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Nachwort von Helga Dieter
Koordinatorin der Aktion »Ferien vom Krieg« des »Komitees für Grundrechte und Demokratie«
Im Januar 2003 besuchte ich mit einer Delegation des Projekts »Ziviler Friedensdienst« zwei Wochen lang Israel und die besetzten Gebiete (Palästina). Bei dieser und einer späteren Reise habe ich viele Dinge gesehen und erlebt, wie sie die Kinder und Jugendlichen in den Gesprächen in diesem Buch beschreiben. Im Rahmen der Aktion »Ferien vom Krieg« treffe ich jeden Sommer Jugendliche und junge Erwachsene aus Israel und Palästina bei gemeinsamen Freizeiten in Deutschland und stehe mit unseren Partnerorganisationen auf beiden Seiten auch das übrige Jahr in enger Verbindung. Die meisten TeilnehmerInnen unserer Begegnungen sind ein paar Jahre älter als die Kinder und Jugendlichen in den Interviews. Da diese schon einige Jahre zurückliegen, wäre es aber im Grunde möglich, dass ein Kind, das in diesem Buch interviewt wurde, später einmal an unseren Begegnungen teilgenommen hat.
Beim Lesen der Kurzbiografien kommt beinahe wie von selbst der Gedanke: »Was wäre, wenn zum Beispiel Talia aus Israel mit Mona aus Palästina zusammenträfe? Würden sie auf ihren Positionen beharren? Oder würden sie aufeinander zugehen?«
|139|Wenn man die Gespräche mit israelischen und palästinensischen Kindern anschaut, ist es bemerkenswert, wie sehr sich viele Aussagen gleichen. So oft wird betont, dass man die Gegenseite nicht kenne, dass man selbst doch nett, die anderen aber sicherlich böse seien, und dass man besser gar nicht mit ihnen zusammenkäme. Doch ebenso scheint in vielen Gesprächen der Wunsch nach Austausch, die Notwendigkeit der Begegnung mit dem Anderen durch.
Man stelle sich vor, diese Kinder seien nicht nur interviewt worden, sondern könnten einander treffen und darüber sprechen, wie sie sich selbst und die Anderen sehen. Wahrscheinlich wären sie darüber erstaunt, wie sich die Vorurteile gleichen.
 
In unserem Projekt »Ferien vom Krieg« steht eben diese Begegnung, das Kennenlernen, der Dialog, die zeitweise Perspektivenübernahme und ein möglicher Veränderungsprozess durch diese Erfahrungen im Mittelpunkt. Das Nachdenken über die eigene Lebensgeschichte, die ja mit einem biografischen Interview immer verbunden ist, ist ein erster Schritt. Wenn diesem die Begegnung mit den »Anderen« folgt, sind Erschütterungen von bisherigen Überzeugungen zu erwarten. In einem dritten Schritt erfolgen Wandlungsprozesse in der Wahrnehmung von sich selbst und den Fremden. In diesem Sinne erscheint das Projekt »Ferien vom Krieg« als die konsequente Fortsetzung der von Deborah Ellis aufgeschriebenen Erzählungen der Kinder aus Israel und Palästina.
 
|140|Das Projekt »Ferien vom Krieg«
Seit 1994 ist es dem »Komitee für Grundrechte und Demokratie« gelungen, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus verfeindeten Bevölkerungsgruppen in Krisen- und Kriegsgebieten zum gemeinsamen Urlaub und friedenspolitischen Seminaren einzuladen. Mehr als 20 000 junge Menschen haben bisher an diesem Projekt teilgenommen, davon über 1 000 aus Israel und Palästina.
Bei diesen Treffen konnten alle Teilnehmer gleichberechtigt mit ihren angeblichen Feinden unter einem Dach leben, zusammen spielen und lernen, einander zuhören und debattieren, gemeinsam lachen und trauern. Für viele von ihnen bedeutete diese Erfahrung einen Wendepunkt in ihrem Leben. Davon erzählten sie in den Familien, der Schule oder Universität und im Freundeskreis. Die Teilnahme an diesen Begegnungen erforderte häufig großen Mut, denn oft drohen den Jugendlichen Ablehnung und Ausgrenzung vom sozialen Umfeld und sogar der eigenen Familie.
Trotz aller Warnungen, dass das Aufeinandertreffen von Jugendlichen verfeindeter Gruppen zu unkontrollierbaren Gewaltausbrüchen auf beiden Seiten führen könnte, gab es bei den nun fast 20 000-fachen »Begegnungen mit den vermeintlichen Feinden« keine einzige tätliche Auseinandersetzung zwischen Teilnehmern der politischen Konfliktparteien. Das zeigt deutlich, dass es in allen Krisen- und Kriegsgebieten junge Menschen gibt, die der Propaganda ihrer politischen Führung nicht mehr trauen und neugierig auf die Perspektive der »Anderen« sind, die Verständigung |141|suchen und für eine friedliche Zukunft zu Kompromissen bereit sind.
Das »Komitee für Grundrechte und Demokratie« vertritt einen »streitbaren Pazifismus«. Dieses Konzept wendet sich gegen die Verdächtigung, dass Pazifismus duldend passiv sei. Im Rahmen der deutschen Friedensbewegung mischen wir uns ein. Wir verstehen besonders die Aktion »Ferien vom Krieg« als beispielhafte vorbeugende Friedensarbeit. Wir sind davon überzeugt, dass, wenn auch nur die Hälfte der Waffen- und Kriegskosten in ähnliche Dialogprojekte für Erwachsene gesteckt würde, die jeweils Herrschenden keine Chance mehr für die Rechtfertigung bewaffneter Auseinandersetzung hätten. Die Grundsätze unserer Arbeit lassen sich auf drei Punkte zusammenfassen:
  • Humanitäre Hilfe für alle, die Not leiden.
  • Verteidigung der Menschenrechte für alle Gedemütigten.
  • Politische Unterstützung für die Wenigen, die für Aussöhnung kämpfen – auf beiden Seiten!
»Gerechte« Kriege
Kriege sind grausam – das weiß und sagt jeder. Auch, dass in modernen Kriegen mit weitreichenden Geschossen und Luftangriffen immer mehr Zivilisten die Opfer sind, ist bekannt, genauso wie die Tatsache, dass auch noch Jahre nach den Kampfhandlungen besonders Kinder die Opfer von Minen oder im Straßenstaub lauernden kleinsten Teilchen von Uranmunition werden. Dennoch toben zur Zeit laut UN-Angaben fast 40 Kriege auf der Welt.
|142|Viele Leute sagen: »Kriege gab es immer, das Kämpfen um Macht und Besitz liegt in der Natur des Menschen.« Doch diese scheinbare Logik entschuldigt nicht nur Mord und Totschlag zwischen den Nationen, sondern letztlich auch den Kampf Jeder gegen Jeden im Alltag sowie Wirtschaftskriminalität und Gewalt in der Familie.
In der Geschichte wurden viele »Glaubenskriege« geführt. Diejenigen, die meinten, den einzig wahren Glauben zu haben, eroberten die Gebiete der »Ungläubigen« (Heiden). Auch die Christen führten im Namen Gottes jahrhundertelang grausame Kriege, von den mittelalterlichen Kreuzzügen ins »Heilige Land« (heute Israel / Palästina / Jordanien) bis zu den kolonialen Eroberungen von Amerika, Asien und Afrika. In allen Religionen gibt es auch heute noch Fundamentalisten, die vermeintlich Ungläubige verachten und deren Vernichtung wünschen.
Allerdings verstecken sich hinter den religiösen Motiven meist handfeste und sehr weltliche Interessen. Die Kriegsherren versuchen mit sozialen Geschenken die Massen auf ihre Seite zu bringen und sie gleichzeitig zu fanatisierten »Gotteskämpfern« zu schulen. Das ist aus unserer heutigen Perspektive oft leicht zu durchschauen und abzulehnen.
Schwieriger wird es bei den sogenannten »gerechten Kriegen« der Gegenwart, wenn eine Minderheit durch die Mehrheit brutal unterdrückt wird und um ihre Freiheit kämpft. Manchmal ist es sogar umgekehrt, dass nur eine kleine Gruppe im Land die Macht besitzt und mit Waffengewalt die Mehrheit tyrannisiert.
Früher war ich der Meinung, dass »gerechte Kriege«, die |143|die Regeln des Völkerrechts einhalten, in manchen Fällen der Verhinderung des Blutvergießens dienen könnten. Nach vielen Jahren der Arbeit in Kriegsgebieten glaube ich das heute nicht mehr. Wenn erst die Waffen sprechen, gewinnt die Kriegsmaschine durch Drohungen, Ultimaten, Angriffe und überzogene Revanche eine unkontrollierbare Dynamik. Der angeblich gute Zweck heiligt dann die grausamsten Mittel. Manch netter Mitbürger und treusorgender Familienvater wurde schon in kurzer Zeit zum Sadisten und Mörder. Sein Hass kann sich nicht nur gegen ferne »Terroristen« wenden (Irak), sondern auch gegen den langjährigen Nachbarn (Bosnien).
Viele Kriege sind sogenannte »asymmetrische« Konflikte. Das heißt, die eine Seite ist ungleich stärker als die andere, weil sie über die moderneren Waffen verfügt, Unterstützung von außen erfährt oder aus welchen Gründen auch immer. Wenn wir im Fernsehen die Bilder der Opfer sehen, wollen wir helfen – und das ist auch der richtige Impuls. Aber gleichzeitig erwarten wir von den Opfern auch, dass sie die »besseren Menschen« sind, die selbst keine Gewalt anwenden und moralische statt wirtschaftliche Ziele verfolgen.
Doch das ist oft ein Trugschluss. Viele Opfer denken nur an Rache, und wenn sie später dazu die Gelegenheit erhalten, sind sie noch grausamer als ihre Peiniger es waren. Deshalb sollte man sich nicht vorschnell in eine » Solidaritätsfalle« mit einer bestimmten Opfergruppe treiben lassen, sondern genau hinsehen, ob Rachegelüste oder Aussöhnungsbestrebungen das Handeln der Opfer bestimmen.
|144|In den Berichten der Kinder und Jugendlichen in diesem Buch darüber, wie das Kriegsgeschehen ihren Alltag beeinträchtigt, wird deutlich, dass es sich bei diesem Krieg um einen asymmetrischen Konflikt handelt. Die Lebensumstände der palästinensischen Jugendlichen sind weit mehr davon beeinträchtigt als die der israelischen. Dennoch darf man nicht übersehen, dass das nicht parteiisch oder moralisch gemeint ist, sondern reale Zustände beschreibt. Ein »Gleichgewicht des Schreckens« kann dabei nicht angestrebt werden und würde das Bild verzerren.
Die Nachrichten und Bilder über hungernde, gefangene, gequälte, verletzte und tote Menschen aus Kriegsgebieten sind kaum zu ertragen. Wenn diese einer unterdrückten Volksgruppe angehören, die um ihre Selbstbestimmung kämpft, mischen sich in unseren Gefühlen Mitleid und Empörung. Wir neigen dann zur Unterstützung ihres Freiheitskampfes. Was die humanitäre Seite betrifft, ist das auch uneingeschränkt richtig. Was die politische Seite betrifft, muss aber vor blinder Solidarität gewarnt werden.
Das lehrte mich, dass Opfer nicht von vornherein die besseren Menschen sind, sondern sie unter veränderten Machtverhältnissen schnell zu Rächern und Tätern werden können. Das klingt womöglich banal, ist aber angesichts des Leids der Opfer bei den Begegnungen im Rahmen der Aktion »Ferien vom Krieg« immer wieder eine schwer zu vermittelnde Einsicht.
Doch auch wenn die Bevölkerung im Krieg auf beiden Seiten leidet, kann es dennoch große Unterschiede bei der Bedrohung im Alltag geben, die beschrieben werden müssen |145|. Der Benennung der Verbrechen der einen Seite muss nicht im gleichen Atemzug die Aufrechnung der Verbrechen der anderen Seite folgen, vor allem, wenn dies nicht der Realität entspricht. Nur die Wahrnehmung und Respektierung des Leidens der schwächeren Partei durch die stärkere sowie die ungeschönte Aufarbeitung der Kriegsverbrechen auf beiden Seiten kann einen Friedensprozess nicht nur auf das Papier, sondern auch in die Herzen einschreiben.
 
