziehungsweise ohne Angst in öffentlichen Verkehrsmitteln zu
sitzen – das gibt es weder in Israel noch in Palästina. Wir bieten
dann Stadtbesichtigungen oder den Besuch einer Ausstellung an,
manchmal auch ein gemeinsames Picknick.
Insbesondere für die palästinensischen
Gäste, die zum ersten Mal für zwei Wochen der Westbank entfliehen,
ist der glitzernde Glaskasten eines Kaufhauses in Köln etwa so
attraktiv wie für uns der orientalische Markt in der Altstadt von
Jerusalem. In der Vergangenheit brachten manche lange
Einkaufslisten mit, mit Besorgungen für Verwandte oder das ganze
Dorf. Inzwischen ist das Geld dort bei fast allen Menschen so knapp
geworden, dass sie sich Kosmetika oder Elektronik nicht mehr
leisten können – selbst wenn diese in Europa billiger sind als zu
Hause.
Die jungen Leute aus Israel sind dagegen
hier nicht besonders an Konsumgütern interessiert. Einige von ihnen
suchen mit speziellen Szene-Reiseführern Geschäfte für koschere
|167|Lebensmittel oder für Veganer,
Discos für Homosexuelle oder Kunstausstellungen.
In den letzten Jahren führte ein
Tagesausflug auch ins Ausland (Amsterdam, Brüssel oder Straßburg).
Besonders für die palästinensische Gruppe war es ein einmaliges
Befreiungserlebnis, eine Grenze zu überqueren, die es nicht mehr
gibt. Sie staunten darüber, dass man Grenzen aufheben kann statt
neue Mauern zu bauen.
Zu Anfang der Treffen ist jede
palästinensische Gruppe beseelt von ihrer Mission, den Israelis die
Leiden ihres Volkes nahe zu bringen. Die Jugendlichen treten
zunächst als geschlossene Gruppe auf, tragen alle das
Palästinensertuch (die Kufiya), schildern ihre Lebensumstände und
Erniedrigungen und gehen abends als geschlossene Gruppe aus. Sie
klagen die Israelis unterschiedslos an, Teil der Kriegsmaschinerie
zu sein. In der Defensive verteidigen dann vor allem die jüngeren
Israelis die Politik ihrer Regierung, die sie wahrscheinlich in
anderen Zusammenhängen kritisieren würden. Diese Anklage ist für
die Verweigerer (refuseniks), die schon in ihrer eigenen
Gesellschaft unter großem sozialen Druck stehen, kaum auszuhalten.
Sie haben eher Dankbarkeitsbezeugungen der Palästinenser für ihre
mutige Opposition erwartet und sehen sich nun auch von denen, die
sie verteidigen wollen, unter Anklage gestellt. Diese wiederum sind
schockiert, wenn sich ihr Gesprächspartner aus Israel als Soldat
»outet«. Diese Gefühle werden dann in abendlichen Sitzungen ohne
die jeweils andere Gruppe ausgetauscht. Die zeitweilige
Perspektivenübernahme der |168|Sicht
der »Anderen« lässt ansatzweise einen Verständnisprozess
beginnen.
Nach ein paar Tagen erhält das
einheitliche Erscheinungsbild der Palästinenser Risse. Besonders
einige Frauen spüren bald, dass sie ihr persönliches Elend besser
ohne den Gruppendruck und die vorgestanzten Sprachregelungen über
»die Leiden des palästinensischen Volkes« mitteilen können. Sie
entziehen sich der autoritären Struktur oder opponieren offen
dagegen. Die ersten Annäherungen und Freundschaften entstehen in
der Regel zwischen Frauen, bei den Männern dauert es länger, bis
sie den Panzer ablegen können.
Eines der wichtigsten Themen für
die meisten palästinensichen Jugendlichen ist ihre Angst vor den
Angriffen der israelischen Armee, die völlig überraschend kommen,
und sie deshalb zur ständigen Wachsamkeit zwingt. Fast alle haben
Angriffe durch Panzer oder Bombardierungen aus der Luft erlebt. In
fast allen Familien oder Dörfern hat es Verletzte und Tote gegeben.
Überall sieht man zerstörte Häuser.
So kommt es vor, dass die Jugendlichen
aus dem Raum laufen, wenn im Rheinland zufällig ein Hubschrauber zu
hören ist, bei Gewitter zucken sie angstvoll zusammen.
Ein Teilnehmer aus Bethlehem beschrieb
das Haus seiner Familie so: »Vor einem Jahr hat sich das
Kanonenrohr eines israelischen Panzers durch die Hauswand über dem
Herd in die Küche gebohrt. Wir hätten den Soldaten auch die Tür
geöffnet. Aber da trauen sie sich nicht durch, lieber rammen sie
Löcher in die Wand.« Nach der ergebnislosen Durchsuchung des Hauses
wollten sich die Soldaten zurückziehen |169|, doch der Panzer steckte fest. Auch drohte
das Haus einzustürzen, wenn das Rohr zurückgezogen würde, So
einigten sich die feindlichen Lager, das Kanonenrohr abzusägen und
stecken zu lassen. Es diene jetzt als eine Art Dunstabzugshaube in
der Küche.
Selbstmordattentate und
Bombardierungen – Terrorakte oder Selbstverteidigung?
Jeden Sommer wurden bisher die
Annäherungsprozesse in den Seminaren jäh durch besonders
gewalttätige Angriffe gestört. Besonders bei Gruppen aus Nablus ist
es schon häufiger passiert, dass während der Seminare
TeilnehmerInnen die Nachricht über getötete Angehörige oder Freunde
erhielten. Der Bericht vom ersten Tag der ersten Freizeit im Sommer
2002 beginnt so:
»Der erste Tag begann mit einer
›Aufwärmphase‹ durch sozialpädagogische Vertrauensspiele und einen
Jonglageworkshop. Mitten in die sich vorsichtig öffnende Stimmung
platzte die Nachricht vom israelischen Luftangriff auf einen
Hamas-Führer in Gaza, bei dem fünfzehn Kinder und Erwachsene
getötet wurden, darunter auch die Cousine einer Teilnehmerin.
Die palästinensische Gruppe richtete
einen Trauerraum ein und zog sich zurück, die israelische setzte
sich betroffen und ratlos zusammen. Zur Überwindung der Lähmung
trugen vor allem zwei Drusen, Angehörige einer kleinen, aus dem
Islam entstandenen Religionsgemeinschaft, bei. Beide waren
israelische Staatsbürger. Die Israelis gingen |170|mit unsicheren Mienen zu der Trauerfeier.
Die PalästinenserInnen nahmen die anderen verhalten auf. Die
zunächst etwas gespannte Stimmung löste sich allmählich in einem
innigen mitfühlenden Zusammensein. Als Abschluss des Rituals
tranken alle einen Schluck starken, schwarzen, mit Kardamom
gewürzten Kaffee. Das war für alle Beteiligten ein aufwühlender
Einstieg in die Diskussionen, die dann von dem Bemühen um
Verständigung geprägt waren …
In der zweiten Woche des Seminars kam die
Revanche für den Angriff in Gaza, nämlich ein Attentat in der
Hebrew University in Jerusalem. Einige der jüdischen und arabischen
Israelis studieren dort. Die betroffene Cafeteria ist ein
Treffpunkt arabischer Studenten. »Warum ausgerechnet dort?«, fragte
eine palästinensische Israeli.
»Warum erschrecken Euch diese
Selbstmord-Kommandos erst, wenn möglicherweise Palästinenser dabei
sterben?«, fragten die jüdischen Israelis betroffen zurück.
