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Maryam, 11
Maryam wohnt in Bethanien, nicht weit von Jerusalem entfernt. Ihre Großmutter lebt und arbeitet in Ost-Jerusalem. Maryam besitzt keine Papiere, um durch die Kontrollpunkte zwischen Bethanien und Jerusalem zu kommen, und ihre Großmutter kann diese Kontrollpunkte ebenfalls nicht passieren. Sie können sich nur sehen, wenn sie die Kontrollpunkte und Straßen umgehen und durch die bergige Wüste von der einen Stadt zur anderen zu laufen. Maryam unternimmt diese Reise normalerweise mit ihrer Tante, die ebenfalls nicht die richtigen Papiere besitzt. Sie gehen dabei ein hohes Risiko ein und würden wahrscheinlich verhaftet, wenn die israelische Armee sie erwischen würde.
 
Ich lebe in einer Stadt, die Bethanien heißt und außerhalb von Jerusalem liegt. Eigentlich dürfte ich gar nicht hier in Jerusalem sein. Ich habe nicht die richtigen Papiere, aber meine Tante Talal und ich laufen abseits der Kontrollpunkte über die Berge. Meine Tante ist 18 und sehr mutig. Wir haben uns an den Soldaten vorbeigeschlichen. Das hat Spaß gemacht, aber es ist auch gruselig, weil es sehr gefährlich ist. Wenn die Soldaten uns schnappen, dann verhaften sie uns und behandeln uns ganz schlecht, aber zuerst |87| müssen sie uns mal kriegen! Ich kann Soldaten nicht leiden!
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Wir sind heute hierher gelaufen, damit ich meine Großmutter besuchen kann. Sie leitet eine Jugendherberge in Jerusalem. Menschen aus der ganzen Welt kommen zum Übernachten hierher. Manchmal setzen sie sich zu mir und erzählen mir was und teilen ihr Essen mit mir. Das gefällt mir. Ich würde auch gern verreisen.
Bethanien ist eine schöne alte Stadt. Sie liegt auf palästinensischem Gebiet und hat viele Geschäfte, Kirchen und Moscheen. Die Straßen sind breit, und es stehen viele Häuser dort. Es gibt sehr, sehr viele israelische Soldaten in meiner Stadt. Sie laufen auf den Gehsteigen herum oder fahren mit Jeeps und Lastwagen und Panzern durch die Straßen. Wir sollen glauben, es wäre ihre Stadt und nicht unsere. Das ist sehr schlimm. In unserer eigenen Heimat können wir uns nicht zu Hause fühlen. Sie tun so, als wäre es ihre Heimat.
Auch vor meiner Schule stehen viele Soldaten. Sie sind immer da, immer. Sie beobachten mich jedes Mal, wenn ich mit meinen Freundinnen oder Lehrern rausgehe. Ich spüre, dass sie mich beobachten, und mir wäre lieber, sie würden weggucken. Ich tue nichts Böses, und ich mag es nicht, wenn ich beobachtet werde. Sie halten mich auch auf der Straße an und stellen mir Fragen. Dann starren sie mich an und sagen fiese, gemeine Sachen zu mir und meinen Freundinnen. Zu meiner Tante sind sie unhöflich, sie sagen Dinge, die Männer zu einer Frau nicht sagen sollten. Ich spreche nicht gern mit ihnen, aber ich kann ihnen nicht |88|ausweichen. Wenn sie mir eine Frage stellen und ich nicht antworte, erschießen sie mich womöglich.
Ich sehe die schlimmen Sachen, die sie machen, und im Fernsehen zeigen sie noch viel Schlimmeres. Sie fliegen mit Hubschraubern über meine Stadt und schießen auf die Menschen. Sie wollen, dass wir uns schämen, Palästinenser zu sein, aber ich schäme mich nicht. Ich bin stolz darauf. Früher habe ich geweint, wenn ich Soldaten sah, aber jetzt nicht mehr. Sie jagen mir immer noch Angst ein, aber ich möchte es ihnen nicht zeigen. Ich glaube, ich bin eher wütend als ängstlich. Ich würde die Soldaten gerne umbringen, aber das kann ich nicht, weil ich keine Waffen habe.