Zur Geschichte des Nahost-Konflikts
Damit sind wir mitten im Nahost-Konflikt. Das Schwierige ist, dass es sich bei dem Nahost-Konflikt in vielerlei Hinsicht um einen »ganz gewöhnlichen« Krieg handelt. Nicht nur die Spirale von Rache und Vergeltung ähnelt anderen Kriegen, auch die Sippenhaftung oder die Gewaltzunahme im zivilen Lebensraum. Hinzu kommt aber, dass sich dieser Krieg seit 60 Jahren im »Heiligen Land« abspielt und die Staatsgründung von Israel unter anderem eine Folge der Ermordung der europäischen Juden durch die Nazi-Diktatur und ihre Kollaborateure war.
Schon mehr als 2 000 Jahre vor unserer Zeitrechnung, also vor Christi Geburt, lebten Juden im Nahen Osten. Über ihre frühe Geschichte gibt es im Alten Testament viele Erzählungen. Das Land wurde zeitweise von verschiedenen Nachbarvölkern erobert, zuletzt von den Griechen und Römern. Obwohl sich die Juden gegen die römische Fremdherrschaft wehrten, wurden sie besiegt, Jerusalem wurde erobert, der Tempel niedergebrannt und die jüdischen Bewohner |146|vertrieben. Viele gingen nach Spanien, wo sie jahrhundertelang unbehelligt ein kulturelles und religiöses Leben entfalten konnten. Im späten Mittelalter wurden sie jedoch von dort vertrieben. Auch in Osteuropa und den deutschen Fürstentümern siedelten sich viele Juden an und bildeten religiöse und kulturelle Gemeinschaften. Das Bemerkenswerte ist, dass sich die Juden über die Jahrhunderte hinweg zwar im Alltag an die jeweilige Mehrheitsgesellschaft angepasst, aber nur selten Nicht-Juden geheiratet haben. Sie haben ihre Traditionen, religiösen Riten und Feiern gepflegt und so eine gewisse Eigenständigkeit ihrer Familien und Gemeinschaften bewahrt. Das rief bei der Mehrheitsgesellschaft oft Misstrauen, Verdächtigungen und Aggressionen hervor. In vielen Teilen der Welt waren sie Verfolgungen ausgesetzt. Sie mussten in Ghettos leben, durften viele Berufe nicht ausüben, und wenn sie dennoch erfolgreich waren, erlitten sie oft Neid und Intrigen bis hin zu Ermordungen und Pogromen.
Aufgrund antisemitischer Ausschreitungen in einigen europäischen Ländern schlossen sich 1897 jüdische Verbände unter der Leitung von Theodor Herzl beim 1. Zionistischen Weltkongress zusammen mit dem Ziel, eine »Heimstätte des jüdischen Volkes« zu schaffen. Sie sammelten Geld, um in Palästina, dem »gelobten Land«, das zu dieser Zeit noch von den Türken – dem damaligen Osmanischen Reich – besetzt war, Land zu kaufen.
Die Parole »Palästina ist ein Land ohne Volk; die Juden sind ein Volk ohne ein Land« fand viele Anhänger. Aus der Wüste sollte ein fruchtbarer Landstrich für eine ideale Gemeinschaft |147|von Juden aus aller Welt werden. Dass das Land von arabischen Bauern und Händlern bewohnt war, schien dabei nicht zu interessieren. Fast alle europäischen Länder hatten zu dieser Zeit Kolonien. So meinten die Verfechter eines jüdischen Staates wohl, sie könnten problemlos den dort ansässigen arabischen Bauern und Nomaden das Land abkaufen oder sie vertreiben.
Die Zuwanderung zeigte Wirkung: Während um 1900 circa 10 000 Juden in Palästina lebten, waren es 1914 bereits 85 000. Als die Engländer im Ersten Weltkrieg gegen die Türken kämpften, versprachen sie der zionistischen Bewegung die Unterstützung bei der Gründung einer »nationalen Heimstatt« für Juden in Palästina. Damit verschenkte die damals noch führende Weltmacht Großbritannien Land, das ihr gar nicht gehörte. Zwar sollten die Rechte der arabischen Bevölkerung gewahrt bleiben. Wie das aber aussehen sollte, blieb offen. Ein Teil der arabischen Herrscher stimmte der Deklaration zu, andere wandten sich dagegen. Es kam zu gewaltsamen Anschlägen auf jüdische Bewohner und Einrichtungen. Die Spannungen verstärkten sich, als bekannt wurde, dass in jüdischen Betrieben nur jüdische Arbeiter beschäftigt werden sollten und nur den Juden erlaubt wurde, Waffen zu tragen. Unter dem Druck dieser Unruhen und der arabischen Machthaber der Region wurde von der Mandatsmacht die Einwanderung der Juden nach Palästina gedrosselt. Die Engländer setzten in Jerusalem mit Mohammed Amin al-Husseini einen arabischen Nationalisten als Zivilverwalter ein, der die Juden hasste und später mit Hitler über deren Ermordung beriet.
|148|Als vielen jüdischen Deutschen nach 1933 klar wurde, dass die Nazis und ihre Helfer in Wehrmacht und Bevölkerung ihnen nicht nur die Lebensgrundlage durch Enteignungen und Berufsverbote entziehen würden, sondern auch ihren Tod wollten, wanderten rund 200 000 europäische Juden nach Palästina aus. Nach der fabrikmäßigen Ermordung von Millionen Juden wollten viele der Überlebenden des Holocaust nach der Befreiung nicht in Europa bleiben, sondern nach Palästina auswandern. Doch die Engländer verhinderten dies, um die Spannungen im Land nicht noch weiter zu verstärken. Sie sperrten Tausende von KZ-Überlebenden wieder in Lagern ein (zum Beispiel auf Zypern). Jüdische Gruppen in Palästina schleusten Flüchtlinge auf illegalen Wegen ins Land. Viele bewaffneten sich und verübten Anschläge gegen die Engländer. Heute würden wir dies Terrorismus nennen.
Ende November 1947 stimmte die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) für einen Teilungsplan Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat, wobei Jerusalem und Bethlehem unter UN-Kontrolle gestellt werden sollten. Die beiden neuen Länder sollten durch eine Wirtschaftsunion verbunden sein. Die jüdische Verwaltung akzeptierte den Plan, wenn auch viele weiterhin von einem jüdischen Land in biblischer Größe träumten. Die arabischen Führer lehnten es ab, bei einem Bevölkerungsanteil von 67 Prozent nur 44 Prozent des Landes zu erhalten und die fruchtbarsten Teile sowie die Küste an den jüdischen Staat abzugeben.
Am 14. Mai 1948 lief das englische Mandat aus und der |149|israelische Politiker David Ben Gurion verkündete die Gründung des Staates Israel. Seitdem feiert Israel an diesem Tag die Unabhängigkeit, während er für die Palästinenser der Tag der Katastrophe ist (Nakba). Einen Tag später erklärte die arabische Liga aus Ägypten, Libanon, Syrien, Jordanien und dem Irak dem neuen Staat den Krieg.
In den folgenden Tagen verließen fast 800 000 Palästinenser ihre Häuser. Bislang stellte die israelische Regierung diesen Massenexodus stets als freiwilligen Auszug aus dem neuen Staatsgebiet dar. Doch in den letzten Jahren haben einige Historiker aus Israel Forschungsergebnisse präsentiert, die die palästinensische Sichtweise bestätigen, nämlich dass es sich um eine Vertreibung unter Zwang gehandelt habe. Damit die Bewohner nicht zurückkehren konnten, wurden 400 Dörfer zerstört. Die meisten dieser Flüchtlinge leben bis heute unter elenden Bedingungen in Lagern in der Westbank, im Libanon oder in Jordanien. Viele sind in der ganzen Welt verstreut. Die Rückkehr der Flüchtlinge und ihrer Nachkommen ist bis heute eines der größten Probleme bei allen Friedensverhandlungen.
Im »Palästinakrieg« oder aus israelischer Sicht dem » Unabhängigkeitskrieg« gewannen die Israelis die Oberhand, weil viele ihrer Soldaten zuvor auf Seiten der Alliierten gegen Hitler-Deutschland gekämpft hatten und durch die Unterstützung mit westlichen Waffen auch besser ausgerüstet waren, während die Soldaten aus den arabischen Ländern keine gemeinsame Struktur oder Strategie hatten. Dennoch gab es auf beiden Seiten Tausende von Opfern. Der Krieg endete 1949, als Israel mit den einzelnen arabischen |150|Ländern Waffenstillstand schloss. Der Gaza-Streifen wurde von Ägypten vereinnahmt und die Westbank (das Land westlich des Jordan) wurde von Jordanien besetzt. Die im Waffenstillstand festgelegten Grenzen entsprachen für Israel der vor dem Krieg in der UN-Resolution festgelegten »Grünen Linie«. Von einem selbstständigen palästinensischen Staat war zu dieser Zeit auch in den arabischen Nachbarländern keine Rede mehr.
Der 1948 gegründete Staat Israel war von arabischen Nachbarn umgeben, die seine Existenz nicht diplomatisch anerkannten und damit drohten, den jüdischen Staat zu vernichten, weil dieser einen Teil der arabischen Welt durch Landraub kolonialisiere. So gab es viele Drohungen und nach einer Nadelstichtaktik Störmanöver an den Grenzen. Die meisten Israelis fühlten sich eingekesselt und bedroht. Das Trauma der Überlebenden der Shoa war deutlich: »Wir werden uns nie wieder einsperren und töten lassen. Wir brauchen eine Armee, die bei jeder Bedrohung Stärke zeigt.« Als Anfang Juni 1967 in mehreren Nachbarstaaten Truppen in Grenznähe aufmarschierten und vor allem Ägypten auf der Sinai-Halbinsel und im Gazastreifen militärische Übungen abhielt, entschloss sich die israelische Regierung zum Präventivschlag. Ob Ägypten tatsächlich angreifen wollte, war unklar, wie Ministerpräsident Begin später zugab.
Israel bombardierte schon am ersten Tag die ägyptischen Militärflugzeuge und Landebahnen. In nur sechs Tagen hatte die israelische Armee alle Nachbarländer geschlagen und das zu Jordanien gehörende Westjordanland, die syrischen |151|Golanhöhen und die ägyptische Sinaihalbinsel sowie den Gazastreifen besetzt. Israels Armee galt nun im eigenen Land als unschlagbar.
Im November 1967 forderten die Vereinten Nationen Israel in der Resolution 242 auf, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen. Doch das Gegenteil geschah: Israel begann mit dem Bau jüdischer Siedlungen in den besetzten Gebieten.
Trotz oder wegen der hohen Verluste im Sechs-Tage-Krieg planten Ägypten und Syrien 1973 nun ihrerseits einen präventiven Blitzkrieg zur Rückeroberung ihrer besetzten Gebiete und griffen Israel am jüdischen Jom-Kippur-Feiertag an zwei Fronten an. Unter Vermittlung der US-Regierung gab es einen Waffenstillstand und Jahre später einen Friedensvertrag mit Ägypten und Jordanien.
Nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen in Oslo und Camp David spitzte sich ab dem Sommer 2000 die Lage im Nahen Osten erneut zu. Es gab verschiedene Selbstmordattentate auf Zivilisten in Israel, auch auf Treffpunkte von Jugendlichen wie Cafés oder Discos und einige Anschläge auf Soldaten an den Checkpoints. Die israelische Armee bombardierte die Häuser und Autos von Anführern der gewalttätigen palästinensischen Gruppen wie Hamas und Al-Aqsa-Brigaden. Dabei wurden zahlreiche zufällig in der Umgebung anwesende Zivilisten getötet, auch viele Kinder (Militärs und Politiker nennen das zynisch »Kollateralschäden«). Sowohl die Selbstmordattentate als auch die Bombardierungen sind völkerrechtswidrig und somit Terrorakte.
|152|Die Auseinandersetzungen eskalierten, als sich im September 2000 der israelische Politiker Ariel Scharon unter dem Schutz von 1000 Polizisten Zugang zum Tempelberg verschaffte. Auf diesem Berg liegen heilige Stätten sowohl des Judentums als auch des Islam. Auf der Westseite steht die »Klagemauer« der Juden, die noch von der Zerstörung des (zweiten) Tempels im Jahr 70 n. Chr. stammt und der wichtigste Gebetsort von Juden in aller Welt ist. Auf dem Gipfel befindet sich die Al-Aqsa-Moschee, eines der bedeutendsten Heiligtümer des Islam. Mit Ausnahme der »Klagemauer« steht der Tempelberg unter palästinensischer Verwaltung. Radikale orthodoxe Juden beanspruchen den ganzen Berg und träumen davon, in einem Israel mit biblischen Ausmaßen dort den Dritten Tempel zu erbauen.
Gegen die angekündigte Provokation Scharons protestierten viele Palästinenser, manche auch gewaltsam. Die israelische Armee schlug die Demonstrationen blutig nieder, was zum Aufstand in den palästinensischen Gebieten führte. Es kam zum Ausbruch der Zweiten Intifada.
 
