|112|
Wafa, 12
Als Abschreckungsmaßnahme
gegen ihre Gegner lässt die israelische Regierung die Häuser
militanter Palästinenser einreißen. Auch um Platz für die neue
Sperranlage und für die Erweiterung der Siedlungen zu schaffen,
wurden palästinensische Häuser abgerissen. Mit Planierraupen und
durch Sprengungen werden sie dem Erdboden gleichgemacht.
Nach Angaben des Hilfswerks der
Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten
(UNRWA) führt die
Armee diese Abrissaktionen häufig spätabends und ohne längere
Vorwarnung oder gänzlich ohne Vorankündigung durch. Panzer,
Mannschaftswagen und Hubschrauber geben den Planierraupen dabei
Feuerschutz.
Zwischen September 2000 und Mai
2003 wurden 12 000 Palästinenser durch den Abriss ihrer Häuser
obdachlos. Seit 1967 sind mehr als 8 000 Häuser auf
palästinensischem Territorium gezielt zerstört worden.
Wafa ist ein zwölfjähriges
Mädchen, das viele Male mit ansehen musste, wie die Armee ihr
Elternhaus zerstörte. Ihr Vater ist ein palästinensischer Aktivist,
der sich gewaltfrei Seite an Seite mit Israelis im Israelischen
Komitee gegen Häuserzerstörung (ICAHD) engagiert. Israelische
Freiwillige helfen der Familie jedes Mal, wenn die Armee ihr Haus
niedergerissen hat.
|113|Ich
war acht Jahre alt, als unser Haus zum ersten Mal abgerissen wurde.
Es war Abend. Ich war mit meiner Familie im Wohnzimmer. Dann schlug
jemand gegen die Tür. Mein Vater machte auf. Draußen standen
Soldaten, die sagten: »Das ist nicht mehr euer Haus. Das gehört
jetzt uns.« Mein Vater antwortete: »Irrtum. Das ist immer noch mein
Haus, und ich werde es euch nicht überlassen.« Er versuchte, die
Soldaten wieder rauszudrängen, aber es waren zu viele. Sie schlugen
meinem Vater ihre Gewehre auf den Kopf. Als er hinfiel, traten sie
ihn, zerrten ihn aus dem Haus und verhafteten ihn. Meine Mutter
schrie und wollte zu ihm. Sie hämmerte mit ihren Fäusten auf die
Soldaten ein. Sie haben sie auch geschlagen, ganz fest, so fest,
dass sie ins Krankenhaus musste.
Dann fingen die Soldaten an, Sachen
kaputt zu machen. Sie warfen Tränengasgranaten ins Haus. Meine
Geschwister und ich bekamen keine Luft mehr und mussten in die
Nacht hinauslaufen. Die Soldaten trugen Gasmasken. Wir konnten ihre
Gesichter nicht erkennen. Sie sahen aus wie Monster. