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Nora, 12
Nora ist Schülerin am
Princess Basma Rehabilitation Centre for Disabled Children. In
dieser Einrichtung werden nicht nur die Behinderungen der Kinder
therapiert, sie gehen dort auch gleichzeitig zur Schule. Sie liegt
oben auf dem Ölberg, einem Berg mit Blick über die Altstadt von
Jerusalem. In den Fluren und Klassenräumen des großen weißen
Betongebäudes können sich die Kinder leicht auf Krücken und mit
Rollstühlen bewegen. Die Kinder helfen einander auf dem Weg durch
die Gänge oder hinaus auf den Schulhof. Sie schieben Rollstühle
oder bieten ihren Mitschülern eine stärkere Schulter zum Aufstützen
an.
Noras Klassenzimmer befindet sich
am Fuß einer langen Rampe, die ins Untergeschoss führt.
Ich bin aus Beit Safafa, das liegt
im Süden von Jerusalem, auf palästinensischem Gebiet. Ich bin eine
Palästinenserin.
Ich habe drei Brüder, aber keine
Schwester. Ich hätte gerne eine Schwester. Manchmal denke ich an
all das, was wir dann machen oder worüber wir reden könnten. Wenn
sie ungefähr so alt wäre wie ich, könnten wir unsere Kleider
tauschen. Dann hätten wir gleich doppelt so viele Sachen.
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|23|Meine Brüder sind nett, aber sie
sind alle jünger als ich und können sehr laut sein. Manchmal ärgern
sie mich. Natürlich ärgere ich sie dann gleich zurück, aber da ich
die Älteste bin, soll ich mich immer gut benehmen. Wenigstens habe
ich mein eigenes Zimmer. Meine Lieblingsfarbe ist Rosa, darum habe
ich viel Rosa in meinem Zimmer.
Ich liebe meine Brüder, aber manchmal
machen sie es mir auch schwer, wie neulich, als ich alleine
einkaufen war. Seit meiner Geburt stimmt etwas nicht mit meinen
Beinen. Ich sitze schon immer im Rollstuhl und komme auch ganz gut
damit zurecht. Die Räder sind wie Beine für mich.
Ich soll nicht alleine rausgehen, weil
meine Mutter glaubt, ich könnte nicht schnell genug abhauen, wenn
die Soldaten kommen. Da, wo ich wohne, gibt es eine Menge Soldaten.
Sie beobachten uns die ganze Zeit. Wir können nichts tun, ohne dass
sie uns dabei beobachten. Sie haben Waffen und machen mir
Albträume. Wir hätten gern, dass sie weggehen, aber sie scheren
sich nicht um das, was wir wollen.
Die Soldaten sind immer in der Gegend,
aber manchmal kommen sie auch in unsere Straße, und dann rennen
alle vor ihnen davon. Wenn sie Lust haben zu schießen, tun sie es
einfach. Es ist ihnen egal, wenn sie ein Kind oder einen älteren
Menschen erschießen.
Meine Mutter hat Angst, dass sie mich
erschießen, weil ich nicht schnell genug verschwinden kann. Ich
glaube ja, ich könnte auch Steine werfen wie die anderen Kinder und
trotzdem schnell abhauen, aber wenn meine Mutter dabei ist, darf
ich keine Steine werfen.
|24|Die
Straßen sind allerdings nicht immer eben. An manchen Stellen, wo
die Armee irgendwas zerbombt hat, sind sie aufgerissen. Da kann ich
dann nicht allein mit meinem Rollstuhl drüberfahren. Jemand muss
mich schieben. Meine Mutter erlaubt mir nicht, alleine rauszugehen,
aber einmal bin ich trotzdem raus, als sie nicht aufgepasst
hat.
Es hat Spaß gemacht, alleine draußen zu
sein. Ich hatte Angst, dass sie mich erwischt, aber es war auch
ganz schön aufregend. Ich habe mich mutig und ängstlich zugleich
gefühlt.
Ich bin zu einem kleinen Laden nicht weit
weg von unserem Haus gefahren und habe Kaugummis gekauft. Meine
Mutter mag es auch nicht, wenn ich Kaugummi kaue, aber ich mag es,
also habe ich welche gekauft.
Ich habe es wieder nach Hause geschafft,
ohne erwischt zu werden. Alles wäre gut gewesen, doch dann habe ich
meinem ältesten Bruder erzählt, was ich gemacht hatte. Ich wollte
wohl ein bisschen angeben. Mein Bruder hält sich ja für so toll.
Ich hätte es mir denken können. Er ist zu meiner Mutter gerannt und
hat mich verpetzt. Und sie hat mich vor ihm ausgeschimpft, von
wegen, sie hätte mich wirklich für klüger gehalten und gedacht, ich
wäre meinen jüngeren Brüdern ein gutes Vorbild. Das fand ich doof,
aber die Kaugummis, die waren toll.
Ich komme fast immer zu spät zur Schule,
aber das hat nichts damit zu tun, dass ich im Rollstuhl sitze. Es
gibt einen Kleinbus, der durch die palästinensischen Städte und
Lager fährt und Kinder wie mich abholt, um sie hierher zur Schule
zu bringen. Eigentlich müssten sie uns durchlassen |25|an den Kontrollpunkten, weil wir eine
Sondererlaubnis haben. Sogar bei einer Ausgangssperre müssten sie
uns eigentlich durchlassen, aber die Soldaten halten uns immer auf.
Obwohl sie uns kennen, obwohl sie jeden Morgen dieselben Gesichter
sehen, fragen sie nach unseren Ausweisen. Sie zählen die Kinder
durch und stellen uns alle möglichen Fragen. Denen ist es egal, ob
wir zu spät zur Schule kommen oder nicht.
Viele Kinder in meiner Klasse kommen zu
spät. Eigentlich soll die Schule um halb neun anfangen, aber die
Kinder trudeln über den ganzen Morgen verteilt ein. Es ist schwer,
richtig aufzupassen, wenn ständig Kinder reinkommen. Die Lehrer
kommen auch oft zu spät.
Wir haben gerade Ramadan, das heißt wir
fasten während des Tages. Nicht alle Palästinenser sind Muslime,
aber meine Familie schon. Am Ende des Ramadan feiern wir dann Eid,
das Fest des Fastenbrechens. Das ist ein wunderschönes Fest, und
ich kann es kaum noch erwarten. Zuerst gehe ich mit meiner Mutter
in die Moschee und wir beten zusammen. Danach besuchen wir
unsereVerwandten.
Meine Großeltern können wir allerdings
nicht besuchen. Die Stadt, in der sie wohnen, liegt im
Westjordanland, und die Israelis lassen uns nicht durch die
Kontrollpunkte. Sie wohnen ganz in der Nähe von uns, nur wenige
Kilometer entfernt, aber genauso gut könnten sie auch ganz, ganz
weit weg wohnen. Das würde mich am meisten glücklich machen, wenn
ich meine Großeltern wiedersehen könnte. Ich habe sie seit über
zwei Jahren nicht gesehen.
Außer Soldaten kenne ich keine Israelis,
und die Soldaten |26|sind alle sehr
böse und sehr streng. Die Kinder sind wahrscheinlich genauso wie
die Erwachsenen. Am Anfang sind sie vielleicht auch so nett wie
ich, aber dann verändern sie sich bestimmt. Sie wollen unser Land,
und das macht sie böse.
Ich weiß, dass es noch andere Kinder auf
der Welt gibt, die viel leiden. Auf sie wird sogar noch mehr
geschossen als auf uns, und sie werden krank und müssen hungern.
Eines Tages möchte ich gern etwas tun, um ihnen zu helfen. Wenn ich
mir was wünschen dürfte, würde ich gerne Ärztin werden und berühmt,
vielleicht als Schriftstellerin. Und ich möchte laufen
können.