Ängste, Bedrohungen und Beeinträchtigungen im Alltag der Kinder
Wie in anderen Kriegsgebieten ist der Alltag auf beiden Seiten meist durch Angst und Vorsichtsmaßnahmen geprägt. Allerdings kann das Ausmaß der Bedrohungen und Einschränkungen sehr unterschiedlich sein.
Einerseits ist der Alltag in Israel geprägt von der Angst vor Selbstmord-Attentätern. Die Menschen rechnen ständig |153|damit, dass sich jemand irgendwann und irgendwo in die Luft sprengen und dabei möglichst viele Menschen mit in den Tod reißen könnte. Deshalb stehen überall Wachmänner und Soldaten, sogar in den Schulen. Andererseits gibt es ein pulsierendes öffentliches Leben mit bunten Läden, dichtem Verkehr und vielen Menschen in den Straßen. So hören wir von Gili, dass sie oft reitet und sich amüsiert. Auch die anderen Kinder und Jugendlichen erzählen, wie sie sich mit Freunden treffen, feiern, ausgehen oder Sport treiben. Der Krieg sei zwar bedrohlich, doch über lange Phasen könnten sie unbeschwert ihre Kindheit genießen.
Für die palästinensischen Kinder in den besetzten Gebieten ist ein unbeschwerter Alltag nicht möglich, in vielen Orten schon seit Jahren nicht mehr. Ich selbst habe die Auswirkungen der Ausgangssperre gespürt. Als ich mit der ZFD-Delegation zu einem Treffen mit einer Friedensorganisation in Bethlehem wollte, hatten wir Mühe, ein Taxi zu finden, weil es während der Ausgangssperre verboten war zu fahren. Die Stadt machte den Eindruck einer Geisterstadt, die Straßen menschenleer, alle Jalousien der Läden waren heruntergelassen, niemand hinter den Fenstern zu erblicken. Doch wir wussten, dass hier etwa 30 000 Menschen in ihren Wohnungen eingesperrt waren. Selbst ein Blick aus dem Fenster wäre zu gefährlich gewesen. Darüber berichten auch Mahmood und Maryam.
Das Schlimmste an der Besatzung jedoch, sagen viele Palästinenser, sei die Willkür und die Erniedrigung, die sie erleiden müssten. Ich habe selbst gesehen, wie an einem Checkpoint ein Krankenwagen lange in der Gluthitze stehen |154|musste, während die Soldaten zusammenstanden, rauchten und lachten. Auch Nora beschwert sich im Interview über die allmorgendlichen Schikanen im Schulbus mit behinderten Kindern, die trotz Sondererlaubnis jeden Morgen ausgefragt werden. Mona steht jeden Morgen auf dem Schulweg in der Schlange, bis ihr die Füße weh tun. Besonders schlimm ist es, dass es keine Toiletten für Frauen gibt.
Bei unseren Seminaren gibt es einen kulturellen Abend, bei dem sich häufig die Gruppen Szenen aus ihrem Alltag zu Hause vorspielen. Die Palästinenser stellen oftmals dar, wie sie an den Checkpoints warten müssen und dazu noch verspottet und erniedrigt werden. Die israelischen Teilnehmer und Teilnehmerinnen sind meist schockiert, wenn sie solche Szenen sehen oder Geschichten hören. Das hätten sie nicht gewusst, meinen viele empört.
Die palästinensischen Jugendlichen können sich nicht vorstellen, dass solche Szenen tatsächlich der Wahrnehmnung vieler israelischer Jugendlicher entgehen können. Doch in deren Erziehung werden israelische Soldaten stets als Vorbild und Ideal dargestellt. Nach dem öffentlichen Bild sind sie edle Beschützer und mutige Kämpfer für die Gemeinschaft, die niemals Unrecht tun. Dieses Idealbild mit der Wirklichkeit von Brutaliät und Willkür zusammenzubringen, ist für israelische Jugendliche oft einfach nicht vorstellbar.
Ein junger israelischer Soldat hat einmal gestanden, dass er mitgemacht habe bei der sadistischen Quälerei eines Palästinensers. Dabei habe er sich nichts weiter gedacht, die Kameraden hätten ihren Spaß gehabt! Erst jetzt in der Begegnung |155|nehme er die »Anderen« als Menschen mit Würde wahr und nicht mehr als Terroristen und Ungeheuer.
 