Manche israelischen TeilnehmerInnen
halten den Kampf der palästinensischen Bevölkerung für
gerechtfertigt – aber nicht die Methoden. Sie fragen dann: »Warum
sprengt Ihr nicht die Soldaten an den Checkpoints in die Luft oder
die aggressiven Siedler auf Eurem Land? Das entspräche einer
Kriegsführung! Aber Ziel der meisten Attentäter sind Menschen wie
wir in Bussen und Cafes!«
Die PalästinenserInnen in den Seminaren
beantworten diese Frage ohne ideologische, fundamentalistische oder
rassistische Begründungen, sie argumentieren rein
strategisch:
»Wir sind auch gegen das Töten von
Zivilisten. Wir befinden uns im Krieg. Womit sollen wir gegen die
Besatzung |171|kämpfen? Wir haben
keine Flugzeuge und Panzer. Erst verbietet Ihr uns eine Armee, dann
werft Ihr uns vor, dass wir nicht mit Soldaten kämpfen. Es gab
Attentate an Checkpoints, die treffen dann aber weniger israelische
Soldaten, sondern viele palästinensische Zivilisten, die dort
warten. Das trifft dann die eigenen Leute. Es ist für einen
Selbstmord-Attentäter sehr viel einfacher, in einen Bus oder ein
Café zu kommen als in eine israelische Kaserne. Ihr wisst selbst,
wie schwierig es ist, in eine »Siedlung« zu gelangen. Wir dürfen
die Straßen nicht benutzen, die Orte sind mit Stacheldraht umgeben
und die Eingänge gesichert. Das sind die Gründe, nicht, weil die
Attentäter gezielt Zivilisten treffen wollen. Aber bei jeder
Liquidierung eines Hamas-Führers durch israelische Hubschrauber und
Granaten gibt es zivile Opfer, häufig unbeteiligte Passanten oder
Kinder. Wir haben weit mehr zivile Opfer zu beklagen als ihr, das
interessiert niemanden. Wenn es um zivile Opfer geht, dann nur um
israelische. Ist das Leben unserer Kinder weniger wert? Auch die
jungen Menschen, die sich in die Luft sprengen, wollen leben. Es
ist schrecklich, auch für die Familien der Selbstmörder, aber es
ist Krieg.«
An einer Freizeit nahm auch der
Bruder eines Selbstmord-Attentäters teil. Vorab wurde mir gesagt,
er käme nach Deutschland, um hier erstmals Israelis zu treffen und
zur Aussöhnung beizutragen. Darüber war ich natürlich sehr erfreut.
In einem Workshop mit professionellen Trainern erzählte er, welch
lebenslustiger und beliebter junger Mann sein Bruder gewesen sei,
obwohl er im Flüchtlingslager unter |172|elenden Bedingungen aufgewachsen sei. Nach
den Verhandlungen in Oslo habe er fest an den Aussöhnungsprozess
geglaubt und in Friedensgruppen mitgearbeitet. Er sei überaus
sensibel gewesen und habe unter den entwürdigenden Bedingungen, wie
der Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit und den ständigen
Kontrollen und Verdächtigungen, besonders gelitten. Als er mit
einem Freund auf der Straße gewesen sei, hätten israelische
Soldaten auf sie geschossen, – ohne ersichtlichen Grund. Der Freund
sei in den Armen des Bruders gestorben. Danach sei dieser
verzweifelt gewesen. Die Familie habe aus dem Radio erfahren, dass
er sich in Israel in die Luft gesprengt hätte. Von einigen Nachbarn
würde er nun als Märtyrer verehrt.
Der Betroffene und einige der
PalästinenserInnen, die den jungen Selbstmord-Attentäter gekannt
hatten, weinten. Zum Schluss drückten manche Israelis ihr Mitgefühl
aus, eine umarmte den Trauernden, einige schwiegen.
Ich fühlte Ablehnung in mir aufsteigen
und konfrontierte den jungen Mann damit: Es sei doch wohl eine
paradoxe Situation, dass er für die Motive des Selbstmordes seines
Bruders ausgerechnet von denen Verständnis erwarte, die selbst
dessen Opfer hätten sein können. Kein Wort habe er zu den Toten und
Verwundeten des Anschlags gesagt. Aussöhnung beginne, wenn man auch
um die Opfer der anderen Seite trauern könne. Das erlebe er nun bei
der israelischen Gruppe, während seine Geschichte jedes Mitgefühl
für die Opfer des Anschlags vermissen lasse.