Einer meiner Cousins sitzt in einem israelischen Gefängnis. Er ist 20 Jahre alt. Er ist seit acht Monaten in Haft und muss noch zwei Jahre dort bleiben. Er war auf dem College, als sie ihn verhaftet haben. Er will Buchhalter werden, das würde ich nicht sein wollen. Er hat nichts Böses getan, aber die Israelis haben ihn trotzdem verhaftet. Er war Mitglied in einer palästinensischen Organisation, und das gefiel den Israelis nicht. Seine Mutter durfte ihn im Gefängnis besuchen. Es ist schlimm, wenn man im Gefängnis sitzt und niemand kommt zu Besuch.
Ich schlafe in der Schule, auf die ich gehe. Ich wohne dort. Meine Mutter ist gestorben, als ich fünf war. Sie ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Da war sie 39. Meine Tante ist lieb zu mir, genau wie meine Großmutter, aber ich vermisse meine Mutter trotzdem. Ich werde sie immer vermissen. Sie hat mir gern was vorgesungen.
In meiner Schule sind auch noch andere Mädchen, die |89|ihre Mutter verloren haben oder sogar beide Eltern. Wir schlafen alle im selben Raum. Ich habe eine beste Freundin dort, die sehr nett zu mir ist. Ich versuche, auch nett zu ihr zu sein. Meine Lieblingsgeschichte ist Die Schöne und das Biest. Am besten gefällt mir darin die Figur der Schönen. Ich spiele auch gern an meinem Computer, Solitär zum Beispiel. Die meisten Schultage sind immer gleich. Wir stehen um sieben auf und erledigen kleine Aufgaben, wir machen das Schlafzimmer sauber und kehren die Flure. Danach frühstücken wir, und dann gehen wir zur Schule. Mein Lieblingsfach ist Religion, weil es einfach ist und ich dort viel darüber lerne, wie man sich richtig verhalten soll.
Meine Schule ist nicht schlecht, aber trotzdem fühle ich mich dort manchmal einsam. Das Schlimmste ist dieses Essen mit Tomaten und Gemüse, das wir manchmal kriegen. Das kann ich nicht ausstehen. Am liebsten esse ich Maklouba, das ist Hühnchen mit Reis, aber das gibt es nicht besonders oft.
Wenn eine Ausgangssperre verhängt wird, schließt alles. Alle Geschäfte müssen zumachen, und jeder muss zu Hause bleiben. Man darf nicht mal aus dem Fenster sehen, sonst schießen die Soldaten auf einen. Das ist so, als wäre die ganze Stadt im Gefängnis, nur dass die Häuser die Gefängnisse sind. Die Soldaten erklären uns nie, warum sie uns zwingen, drinnen zu bleiben. Sie sagen uns einfach, wir sollen reingehen und da bleiben.
Meine Tante sagt, die Zeit, die wir drinnen verbringen müssen, ist verschwendete Zeit. Für mich ist sie nicht so direkt verschwendet, weil ich da wohne, wo ich zur Schule |90|gehe. Manche Kinder aus meiner Schule wohnen allerdings bei ihren Eltern und müssen dann auch dort bleiben, wenn Ausgangssperre ist, und verpassen die Schule. Auch viele Lehrer können während der Ausgangssperre nicht kommen, und es ist ein bisschen wie Ferien für uns. Aber irgendwann wird das langweilig. Es wäre mehr wie Ferien, wenn wir rausgehen und was unternehmen könnten.
Die Lehrer an meiner Schule sind sehr streng. Wenn eine Ausgangssperre verhängt wurde und sie nicht nach Hause können, bekommen sie schlechte Laune. Ich werde oft bestraft, weil ich zu laut bin. Dann schlagen sie mir auf die Hand und lassen mich in der Ecke stehen. Wenn ich groß bin, möchte ich Ärztin werden, aber zuerst muss ich die Schule fertig machen. Das dauert noch ganz schön lange.
Meine Tante sagt, wir sollen es uns nicht gefallen lassen, wenn die Jungs behaupten, wir könnten manches nicht, bloß weil wir Mädchen sind. Sie sagt, dass palästinensische Frauen und Mädchen stark und mutig sind und dass wir genauso gut gegen die Israelis kämpfen können wie die Jungs. Ich finde, sie hat recht. Sie ist eine starke Frau, und ich will genauso werden wie sie.
Es gibt jetzt auch Frauen, die Selbstmordattentate begehen und zu Märtyrerinnen werden. Sie sind sehr mutig. Für ihre Familien muss das allerdings sehr schwierig sein.
Ich habe nur einen Wunsch. Ich würde gern in den Himmel kommen. Vielleicht gibt es im Himmel Glück und Zufriedenheit, wenn wir gestorben sind. Vielleicht wenigstens dann.