Die meisten der jungen Israelis bei unseren Seminaren sprechen fließend Englisch, viele auch Französisch oder Spanisch, sie sind weit gereist, studieren zum Teil in anderen Ländern, sind insgesamt also sehr weltgewandt und kosmopolitisch. Die palästinensischen TeilnehmerInnen haben zwar meist, wie die israelischen, in aller Welt Verwandte, doch können sie von Auslandsreisen in der Regel nur träumen – schließlich sind oft nicht einmal Reisen in die nächste Stadt möglich. Auch an Orten und zu Zeiten ohne Ausgangssperre ist die Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bevölkerung stark eingeschränkt. Nach Israel dürfen sie überhaupt nicht. Seitdem die israelische Armee den kurz zuvor mithilfe europäischer Gelder gebauten Flughafen von Ramallah bombardierte, können sie das Land nur noch über Jordanien verlassen.
Bei all den geschilderten Schwierigkeiten kann man sich vorstellen, wie viele unserer jungen Gäste aus Palästina versucht haben, die Checkpoints zu umgehen und mit großen Umwegen auf Trampelpfaden durch die Berge oder die Wüste nach Jericho zu gelangen. Das kann gefährlich werden, auch wenn die meisten verschlungene Wege kennen, die für Militärfahrzeuge kaum befahrbar sind. Einige ließen sich auf Mopeds bringen, einer hatte die Papiere eines Cousins, der israelischer Staatsbürger ist, ein anderer versteckte sich unter Obst und Gemüse auf einem Lieferwagen. Trotz des großen Risikos wagten sie es, um in |156|Deutschland Gleichaltrige zu treffen, die sie selbst oder ihr Umfeld als Feinde betrachteten.
 
Deborah Ellis konnte wegen der Ausgangssperre ihre Gespräche mit den palästinensischen Jugendlichen nur in Ostjerusalem, Ramallah und Bethlehem führen. Das sind Städte, die im Vergleich zu anderen Orten in den besetzten Gebieten, wie etwa Nablus, Jenin, Tulkarem oder Qalqilia, nicht so häufig von der israelischen Armee heimgesucht werden, weil sie aus jeweils anderen Gründen am ehesten im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit stehen. In fast jeder Beziehung am Schlimmsten sind die Zustände im Gazastreifen. Deborah Ellis konnte keine Kinder von dort interviewen, und auch in unseren Ferienseminaren sind nur ganz selten Teilnehmer aus Gaza, denn es ist fast unmöglich, dieses Gebiet zu betreten oder zu verlassen.
Mit der ZFD-Delegation durfte ich im Januar 2003 auch nach Gaza, womit keiner von uns gerechnet hatte. Wir waren die Einzigen am Grenzübergang, dennoch dauerten die Kontrollen stundenlang. Am Vortag hatten Hamas-Mitglieder mit selbst gebauten Raketen auf israelisches Gebiet geschossen, und zur Vergeltung waren alle Brücken rund um die Stadt Gaza bombardiert worden, sodass keine Verbindung mehr zu den südlichen und nördlichen Teilen des Gazastreifens bestand.
Wir besuchten unter anderem ein psychotherapeutisches Beratungszentrum. Die Ärzte klagten über die Zunahme von Erkrankungen bei Kindern, die nicht genug zu essen hätten, wochenlang wegen des nächtlichen Lärms der Hubschrauber |157|nicht schlafen könnten, oder die ständig Angst vor Bombardierungen hätten. Auch die Eltern stünden ständig unter Stress, Frauen und Kinder seien der steigenden häuslichen Gewalt der Männer ausgesetzt.
Die meisten palästinensischen Jugendlichen haben Freunde oder Verwandte, die in israelischen Gefängnissen sitzen. Ein Teilnehmer unserer Seminare war dreimal im Gefängnis, das erste Mal als Kind, weil er Steine auf ein israelisches Armeefahrzeug geworfen hat; das zweite Mal, weil bei einer Hausdurchsuchung eine Pistole gefunden wurde, worauf vier Männer seiner Familie inhaftiert worden seien; für das dritte Mal konnte er selbst keine Erklärung finden. Er habe auf der Straße eine Ansammlung von Menschen gesehen und sich neugierig dazugestellt. Die Soldaten hätten ihn herausgegriffen und mitgenommen. Er vermutete, weil er sehr groß ist und aus der Menge herausragte. Zwei Jahre habe er gesessen, ohne jemals zu erfahren warum.
Wenn die israelischen TeilnehmerInnen der Seminare so etwas hören, verteidigen einige ihre Regierung: »Es wird schon Gründe geben, das sind ja nicht alles Unschuldslämmer!« Das bringt die Palästinenser natürlich in Rage: »Ihr behauptet, eine Demokratie und ein Rechtsstaat zu sein. Tausende Palästinenser sitzen in israelischen Gefängnissen, ohne konkreten Tatvorwurf, ohne Anklage, ohne Verurteilung. Menschenrechte gelten nur für Euch, wir sind völlig rechtlos, schlimmer als Sklaven, eingesperrt wie Tiere!«
Andere junge Israelis reagieren einerseits schuldbewusst, andererseits abwehrend: »Wir sind gegen die Besatzung und gegen unsere Regierung. Wir kommen gegen den Willen |158|unserer Familien hierher, um Euch zu treffen und zu helfen. Jetzt hören wir nur Vorwürfe von Euch. Das alles ist schlimm, aber wir sind dafür nicht verantwortlich.«
 
Jüdische Siedlungen auf palästinensischem Land
Einen Teil der im Sechs-Tage-Krieg eroberten Gebiete hat Israel später an Ägypten und Syrien zurückgegeben. Im Westjordanland begann Israel dagegen bald mit dem Bau von jüdischen Siedlungen. Vorzugsweise auf Hügeln konnten in den folgenden Jahren Einheimische und Einwanderer luxuriöse Häuser zu günstigen Bedingungen bewohnen. Trotz wiederholter Aufforderungen zum Rückzug durch UN-Resolutionen baute Israel die Siedlungen weiter aus. Die meisten palästinensischen Familien und Dörfer waren mit der Beschlagnahme ihres Landes durch die neuen Nachbarn durchaus nicht einverstanden und attackierten diese. Deshalb müssen die Siedlungen aufwändig durch das Militär geschützt werden. Was zunächst wie ein willkürlicher Flickenteppich erschien, hat sich inzwischen zu Siedlungsregionen mit jeweils eigener Infrastruktur verdichtet
Die meisten Siedlungshäuser sind von blühenden Gärten umgeben, viele haben einen Swimmingpool – der Wasserbedarf ist hoch. Die Bohrung der notwendigen Brunnen gräbt den benachbarten palästinensischen Bauern sprichwörtlich das Wasser für ihre Felder ab. Ein Siedler braucht siebenmal so viel Wasser wie ein Palästinenser, obwohl diese meist Land bewirtschaften und Nutztiere halten. Eine Untersuchung der israelischen Friedensorganisation »Peace |159|Now« aus dem Jahr 2006 über die etwa 150 Siedlungen zeigt, dass der größte Teile des konfiszierten Bodens gar nicht bewohnt oder bearbeitet wird.
Inzwischen gibt es richtige Städte im besetzten Westjordanland wie zum Beispiel Ma'aleh Adumim mit 33 000 Einwohnern. Vor allem rund um Jerusalem wurden in den letzten Jahren viele Neubaugebiete errichtet. Aus Sicht der israelischen Regierung sind das keine Siedlungen, weil 1980 Israel durch ein Gesetz ganz Jerusalem und das Umland zu seinem Staatsgebiet erklärte. Die Vereinten Nationen fassten einen Beschluss, der dies als illegalen Akt bezeichnet (UN-Resolution 478). Deshalb haben sich fast alle Botschaften in Tel Aviv niedergelassen, während die Regierung Israels in Jerusalem sitzt.
Insgesamt leben über 400 000 Israelis auf annektiertem Land. Bei einem Friedensschluss lassen sich nicht ohne weiteres Hunderttausende von Menschen umsiedeln. Alle Politiker, die wieder gewählt werden wollen, können kaum gegen die Interessen einer so großen Bevölkerungsgruppe handeln. So wurden Fakten geschaffen, ohne dass dies in der westlichen Welt Sanktionen gegen Israel nach sich gezogen hätte. Damit wird es schwierig, dass Ostjerusalem Hauptstadt eines zukünftigen Palästinenserstaates werden kann, wie es einige der Friedenspläne vorsehen.
 
Apartheidsmauer oder Sicherheitszaun?
Kurz nachdem Deborah Ellis die Gespräche mit den Kindern und Jugendlichen führte, begann Israel seine Grenze zu |160|den Palästinensergebieten durch Grenzanlagen zu sichern. Für die Mauer wurden riesige Betonplatten aneinandergereiht, alle paar Kilometer durch einen Wachtturm oder ein riesiges Tor unterbrochen. In weiten Teilen steht statt einer Mauer ein hoher Zaun mit Gräben rechts und links einer Straße für Militärfahrzeuge. Die Sperrzone zu beiden Seiten des Zauns ist bis zu 70 Meter breit. Diese undurchdringliche Sperranlage trennt inzwischen nicht nur das Gebiet Israels und der besetzten Gebiete, sondern reicht auch in Keilen in die Westbank, um die Siedlungen vor den benachbarten palästinensischen Dörfern zu sichern. Sie hat eine Länge von 760 Kilometern – und es wird weiter gebaut!
Israel begründet die Notwendigkeit der Mauer mit seinen Sicherheitsinteressen, denn die Zahl der Opfer von Selbstmordattentätern, die aus den besetzten Gebieten kamen, war mit Beginn der Zweiten Intifada gestiegen.
Der eigentliche Skandal ist, dass diese gigantische Sperranlage an vielen Stellen auf der palästinensischen Seite der »Grünen Linie« (so heißt die im UN-Teilungsplan vorgesehene Grenze) liegt und nicht auf der israelischen Seite errichtet wurde. Sie reicht bis zu 10 Kilometer in das palästinensische Gebiet hinein. Für den Bau wurden Olivenbäume umgehackt, manche Dörfer wurden durchschnitten, Kinder kommen nicht mehr zur Schule. Das Acker- und Weideland vieler Bauern liegt nun unerreichbar jenseits der Mauer. Sie gelangen dort nur mit Genehmigung und zu bestimmten Zeitpunkten hin, die durch das israelische Militär bestimmt werden und nicht durch den Arbeitsrhythmus der Bauern oder den Biorhythmus der Pflanzen und Tiere. |161|So wurde die Existenzgrundlage tausender palästinensischer Bauern zerstört.
In der Tat gibt es seit der Existenz der Mauer weniger Anschläge in Israel. Der Preis dafür ist allerdings, dass ein ganzes Volk für die Verbrechen weniger in Sippenhaft genommen wird. Im Gazastreifen, der schon lange von einem Zaun eingeschlossen ist, hat diese Isolation nicht zur Befriedung, sondern zur Radikalisierung und Militanz beigetragen. Von dort schießen militante Gruppen mit Katjuscha-Raketen auf israelisches Gebiet. Einen wirklichen Schutz kann auch die Mauer langfristig nicht garantieren.
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag bezeichnete im Jahr 2004 in einem Gutachten den Mauerbau als rechtswidrig. Dennoch ging der israelische Ministerpräsident Olmert zwei Jahre später davon aus, dass die Mauer den künftigen Grenzverlauf abstecke.
Darauf wird sich die palästinensische Delegation bei Friedensverhandlungen kaum einlassen. Denn Tatsache ist, dass durch die Sperranlage das palästinensische Gebiet erheblich verkleinert wurde, und dies auch noch um sehr fruchtbares Land und wichtige Wasserreserven.
 