Eine junge Frau aus Israel meinte später
zu mir: »Heute trauere ich mit ihm, dann kann er morgen vielleicht
mit |173|mir trauern. Das braucht
Zeit.« Vielleicht hatte sie Recht. Der Mann schien in den nächsten
Tagen wie verwandelt. Er hatte seine »Mission« erfüllt und konnte
nun als Mensch auf andere Menschen zugehen.
Bei einer Begegnung mit jüngeren
TeilnehmerInnen war der Gruppenprozess schwierig, weil ein paar
Jugendliche aus Israel ständig störten, Alkohol tranken und
unerlaubte Spritztouren machten. Als dann am letzten Tagen ein
Pressegespräch angesetzt war, und ein Fotograf auftauchte, warf
sich die Anführerin dieser Gruppe in Pose und stolzierte auf die
Presse zu. Wir fürchteten bereits Schlimmes. Die erste Frage der
offenbar sensationslüsternen Reporter lautete auch gleich: »Was
sagst Du zu den Selbstmord-Attentätern?« Ich wollte eingreifen,
doch das Mädchen winkte ab.
»Oh doch«, meinte sie, »dazu will ich
etwas sagen. Ich habe zu Hause ständig Angst vor den Bomben. Hier
können wir einfach in Busse steigen und ausgehen. Das ist ein
herrliches Gefühl. Aber gucken Sie sich diese Kinder aus Nablus an.
Die müssen noch viel mehr Angst haben. Seit Jahren dürfen sie nicht
raus, überall sind Panzer, unsere Armee zerstört ihre Häuser, sie
haben nichts mehr zu essen. Früher habe ich das nicht gewusst, dann
konnte ich es hier zuerst nicht glauben. Jetzt weiß ich, dass es
stimmt! Die Selbstmordattentate sind schrecklich, und ich habe
Angst davor. Aber ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich in
ihrer Situation wäre. Früher waren das Nachrichten, das hat mich
nicht interessiert. Jetzt sind es Menschen. Ich werde immer an sie
denken, wenn ich Nachrichten höre und nicht mehr glauben, was uns
die Politiker erzählen. |174|Auch
die Terroristen sind junge Menschen, die leben wollen. Nicht nur
ihre Führer, die sie aufhetzen, tragen die Schuld, sondern auch
unsere Politiker, die sie unterdrücken und bedrohen. Das wollte ich
Ihnen sagen.« Dann ging sie mit schwingenden Hüften zu ihren
Freundinnen zurück.
Besitzansprüche auf das »gelobte
Land«– Zwei Perspektiven
In fast jedem Krieg geht es um
wirtschaftliche Interessen, um politische Macht, um
nationalistische Ideologien oder um religiöse Gefühle. Diese
Bereiche waren in der wechselvollen Geschichte Palästinas von
unterschiedlicher Bedeutung oder griffen als kaum entflechtbare
Gemengelage ineinander. Es ist deshalb unmöglich, eine bestimmte
Ursache der Auseinandersetzung zu finden, besonders in diesem
Konflikt greifen viele Faktoren ineinander.
Die geographische Lage als Brückenkopf zu
den arabischen Ländern und zum Orient macht Israel und Palästina
für die Großmächte als politische Verbündete, als
Militärstützpunkt, für Öl-Pipelines und als Absatzmarkt
interessant. Das sind unter anderen die Gründe, weshalb die
USA seit Jahrzehnten Israel
finanziell unterstützen und aufrüsten. Auch alle anderen Großmächte
versuchen, Einfluss in der Region zu erlangen.