Ferien vom Krieg – Begegnungen zwischen jungen Menschen aus Israel und Palästina
Obwohl es in Israel mehrere Friedensorganisationen gibt, die seit vielen Jahren Begegnungen zwischen israelischen und palästinensischen Jugendlichen organisierten, mussten wir erstaunt feststellen, dass fast all diese Kontakte seit |162|Ausbruch der Zweiten Intifada zerrissen waren. Unter den Bedingungen von Belagerung, Ausgangssperre, Kontrollen und tödlichen Angriffen seien Dialog-Projekte nicht mehr gewünscht und auch zu gefährlich, sagten viele PalästinenserInnen, darunter prominente FriedensaktivistInnen. Auch Organisationen in Israel zeigten kaum Interesse: Solange die Friedenskräfte in Palästina nichts dagegen unternähmen, dass Selbstmord-Attentäter als »Märtyrer« verehrt würden, sei eine Verständigung ausgeschlossen.
Vertreter von beiden Seiten meinten, die Zeit des Dialogs sei vorbei, die Treffen und Gespräche hätten nichts gebracht. Auf palästinensischer Seite wurde immer wieder betont, welch große Hoffnungen man in den Osloer Friedensprozess gesetzt habe, und wie enttäuscht man jetzt sei. Auf israelischer Seite wurde bis in die Führung der » Peace-Now-Bewegung« ein weiterer Dialog abgelehnt. Israel müsse von sich aus die Besatzung beenden und die Grundlage für einen dauerhaften Frieden schaffen.
Nur die Friedensschule Neve Shalom / Wahat al-Salam (NSWaS) hatte noch Kontakt zu einem Friedensaktivisten aus Qalqilia sowie einem Jugendzentrum in Nablus und entschloss sich zu einer Zusammenarbeit mit uns.
Zufällig hörten wir von Keren aus Tel-Aviv und Rami aus Ost-Jerusalem, die sich auf einem Friedensschiff der japanischen Friedensbewegung kennengelernt hatten. Während einer Kreuzfahrt von politisch interessierten Touristen werden Bildungsseminare durchgeführt, die von jungen Leuten aus allen Krisen- und Kriegsgebieten angeboten werden. Nach vielen gemeinsamen Workshops stellten Keren und |163|Rami große Übereinstimmungen fest, aber auch wie wenig sie jeweils von den Lebensbedingungen und der Kultur der anderen Seite wussten. Es schien ihnen absurd, irgendwo auf dem Atlantik zusammenzuarbeiten und dies zu Hause nicht zu wagen. Sie erzählten vielen Freunden von dieser Erfahrung und gründeten eine Initiative, die sich später »Breaking Barriers« nannte. Wir luden sie nach Deutschland ein, und beide nahmen im Sommer 2002 erstmals mit je 25 Bekannten an zwei Freizeiten in Deutschland teil. Seitdem haben jeden Sommer Freunde von Freunden der Freunde beider Seiten die Barrieren gebrochen, über 400 TeilnehmerInnen sind inzwischen durch die Graswurzel-Initiative»Breaking Barriers« zu den Seminaren in Deutschland gekommen. Soweit die politischen Bedingungen es erlauben, bleiben viele Gruppen später in Kontakt.
 
Da es sich als völlig illusorisch erwies, palästinensische Kinder unter 15 Jahren aus der Westbank mit jüdischen Kindern aus Israel gemeinsam zu Ferien einzuladen, sprachen wir über unsere Partnerorganisationen 16- bis 19-Jährige und 22- bis 30-Jährige an. Die Altersgruppe dazwischen entfällt weitgehend, weil fast alle jungen Israelis drei Jahre Militärdienst leisten müssen.
Die Auswahl der TeilnehmerInnen überlassen wir unseren Partnerorganisationen nach abgesprochenen Kriterien. Demnach sollen es keine »Aktivisten« aus bestehenden Friedensgruppen oder aus parteinahen Jugendorganisationen sein. Im Gegensatz zu der im Nahen Osten – und nicht nur dort – verbreiteten »education for leadership« |164|ziehen wir einen »Graswurzelansatz« vor, wo »ganz normale« Jugendliche, von Neugier auf das »Fremde« angezogen, hinter die Kulisse der heimischen Propaganda schauen wollen. Soziale Kriterien gibt es natürlich auch, denn wir wollen hier keine Spenden für die Kinder reicher Leute sammeln. Die palästinensische Bevölkerung ist inzwischen so verarmt, dass den meisten kein Eigenbeitrag zugemutet werden kann. Viele Jugendliche aus Israel zahlen einen Eigenbeitrag, der in den »Topf« für die Honorare der »facilitator« und Übersetzer geht, denn sie erhalten aus den Spenden der Aktion »Ferien vom Krieg« nur ein Taschengeld.
Zu den Begegnungen gehört Mut. Viele der Teilnehmer haben Angst, zu Hause zu sagen, dass sie »die Anderen« treffen wollen. Sie erzählen dann meist, sie seien zu einem Treffen mit deutschen Jugendlichen eingeladen. Das gilt für beide Seiten. Zwar sind solche Begegnungen für israelische Staatsbürger nicht offiziell verboten, doch sprach der Ministerpräsident in diesem Zusammenhang von » Vaterlandsverrätern«. Mir sind mehrere Fälle bekannt, in denen Jugendliche aus Israel, die an einer Begegnung teilnehmen wollten, unter schweren sozialen Druck seitens ihrer Familie gerieten, und wenn sie dennoch fuhren, der Kontakt von Verwandten und Freunden abgebrochen wurde. Auch im letzten Sommer berichtete ein junger Mann, dass keiner zu Hause wissen dürfe, wo er sei.
Für die Jugendlichen von der Westbank ist eine Teilnahme noch riskanter, besonders für diejenigen, die aus Städten mit vielen militanten Gruppen kommen wie Nablus, Jenin oder Tulkarem. Das Misstrauen bei ihnen besteht |165|auch in Bezug auf andere palästinensische Gruppen. Diese wollten auf keinen Fall aufeinandertreffen. Für uns bedeutete das einen höheren Organisationsaufwand. Ich konnte zunächst nicht verstehen, warum eine Gruppe aus Palästina solche Angst vor ihren »palästinensischen Brüdern« zu haben schien, die doch das gleiche Risiko eingegangen waren wie sie selbst. Als ich später über die öffentliche Hinrichtung eines »Kollaborateurs« las, der Kontakte zu Israelis gehabt haben sollte, wurde mir allmählich klar, wie gefährlich diese Begegnungen für Einzelne werden können.
 
Nachdem die TeilnehmerInnen vor Ort ausgewählt worden sind, müssen viele der Palästinenser einen Pass beantragen, denn sie waren noch nie im Ausland.
Die ersten informellen Begegnungen finden oft nach Mitternacht in der Tagungsstätte statt, meist mit verlegenen Gesten der Höflichkeit. Nach der Begrüßung durch die Koordinatoren aus Israel, Palästina und Deutschland werden am nächsten Morgen die gemischten Untergruppen (etwa fünf TeilnehmerInnen von jeder Seite) eingeteilt, wie sie die nächsten zwei Wochen zusammenarbeiten sollen.
Dann beginnt das »warming up«. Je nach Teilnehmerzahl der Großgruppe gibt es drei bis sechs »Stationen«, wo deutsche TrainerInnen, Schauspieler, Gaukler oder Körpertherapeuten jeweils andere Angebote zur Entspannung, Auflockerung, Vertrauensbildung und zum gemeinsamen Spaß anbieten.
Die Gruppenleiter haben ihr Seminar in Israel beziehungsweise Palästina mehr oder weniger gründlich vorbereitet |166|. Wir als deutsche Gastgeber bieten also nur den Rahmen der Begegnungen, die inhaltliche Gestaltung überlassen wir ganz den örtlichen Partnerorganisationen. Bei den Teambesprechungen während der Freizeiten sind wir dann aber dabei und kommentieren bei Bedarf den Verlauf. Unsere Aufgabe sehen wir nicht in der Intervention, sondern bei der Organisation des Rahmens und vor allem bei der »teilnehmenden Beobachtung« und Dokumentation der Prozesse. An freien Tagen werden Ausflüge zu den unterschiedlichsten Zielen organisert. Oft ist schon allein die Fahrt in der Straßenbahn oder S-Bahn für beide Seiten aufregend: Eine Stunde ohne Kontrollen beziehungsweise ohne Angst in öffentlichen Verkehrsmitteln zu sitzen – das gibt es weder in Israel noch in Palästina. Wir bieten dann Stadtbesichtigungen oder den Besuch einer Ausstellung an, manchmal auch ein gemeinsames Picknick.
Insbesondere für die palästinensischen Gäste, die zum ersten Mal für zwei Wochen der Westbank entfliehen, ist der glitzernde Glaskasten eines Kaufhauses in Köln etwa so attraktiv wie für uns der orientalische Markt in der Altstadt von Jerusalem. In der Vergangenheit brachten manche lange Einkaufslisten mit, mit Besorgungen für Verwandte oder das ganze Dorf. Inzwischen ist das Geld dort bei fast allen Menschen so knapp geworden, dass sie sich Kosmetika oder Elektronik nicht mehr leisten können – selbst wenn diese in Europa billiger sind als zu Hause.
Die jungen Leute aus Israel sind dagegen hier nicht besonders an Konsumgütern interessiert. Einige von ihnen suchen mit speziellen Szene-Reiseführern Geschäfte für koschere |167|Lebensmittel oder für Veganer, Discos für Homosexuelle oder Kunstausstellungen.
In den letzten Jahren führte ein Tagesausflug auch ins Ausland (Amsterdam, Brüssel oder Straßburg). Besonders für die palästinensische Gruppe war es ein einmaliges Befreiungserlebnis, eine Grenze zu überqueren, die es nicht mehr gibt. Sie staunten darüber, dass man Grenzen aufheben kann statt neue Mauern zu bauen.
 
Zu Anfang der Treffen ist jede palästinensische Gruppe beseelt von ihrer Mission, den Israelis die Leiden ihres Volkes nahe zu bringen. Die Jugendlichen treten zunächst als geschlossene Gruppe auf, tragen alle das Palästinensertuch (die Kufiya), schildern ihre Lebensumstände und Erniedrigungen und gehen abends als geschlossene Gruppe aus. Sie klagen die Israelis unterschiedslos an, Teil der Kriegsmaschinerie zu sein. In der Defensive verteidigen dann vor allem die jüngeren Israelis die Politik ihrer Regierung, die sie wahrscheinlich in anderen Zusammenhängen kritisieren würden. Diese Anklage ist für die Verweigerer (refuseniks), die schon in ihrer eigenen Gesellschaft unter großem sozialen Druck stehen, kaum auszuhalten. Sie haben eher Dankbarkeitsbezeugungen der Palästinenser für ihre mutige Opposition erwartet und sehen sich nun auch von denen, die sie verteidigen wollen, unter Anklage gestellt. Diese wiederum sind schockiert, wenn sich ihr Gesprächspartner aus Israel als Soldat »outet«. Diese Gefühle werden dann in abendlichen Sitzungen ohne die jeweils andere Gruppe ausgetauscht. Die zeitweilige Perspektivenübernahme der |168|Sicht der »Anderen« lässt ansatzweise einen Verständnisprozess beginnen.
Nach ein paar Tagen erhält das einheitliche Erscheinungsbild der Palästinenser Risse. Besonders einige Frauen spüren bald, dass sie ihr persönliches Elend besser ohne den Gruppendruck und die vorgestanzten Sprachregelungen über »die Leiden des palästinensischen Volkes« mitteilen können. Sie entziehen sich der autoritären Struktur oder opponieren offen dagegen. Die ersten Annäherungen und Freundschaften entstehen in der Regel zwischen Frauen, bei den Männern dauert es länger, bis sie den Panzer ablegen können.
 
Eines der wichtigsten Themen für die meisten palästinensichen Jugendlichen ist ihre Angst vor den Angriffen der israelischen Armee, die völlig überraschend kommen, und sie deshalb zur ständigen Wachsamkeit zwingt. Fast alle haben Angriffe durch Panzer oder Bombardierungen aus der Luft erlebt. In fast allen Familien oder Dörfern hat es Verletzte und Tote gegeben. Überall sieht man zerstörte Häuser.
So kommt es vor, dass die Jugendlichen aus dem Raum laufen, wenn im Rheinland zufällig ein Hubschrauber zu hören ist, bei Gewitter zucken sie angstvoll zusammen.
Ein Teilnehmer aus Bethlehem beschrieb das Haus seiner Familie so: »Vor einem Jahr hat sich das Kanonenrohr eines israelischen Panzers durch die Hauswand über dem Herd in die Küche gebohrt. Wir hätten den Soldaten auch die Tür geöffnet. Aber da trauen sie sich nicht durch, lieber rammen sie Löcher in die Wand.« Nach der ergebnislosen Durchsuchung des Hauses wollten sich die Soldaten zurückziehen |169|, doch der Panzer steckte fest. Auch drohte das Haus einzustürzen, wenn das Rohr zurückgezogen würde, So einigten sich die feindlichen Lager, das Kanonenrohr abzusägen und stecken zu lassen. Es diene jetzt als eine Art Dunstabzugshaube in der Küche.
 
Selbstmordattentate und Bombardierungen – Terrorakte oder Selbstverteidigung?
Jeden Sommer wurden bisher die Annäherungsprozesse in den Seminaren jäh durch besonders gewalttätige Angriffe gestört. Besonders bei Gruppen aus Nablus ist es schon häufiger passiert, dass während der Seminare TeilnehmerInnen die Nachricht über getötete Angehörige oder Freunde erhielten. Der Bericht vom ersten Tag der ersten Freizeit im Sommer 2002 beginnt so:
»Der erste Tag begann mit einer ›Aufwärmphase‹ durch sozialpädagogische Vertrauensspiele und einen Jonglageworkshop. Mitten in die sich vorsichtig öffnende Stimmung platzte die Nachricht vom israelischen Luftangriff auf einen Hamas-Führer in Gaza, bei dem fünfzehn Kinder und Erwachsene getötet wurden, darunter auch die Cousine einer Teilnehmerin.
Die palästinensische Gruppe richtete einen Trauerraum ein und zog sich zurück, die israelische setzte sich betroffen und ratlos zusammen. Zur Überwindung der Lähmung trugen vor allem zwei Drusen, Angehörige einer kleinen, aus dem Islam entstandenen Religionsgemeinschaft, bei. Beide waren israelische Staatsbürger. Die Israelis gingen |170|mit unsicheren Mienen zu der Trauerfeier. Die PalästinenserInnen nahmen die anderen verhalten auf. Die zunächst etwas gespannte Stimmung löste sich allmählich in einem innigen mitfühlenden Zusammensein. Als Abschluss des Rituals tranken alle einen Schluck starken, schwarzen, mit Kardamom gewürzten Kaffee. Das war für alle Beteiligten ein aufwühlender Einstieg in die Diskussionen, die dann von dem Bemühen um Verständigung geprägt waren …
In der zweiten Woche des Seminars kam die Revanche für den Angriff in Gaza, nämlich ein Attentat in der Hebrew University in Jerusalem. Einige der jüdischen und arabischen Israelis studieren dort. Die betroffene Cafeteria ist ein Treffpunkt arabischer Studenten. »Warum ausgerechnet dort?«, fragte eine palästinensische Israeli.
»Warum erschrecken Euch diese Selbstmord-Kommandos erst, wenn möglicherweise Palästinenser dabei sterben?«, fragten die jüdischen Israelis betroffen zurück.
Manche israelischen TeilnehmerInnen halten den Kampf der palästinensischen Bevölkerung für gerechtfertigt – aber nicht die Methoden. Sie fragen dann: »Warum sprengt Ihr nicht die Soldaten an den Checkpoints in die Luft oder die aggressiven Siedler auf Eurem Land? Das entspräche einer Kriegsführung! Aber Ziel der meisten Attentäter sind Menschen wie wir in Bussen und Cafes!«
Die PalästinenserInnen in den Seminaren beantworten diese Frage ohne ideologische, fundamentalistische oder rassistische Begründungen, sie argumentieren rein strategisch:
»Wir sind auch gegen das Töten von Zivilisten. Wir befinden uns im Krieg. Womit sollen wir gegen die Besatzung |171|kämpfen? Wir haben keine Flugzeuge und Panzer. Erst verbietet Ihr uns eine Armee, dann werft Ihr uns vor, dass wir nicht mit Soldaten kämpfen. Es gab Attentate an Checkpoints, die treffen dann aber weniger israelische Soldaten, sondern viele palästinensische Zivilisten, die dort warten. Das trifft dann die eigenen Leute. Es ist für einen Selbstmord-Attentäter sehr viel einfacher, in einen Bus oder ein Café zu kommen als in eine israelische Kaserne. Ihr wisst selbst, wie schwierig es ist, in eine »Siedlung« zu gelangen. Wir dürfen die Straßen nicht benutzen, die Orte sind mit Stacheldraht umgeben und die Eingänge gesichert. Das sind die Gründe, nicht, weil die Attentäter gezielt Zivilisten treffen wollen. Aber bei jeder Liquidierung eines Hamas-Führers durch israelische Hubschrauber und Granaten gibt es zivile Opfer, häufig unbeteiligte Passanten oder Kinder. Wir haben weit mehr zivile Opfer zu beklagen als ihr, das interessiert niemanden. Wenn es um zivile Opfer geht, dann nur um israelische. Ist das Leben unserer Kinder weniger wert? Auch die jungen Menschen, die sich in die Luft sprengen, wollen leben. Es ist schrecklich, auch für die Familien der Selbstmörder, aber es ist Krieg.«
 