Diese weltpolitische Bedeutung des
Konflikts scheint den betroffenen Jugendlichen beider Seiten kaum
bewusst zu sein. Ihre Argumente in der Auseinandersetzung
erscheinen vor diesem Hintergrund als völlig unzeitgemäß.
|175|An
einem der ersten Seminartage geht es um die jeweilige historische
Sichtweise des Konflikts (historical narratives). Dabei soll sich
erst jede Seite die Perspektive der anderen anhören, ohne
Unterbrechung und Kommentare. Danach entwickelt sich meist eine
Diskussion, wie sie nachfolgend skizziert wird.
Der Kampf geht um ein Stück Land, das
beide Seiten beanspruchen. Deshalb geht es schnell um die Frage:
»Wem gehört das Land, das die einen Israel und die anderen
Palästina nennen?« Dabei spielen private Rechtstitel oder
völkerrechtliche Beschlüsse weniger eine Rolle als der fatale
»Wettbewerb«, welches Volk »zuerst da war«. Die Juden führen die
biblischen Geschichten an, wonach Moses vor fast 3000 Jahren die
»Kinder Israels« durch die Wüste ins verheißene Land geführt hätte,
und das sei eben Palästina gewesen.
Die Palästinenser halten dagegen, dass
Moses auch im Koran ein von Allah ausgewählter wichtiger Prophet
sei. Insofern könnten sie von Moses die gleichen Rechte ableiten.
Die palästinensischen Teilnehmer begründen ihr Recht auf das Land
dann meist damit, dass sie in diesem Land gelebt hätten, während
die Juden in aller Welt verstreut waren.
»Aber wir wurden von hier vertrieben«,
empören sich darauf die israelischen Gesprächspartner, »das Land
wurde uns abgenommen, Wir waren nicht freiwillig in der Diaspora,
wir wurden jahrhundertelang verfolgt – bis hin zur Shoa.« Die
Entgegnung lautet in etwa: »Wir haben Euch vor 2000 Jahren nicht
vertrieben – das waren die Römer. |176|Aber Ihr habt uns zu Flüchtlingen im
eigenen Land gemacht – hier und jetzt! Weil Ihr gelitten habt,
stürzt Ihr uns nun ins Elend.«
Einige Israeli führen nun an, was sie aus
ihren Geschichtsbüchern gelernt haben: »Das Land war eine kaum
besiedelte Wüste, bis jüdische Pioniere sie bewässert haben, erst
durch die Juden ist es zu einer Oase geworden.« Das bringt die
Palästinenser dann erst richtig in Rage: »Ihr habt laut UN-Angaben
800 000 Palästinenser vertrieben, die sich vorher alle von diesem
Land ernährt haben – diese Region war weder eine Wüste noch war sie
unbesiedelt.«
Bei den Diskussionen, welches der
beiden Völker Anspruch auf das Land hat, werden von beiden Seiten
auch religiöse Argumente angeführt. Der Krieg im Nahen Osten wird
manchmal als Religionskrieg dargestellt, weil im »Heiligen Land«
das Judentum, das Christentum und der Islam ihre Wurzeln haben. Die
praktische Religionsausübung aber steht dazu in einem gewissen
Widerspruch.
Bei über 1000 TeilnehmerInnen aus dem
Nahen Osten hat die Religionsausübung während der Freizeiten nur
eine untergeordnete Rolle gespielt. In Einzelfällen versuchen wir,
alle an uns herangetragenen religiösen Regeln zu respektieren. Das
sind bisher ausschließlich Wünsche der jüdischen TeilnehmerInnen
gewesen. So versuchen wir, die An- und Abreisetage nicht auf
Freitag oder Samstag zu legen. Falls das wegen der Buchung von
Flugtickets und Quartieren nicht möglich ist, zahlen wir für
Einzelne, die die religiösen Regeln einhalten, den Aufschlag für
einen |177|früheren oder späteren
Flug. Auch die Ausflüge während der Seminare werden nicht auf
Samstage gelegt. Freitag abends gibt es kein Programm, um nach
Sonnenuntergang die Zeremonie der Einleitung des Schabat zu
ermöglichen. In manchen Gruppen laden die jüdischen TeilnehmerInnen
dazu auch die palästinensischen ein, die das Ritual mit Respekt
verfolgen.