An einer Freizeit nahm auch der Bruder eines Selbstmord-Attentäters teil. Vorab wurde mir gesagt, er käme nach Deutschland, um hier erstmals Israelis zu treffen und zur Aussöhnung beizutragen. Darüber war ich natürlich sehr erfreut. In einem Workshop mit professionellen Trainern erzählte er, welch lebenslustiger und beliebter junger Mann sein Bruder gewesen sei, obwohl er im Flüchtlingslager unter |172|elenden Bedingungen aufgewachsen sei. Nach den Verhandlungen in Oslo habe er fest an den Aussöhnungsprozess geglaubt und in Friedensgruppen mitgearbeitet. Er sei überaus sensibel gewesen und habe unter den entwürdigenden Bedingungen, wie der Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit und den ständigen Kontrollen und Verdächtigungen, besonders gelitten. Als er mit einem Freund auf der Straße gewesen sei, hätten israelische Soldaten auf sie geschossen, – ohne ersichtlichen Grund. Der Freund sei in den Armen des Bruders gestorben. Danach sei dieser verzweifelt gewesen. Die Familie habe aus dem Radio erfahren, dass er sich in Israel in die Luft gesprengt hätte. Von einigen Nachbarn würde er nun als Märtyrer verehrt.
Der Betroffene und einige der PalästinenserInnen, die den jungen Selbstmord-Attentäter gekannt hatten, weinten. Zum Schluss drückten manche Israelis ihr Mitgefühl aus, eine umarmte den Trauernden, einige schwiegen.
Ich fühlte Ablehnung in mir aufsteigen und konfrontierte den jungen Mann damit: Es sei doch wohl eine paradoxe Situation, dass er für die Motive des Selbstmordes seines Bruders ausgerechnet von denen Verständnis erwarte, die selbst dessen Opfer hätten sein können. Kein Wort habe er zu den Toten und Verwundeten des Anschlags gesagt. Aussöhnung beginne, wenn man auch um die Opfer der anderen Seite trauern könne. Das erlebe er nun bei der israelischen Gruppe, während seine Geschichte jedes Mitgefühl für die Opfer des Anschlags vermissen lasse.
Eine junge Frau aus Israel meinte später zu mir: »Heute trauere ich mit ihm, dann kann er morgen vielleicht mit |173|mir trauern. Das braucht Zeit.« Vielleicht hatte sie Recht. Der Mann schien in den nächsten Tagen wie verwandelt. Er hatte seine »Mission« erfüllt und konnte nun als Mensch auf andere Menschen zugehen.
Bei einer Begegnung mit jüngeren TeilnehmerInnen war der Gruppenprozess schwierig, weil ein paar Jugendliche aus Israel ständig störten, Alkohol tranken und unerlaubte Spritztouren machten. Als dann am letzten Tagen ein Pressegespräch angesetzt war, und ein Fotograf auftauchte, warf sich die Anführerin dieser Gruppe in Pose und stolzierte auf die Presse zu. Wir fürchteten bereits Schlimmes. Die erste Frage der offenbar sensationslüsternen Reporter lautete auch gleich: »Was sagst Du zu den Selbstmord-Attentätern?« Ich wollte eingreifen, doch das Mädchen winkte ab.
»Oh doch«, meinte sie, »dazu will ich etwas sagen. Ich habe zu Hause ständig Angst vor den Bomben. Hier können wir einfach in Busse steigen und ausgehen. Das ist ein herrliches Gefühl. Aber gucken Sie sich diese Kinder aus Nablus an. Die müssen noch viel mehr Angst haben. Seit Jahren dürfen sie nicht raus, überall sind Panzer, unsere Armee zerstört ihre Häuser, sie haben nichts mehr zu essen. Früher habe ich das nicht gewusst, dann konnte ich es hier zuerst nicht glauben. Jetzt weiß ich, dass es stimmt! Die Selbstmordattentate sind schrecklich, und ich habe Angst davor. Aber ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich in ihrer Situation wäre. Früher waren das Nachrichten, das hat mich nicht interessiert. Jetzt sind es Menschen. Ich werde immer an sie denken, wenn ich Nachrichten höre und nicht mehr glauben, was uns die Politiker erzählen. |174|Auch die Terroristen sind junge Menschen, die leben wollen. Nicht nur ihre Führer, die sie aufhetzen, tragen die Schuld, sondern auch unsere Politiker, die sie unterdrücken und bedrohen. Das wollte ich Ihnen sagen.« Dann ging sie mit schwingenden Hüften zu ihren Freundinnen zurück.
 
Besitzansprüche auf das »gelobte Land«– Zwei Perspektiven
In fast jedem Krieg geht es um wirtschaftliche Interessen, um politische Macht, um nationalistische Ideologien oder um religiöse Gefühle. Diese Bereiche waren in der wechselvollen Geschichte Palästinas von unterschiedlicher Bedeutung oder griffen als kaum entflechtbare Gemengelage ineinander. Es ist deshalb unmöglich, eine bestimmte Ursache der Auseinandersetzung zu finden, besonders in diesem Konflikt greifen viele Faktoren ineinander.
Die geographische Lage als Brückenkopf zu den arabischen Ländern und zum Orient macht Israel und Palästina für die Großmächte als politische Verbündete, als Militärstützpunkt, für Öl-Pipelines und als Absatzmarkt interessant. Das sind unter anderen die Gründe, weshalb die USA seit Jahrzehnten Israel finanziell unterstützen und aufrüsten. Auch alle anderen Großmächte versuchen, Einfluss in der Region zu erlangen.
Diese weltpolitische Bedeutung des Konflikts scheint den betroffenen Jugendlichen beider Seiten kaum bewusst zu sein. Ihre Argumente in der Auseinandersetzung erscheinen vor diesem Hintergrund als völlig unzeitgemäß.
|175|An einem der ersten Seminartage geht es um die jeweilige historische Sichtweise des Konflikts (historical narratives). Dabei soll sich erst jede Seite die Perspektive der anderen anhören, ohne Unterbrechung und Kommentare. Danach entwickelt sich meist eine Diskussion, wie sie nachfolgend skizziert wird.
Der Kampf geht um ein Stück Land, das beide Seiten beanspruchen. Deshalb geht es schnell um die Frage: »Wem gehört das Land, das die einen Israel und die anderen Palästina nennen?« Dabei spielen private Rechtstitel oder völkerrechtliche Beschlüsse weniger eine Rolle als der fatale »Wettbewerb«, welches Volk »zuerst da war«. Die Juden führen die biblischen Geschichten an, wonach Moses vor fast 3000 Jahren die »Kinder Israels« durch die Wüste ins verheißene Land geführt hätte, und das sei eben Palästina gewesen.
Die Palästinenser halten dagegen, dass Moses auch im Koran ein von Allah ausgewählter wichtiger Prophet sei. Insofern könnten sie von Moses die gleichen Rechte ableiten. Die palästinensischen Teilnehmer begründen ihr Recht auf das Land dann meist damit, dass sie in diesem Land gelebt hätten, während die Juden in aller Welt verstreut waren.
»Aber wir wurden von hier vertrieben«, empören sich darauf die israelischen Gesprächspartner, »das Land wurde uns abgenommen, Wir waren nicht freiwillig in der Diaspora, wir wurden jahrhundertelang verfolgt – bis hin zur Shoa.« Die Entgegnung lautet in etwa: »Wir haben Euch vor 2000 Jahren nicht vertrieben – das waren die Römer. |176|Aber Ihr habt uns zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht – hier und jetzt! Weil Ihr gelitten habt, stürzt Ihr uns nun ins Elend.«
Einige Israeli führen nun an, was sie aus ihren Geschichtsbüchern gelernt haben: »Das Land war eine kaum besiedelte Wüste, bis jüdische Pioniere sie bewässert haben, erst durch die Juden ist es zu einer Oase geworden.« Das bringt die Palästinenser dann erst richtig in Rage: »Ihr habt laut UN-Angaben 800 000 Palästinenser vertrieben, die sich vorher alle von diesem Land ernährt haben – diese Region war weder eine Wüste noch war sie unbesiedelt.«
 
Bei den Diskussionen, welches der beiden Völker Anspruch auf das Land hat, werden von beiden Seiten auch religiöse Argumente angeführt. Der Krieg im Nahen Osten wird manchmal als Religionskrieg dargestellt, weil im »Heiligen Land« das Judentum, das Christentum und der Islam ihre Wurzeln haben. Die praktische Religionsausübung aber steht dazu in einem gewissen Widerspruch.
Bei über 1000 TeilnehmerInnen aus dem Nahen Osten hat die Religionsausübung während der Freizeiten nur eine untergeordnete Rolle gespielt. In Einzelfällen versuchen wir, alle an uns herangetragenen religiösen Regeln zu respektieren. Das sind bisher ausschließlich Wünsche der jüdischen TeilnehmerInnen gewesen. So versuchen wir, die An- und Abreisetage nicht auf Freitag oder Samstag zu legen. Falls das wegen der Buchung von Flugtickets und Quartieren nicht möglich ist, zahlen wir für Einzelne, die die religiösen Regeln einhalten, den Aufschlag für einen |177|früheren oder späteren Flug. Auch die Ausflüge während der Seminare werden nicht auf Samstage gelegt. Freitag abends gibt es kein Programm, um nach Sonnenuntergang die Zeremonie der Einleitung des Schabat zu ermöglichen. In manchen Gruppen laden die jüdischen TeilnehmerInnen dazu auch die palästinensischen ein, die das Ritual mit Respekt verfolgen.
Die Frauen in der Küche kennen inzwischen die Grundsätze des koscheren Essens und richten sich danach. Für die wenigen Teilnehmer, die die Regeln strenger einhalten, gibt es eine Kochplatte, einen Kühlschrank und spezielle Töpfe, mit denen sie sich das Essen selbst zubereiten.
Unter den 500 moslemischen Teilnehmern war bisher kein einziger, der die Beachtung religiöser Riten angemahnt hätte. Fünf mal am Tag soll ein Moslem beten. Ich habe bei über 500 TeilnehmerInnen aus Palästina, die je 14 Tage in Deutschland waren, keinen einzigen erlebt, der einen Gebetsteppich entrollt und gebetet hätte. Bisher wurde auch in keiner Gruppe zum Freitagsgebet aufgerufen.
In deutschen Zeitungen wurde berichtet, dass es harte Konflikte zwischen christlichen und moslemischen Palästinensern gäbe. Das mag vor Ort so sein. Bei den Freizeiten aber war davon nichts zu spüren und auch auf direkte Nachfrage verneinten die christlichen Palästinenser, dass sie diskriminiert oder angegriffen würden.
 