Die Frauen in der Küche kennen inzwischen
die Grundsätze des koscheren Essens und richten sich danach. Für
die wenigen Teilnehmer, die die Regeln strenger einhalten, gibt es
eine Kochplatte, einen Kühlschrank und spezielle Töpfe, mit denen
sie sich das Essen selbst zubereiten.
Unter den 500 moslemischen Teilnehmern
war bisher kein einziger, der die Beachtung religiöser Riten
angemahnt hätte. Fünf mal am Tag soll ein Moslem beten. Ich habe
bei über 500 TeilnehmerInnen aus Palästina, die je 14 Tage in
Deutschland waren, keinen einzigen erlebt, der einen Gebetsteppich
entrollt und gebetet hätte. Bisher wurde auch in keiner Gruppe zum
Freitagsgebet aufgerufen.
In deutschen Zeitungen wurde berichtet,
dass es harte Konflikte zwischen christlichen und moslemischen
Palästinensern gäbe. Das mag vor Ort so sein. Bei den Freizeiten
aber war davon nichts zu spüren und auch auf direkte Nachfrage
verneinten die christlichen Palästinenser, dass sie diskriminiert
oder angegriffen würden.
Im Lauf der Diskussion wird den
meisten Teilnehmern klar, dass aus der Geschichte abgeleitete
Besitzansprüche manchmal absurde Blüten treiben, oder der
»moralische |178|Wettbewerb«,
welches Volk mehr gelitten hätte, nicht weiter führt. Bei den
Planspielen zu »Friedensverhandlungen« gehen die jungen Leute dann
pragmatisch vor, das heißt, die geschichtlichen, religiösen oder
ideologischen Begründungen spielen bei den Verteilungsplänen kaum
noch eine Rolle.
Es steht außer Frage, dass es sowohl in
Israel als auch in Palästina militante religiöse Fanatiker gibt.
Auf der einen Seite orthodoxe Juden, die das biblische Palästina
erobern und die Araber über den Jordan treiben wollen, auf der
anderen Seite gewalttätige Islamisten, die die Juden verjagen
wollen. Diese Fanatiker haben auf beiden Seiten Einfluss auf die
Politik. Aber die »ganz normalen« jungen Leute, die wir in den
Seminaren kennenlernen, sind mehrheitlich nüchtern und pragmatisch.
Sie sind kriegsmüde und wollen ein ruhiges, angstfreies Leben
führen – genau wie die Kinder in diesem Buch.
»Friedensverhandlungen« zwischen den
Kriegsparteien
Gegen Ende der Seminare werden »
Friedensverhandlungen« zwischen den Konfliktparteien simuliert.
Diese Methode wurde in der »Friedensschule« im einzigen
arabischjüdischen Dorf in Israel, »Neve Shalom-Wahat al Salam«,
entwickelt. Dort gibt es auch Trainingsprogramme für
Friedenspädagogen und Mediatoren. Die meisten Mitarbeiter unserer
Partnerorganisationen aus Israel und Palästina haben sich dort in
Kursen qualifiziert und arbeiten |179|nach diesen Methoden. Bei den simulierten
Friedensverhandlungen schlüpfen die TeilnehmerInnen in die Rollen
von bestimmten Politikern, um etwa die » Camp-David-Verhandlungen«
nachzuspielen und gegebenenfalls weiterzuführen.
Dem Ausblenden und Vertagen der heiklen
Streitfragen bei den offiziellen Verhandlungen wohnte bereits deren
Scheitern inne. Deshalb stellten die Jugendlichen in allen Gruppen
schon seit 2002 die wichtigsten Streitpunkte, das sind der
Grenzverlauf, der Status von Jerusalem und die Rückkehr der
Flüchtlinge, in den Mittelpunkt ihrer Verhandlungen. Dazu wird der
Impuls gegeben:
»Welche Kompromisse sollte Eure Regierung
eingehen und welche Opfer wärest Du persönlich bereit, für einen
Friedensschluss zu bringen?«
Ein Palästinenser meinte: »Als ich kam,
war mir vor allem wichtig, die anderen davon zu überzeugen, dass
alle unsere Flüchtlinge dorthin zurückkehren müssen, wo sie
ursprünglich herkommen – nach Palästina sowieso, aber auch nach
Israel. In den letzten Tagen habe ich eingesehen, dass das nicht so
einfach möglich sein wird. Ich habe die Ängste der Israelis
verstanden. Jetzt komme ich bald wieder nach Hause. Und dort werde
ich einige Wochen sehr viel nachdenken müssen. Ich weiß jetzt, dass
auch wir Kompromisse schließen müssen. Es ist sehr hart für uns,
aber jetzt habe ich erfahren, dass es auch für die Israelis hart
ist.«
In den vergangenen Jahren fanden bei den
Seminaren immer wieder simulierte »Friedensverhandlungen« statt. Es
|180|war stets sehr beeindruckend,
wie selbstverständlich die Jugendlichen mit dem Instrumentarium
internationaler Konfliktdiplomatie umgingen, wie klar es für sie
war, dass es für den Nahen Osten nur die Lösung zweier
gleichberechtigter Staaten geben könne. Verständlich war auch, dass
sich die »Verhandlungsdelegationen« genau wie die »richtigen«
Diplomaten in den Details demografischer Faktoren,
Völkerrechtsfragen bei der Rückkehr der Flüchtlinge beziehungsweise
eines Lastenausgleichs bei den Entschädigungsleistungen
verstrickten. Die Anlehnung an die »diplomatischen Regeln«
bedeutete aber zugleich eine Befangenheit bei der Entwicklung
kreativer Lösungsvorschläge.
Im Frühjahr 2007 startete
US-Außenministerin Condoleezza Rice eine erneute
Friedensinitiative, die jedoch von vorneherein zum Scheitern
verurteilt zu sein schien, weil die strittigsten Punkte
(Grenzverlauf, Status von Jerusalem, Flüchtlingsfrage) wie bei
allen vorhergehenden offiziellen Friedensverhandlungen wieder
ausgeklammert werden sollten. Die palästinensische Verwaltung
drängte dann aber darauf, dass die Verhandlungen mehr sein müssten
als ein weiterer »Fototermin« der Staatsmänner.
Deshalb beschlossen wir auf unserem
letzten Seminar im Sommer 2007, den simulierten
»Friedensverhandlungen« mehr Zeit im Rahmen des Seminarverlaufs zu
geben, und die brisanten Probleme ins Zentrum der Verhandlungen zu
stellen.
Die »Parteien« im Friedensseminar
verhandelten unter sich und mit der Gegenseite. Zum Schluss trugen
die Delegierten |181|die Ergebnisse
der Öffentlichkeit in einer Pressekonferenz vor. Die möglichen
Kompromisse wurden nach langem Ringen und teils harten
Auseinandersetzungen recht detailliert ausgearbeitet. Im Ergebnis
sind sie zwar ähnlich wie in den Vorjahren, doch der Prozess war
weitaus schwieriger. Die inzwischen durch Israel geschaffenen
Fakten des Mauerbaus und die Ansiedlung Tausender von Menschen auf
palästinensischem Gebiet um Jerusalem herum sind schwer
zurückzuschrauben.
Das Ergebnisprotokoll einer Gruppe
lautete:
Siedlungen: Innerhalb von fünf
Jahren müssen alle Siedlungen geräumt werden. Auf Gewalt muss
verzichtet werden. Internationale Truppen (wie beispielsweise
UNIFIL, das ist die
Interimstruppe der Vereinten Nationen im Libanon) sollen den
Rückzug bewachen. In den von Siedlern befreiten Gebieten sollen
palästinensische und UNIFIL-Sicherheitskräfte stationiert werden.