Im Lauf der Diskussion wird den meisten Teilnehmern klar, dass aus der Geschichte abgeleitete Besitzansprüche manchmal absurde Blüten treiben, oder der »moralische |178|Wettbewerb«, welches Volk mehr gelitten hätte, nicht weiter führt. Bei den Planspielen zu »Friedensverhandlungen« gehen die jungen Leute dann pragmatisch vor, das heißt, die geschichtlichen, religiösen oder ideologischen Begründungen spielen bei den Verteilungsplänen kaum noch eine Rolle.
Es steht außer Frage, dass es sowohl in Israel als auch in Palästina militante religiöse Fanatiker gibt. Auf der einen Seite orthodoxe Juden, die das biblische Palästina erobern und die Araber über den Jordan treiben wollen, auf der anderen Seite gewalttätige Islamisten, die die Juden verjagen wollen. Diese Fanatiker haben auf beiden Seiten Einfluss auf die Politik. Aber die »ganz normalen« jungen Leute, die wir in den Seminaren kennenlernen, sind mehrheitlich nüchtern und pragmatisch. Sie sind kriegsmüde und wollen ein ruhiges, angstfreies Leben führen – genau wie die Kinder in diesem Buch.
 
»Friedensverhandlungen« zwischen den Kriegsparteien
Gegen Ende der Seminare werden » Friedensverhandlungen« zwischen den Konfliktparteien simuliert. Diese Methode wurde in der »Friedensschule« im einzigen arabischjüdischen Dorf in Israel, »Neve Shalom-Wahat al Salam«, entwickelt. Dort gibt es auch Trainingsprogramme für Friedenspädagogen und Mediatoren. Die meisten Mitarbeiter unserer Partnerorganisationen aus Israel und Palästina haben sich dort in Kursen qualifiziert und arbeiten |179|nach diesen Methoden. Bei den simulierten Friedensverhandlungen schlüpfen die TeilnehmerInnen in die Rollen von bestimmten Politikern, um etwa die » Camp-David-Verhandlungen« nachzuspielen und gegebenenfalls weiterzuführen.
Dem Ausblenden und Vertagen der heiklen Streitfragen bei den offiziellen Verhandlungen wohnte bereits deren Scheitern inne. Deshalb stellten die Jugendlichen in allen Gruppen schon seit 2002 die wichtigsten Streitpunkte, das sind der Grenzverlauf, der Status von Jerusalem und die Rückkehr der Flüchtlinge, in den Mittelpunkt ihrer Verhandlungen. Dazu wird der Impuls gegeben:
»Welche Kompromisse sollte Eure Regierung eingehen und welche Opfer wärest Du persönlich bereit, für einen Friedensschluss zu bringen?«
Ein Palästinenser meinte: »Als ich kam, war mir vor allem wichtig, die anderen davon zu überzeugen, dass alle unsere Flüchtlinge dorthin zurückkehren müssen, wo sie ursprünglich herkommen – nach Palästina sowieso, aber auch nach Israel. In den letzten Tagen habe ich eingesehen, dass das nicht so einfach möglich sein wird. Ich habe die Ängste der Israelis verstanden. Jetzt komme ich bald wieder nach Hause. Und dort werde ich einige Wochen sehr viel nachdenken müssen. Ich weiß jetzt, dass auch wir Kompromisse schließen müssen. Es ist sehr hart für uns, aber jetzt habe ich erfahren, dass es auch für die Israelis hart ist.«
In den vergangenen Jahren fanden bei den Seminaren immer wieder simulierte »Friedensverhandlungen« statt. Es |180|war stets sehr beeindruckend, wie selbstverständlich die Jugendlichen mit dem Instrumentarium internationaler Konfliktdiplomatie umgingen, wie klar es für sie war, dass es für den Nahen Osten nur die Lösung zweier gleichberechtigter Staaten geben könne. Verständlich war auch, dass sich die »Verhandlungsdelegationen« genau wie die »richtigen« Diplomaten in den Details demografischer Faktoren, Völkerrechtsfragen bei der Rückkehr der Flüchtlinge beziehungsweise eines Lastenausgleichs bei den Entschädigungsleistungen verstrickten. Die Anlehnung an die »diplomatischen Regeln« bedeutete aber zugleich eine Befangenheit bei der Entwicklung kreativer Lösungsvorschläge.
 
Im Frühjahr 2007 startete US-Außenministerin Condoleezza Rice eine erneute Friedensinitiative, die jedoch von vorneherein zum Scheitern verurteilt zu sein schien, weil die strittigsten Punkte (Grenzverlauf, Status von Jerusalem, Flüchtlingsfrage) wie bei allen vorhergehenden offiziellen Friedensverhandlungen wieder ausgeklammert werden sollten. Die palästinensische Verwaltung drängte dann aber darauf, dass die Verhandlungen mehr sein müssten als ein weiterer »Fototermin« der Staatsmänner.
Deshalb beschlossen wir auf unserem letzten Seminar im Sommer 2007, den simulierten »Friedensverhandlungen« mehr Zeit im Rahmen des Seminarverlaufs zu geben, und die brisanten Probleme ins Zentrum der Verhandlungen zu stellen.
Die »Parteien« im Friedensseminar verhandelten unter sich und mit der Gegenseite. Zum Schluss trugen die Delegierten |181|die Ergebnisse der Öffentlichkeit in einer Pressekonferenz vor. Die möglichen Kompromisse wurden nach langem Ringen und teils harten Auseinandersetzungen recht detailliert ausgearbeitet. Im Ergebnis sind sie zwar ähnlich wie in den Vorjahren, doch der Prozess war weitaus schwieriger. Die inzwischen durch Israel geschaffenen Fakten des Mauerbaus und die Ansiedlung Tausender von Menschen auf palästinensischem Gebiet um Jerusalem herum sind schwer zurückzuschrauben.
 
Das Ergebnisprotokoll einer Gruppe lautete:
Siedlungen: Innerhalb von fünf Jahren müssen alle Siedlungen geräumt werden. Auf Gewalt muss verzichtet werden. Internationale Truppen (wie beispielsweise UNIFIL, das ist die Interimstruppe der Vereinten Nationen im Libanon) sollen den Rückzug bewachen. In den von Siedlern befreiten Gebieten sollen palästinensische und UNIFIL-Sicherheitskräfte stationiert werden. Die Juden haben das Recht, ihre heiligen Stätten zu besuchen. Die palästinensische Polizei garantiert ihre Sicherheit.
Jerusalem: Alle Siedlungen in und um Jerusalem werden evakuiert. Ausgrabungen werden gestoppt. Die Stadt soll offen für alle Völker bleiben. Die Altstadt bleibt von beiden Staaten unabhängig. In welcher Form dies geschehen soll, bleibt noch unklar.
Grenzen: Die seit 1967 andauernde Besetzung soll enden. Einzelheiten blieben jedoch auch hier umstritten. Die israelische Seite bot an, große Siedlungen wie Ariel zu behalten |182|, dafür als Gegenleistung dem Gazastreifen mehr Land zu geben und ihn mit der Westbank durch eine Autobahn zu verbinden. Israel wollte die Überwachung des künftigen Hafens und Flughafens der Palästinenser in den Händen behalten. Die Sicherung der Grenze blieb ebenfalls umstritten. Wenn Israel aber Sicherheitsanlagen für den Schutz seiner Bürger wolle, müsse die Mauer auf ihr Gebiet verschoben werden. Es wurde vereinbart, das palästinensische Pfund wieder als einzige Währung in Palästina einzuführen.
Flüchtlinge: Übereinstimmend wurde festgehalten, dass Israel seine Schuld am Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge anerkennt. Dennoch ist die Rückkehr aller Flüchtlinge zu ihren angestammten Orten im heutigen Israel für die meisten Israelis nicht akzeptabel, weil damit die Existenz Israels bedroht wäre. Sie sollten in dem neuen Staat Palästina eine Heimat finden (zum Beispiel in den geräumten Siedlungen auf der Westbank) oder eine Entschädigung erhalten. Diese Vereinbarung wurde von vielen Palästinensern nicht unterstützt, einige bestanden nach wie vor auf dem uneingeschränkten Recht zur Rückkehr der Flüchtlinge. Alle waren sich aber einig, dass auch dieses Problem mit internationaler Unterstützung gelöst werden könne.
Gefangene: Alle Gefangenen sollten ausschließlich nach internationalem Recht abgeurteilt und vor ein palästinensisches Gericht, bestehend aus Palästinensern, Israelis und Unabhängigen, gestellt werden. Dieses Gericht entscheidet über Schuld oder Unschuld der Gefangenen.
|183|Die TeilnehmerInnen der »Ferien vom Krieg« sind sicher nicht repräsentativ für die herrschende Politik oder die öffentliche Meinung in Israel oder Palästina – ebensowenig, wie es die Kinder und Jugendlichen sind, deren Stimmen in diesem Buch versammelt sind. Sie sind aber auch nicht Mitglieder besonderer Oppositionsgruppen oder Parteien, sondern ganz normale, durchschnittliche Jugendliche und junge Erwachsene. Und sie haben einen ersten Schritt gemacht, indem sie sich auf eine Konfrontation mit dem »Anderen« und den eigenen Vorurteilen eingelassen haben. Sie haben die Bereitschaft gezeigt, in Dialog zu treten und anzuerkennen, dass die Schuldfrage nicht so einfach zu lösen ist, wie ihnen die heimische Propaganda weismachen will. Diese Bereitschaft ist ein Schritt auf dem Weg zur konkreten Utopie einer friedlichen Welt.
Eine junge Frau aus Palästina formulierte es so: »Wir können zusammen leben, sogar unter einem Dach, das ist eine fantastische Erfahrung«.
Diese Erfahrung wünsche ich allen Menschen aus Krisen- und Kriegsgebieten, nicht nur in Israel und Palästina.
Helga Dieter