Die Juden haben das Recht, ihre heiligen Stätten zu besuchen. Die
palästinensische Polizei garantiert ihre Sicherheit.
Jerusalem: Alle Siedlungen in und
um Jerusalem werden evakuiert. Ausgrabungen werden gestoppt. Die
Stadt soll offen für alle Völker bleiben. Die Altstadt bleibt von
beiden Staaten unabhängig. In welcher Form dies geschehen soll,
bleibt noch unklar.
Grenzen: Die seit 1967 andauernde
Besetzung soll enden. Einzelheiten blieben jedoch auch hier
umstritten. Die israelische Seite bot an, große Siedlungen wie
Ariel zu behalten |182|, dafür als
Gegenleistung dem Gazastreifen mehr Land zu geben und ihn mit der
Westbank durch eine Autobahn zu verbinden. Israel wollte die
Überwachung des künftigen Hafens und Flughafens der Palästinenser
in den Händen behalten. Die Sicherung der Grenze blieb ebenfalls
umstritten. Wenn Israel aber Sicherheitsanlagen für den Schutz
seiner Bürger wolle, müsse die Mauer auf ihr Gebiet verschoben
werden. Es wurde vereinbart, das palästinensische Pfund wieder als
einzige Währung in Palästina einzuführen.
Flüchtlinge: Übereinstimmend wurde
festgehalten, dass Israel seine Schuld am Schicksal der
palästinensischen Flüchtlinge anerkennt. Dennoch ist die Rückkehr
aller Flüchtlinge zu ihren angestammten Orten im heutigen Israel
für die meisten Israelis nicht akzeptabel, weil damit die Existenz
Israels bedroht wäre. Sie sollten in dem neuen Staat Palästina eine
Heimat finden (zum Beispiel in den geräumten Siedlungen auf der
Westbank) oder eine Entschädigung erhalten. Diese Vereinbarung
wurde von vielen Palästinensern nicht unterstützt, einige bestanden
nach wie vor auf dem uneingeschränkten Recht zur Rückkehr der
Flüchtlinge. Alle waren sich aber einig, dass auch dieses Problem
mit internationaler Unterstützung gelöst werden könne.
Gefangene: Alle Gefangenen sollten
ausschließlich nach internationalem Recht abgeurteilt und vor ein
palästinensisches Gericht, bestehend aus Palästinensern, Israelis
und Unabhängigen, gestellt werden. Dieses Gericht entscheidet über
Schuld oder Unschuld der Gefangenen.
|183|Die
TeilnehmerInnen der »Ferien vom Krieg« sind sicher nicht
repräsentativ für die herrschende Politik oder die öffentliche
Meinung in Israel oder Palästina – ebensowenig, wie es die Kinder
und Jugendlichen sind, deren Stimmen in diesem Buch versammelt
sind. Sie sind aber auch nicht Mitglieder besonderer
Oppositionsgruppen oder Parteien, sondern ganz normale,
durchschnittliche Jugendliche und junge Erwachsene. Und sie haben
einen ersten Schritt gemacht, indem sie sich auf eine Konfrontation
mit dem »Anderen« und den eigenen Vorurteilen eingelassen haben.
Sie haben die Bereitschaft gezeigt, in Dialog zu treten und
anzuerkennen, dass die Schuldfrage nicht so einfach zu lösen ist,
wie ihnen die heimische Propaganda weismachen will. Diese
Bereitschaft ist ein Schritt auf dem Weg zur konkreten Utopie einer
friedlichen Welt.
Eine junge Frau aus Palästina formulierte
es so: »Wir können zusammen leben, sogar unter einem Dach, das ist
eine fantastische Erfahrung«.
Diese Erfahrung wünsche ich allen
Menschen aus Krisen- und Kriegsgebieten, nicht nur in Israel und
Palästina.
Helga Dieter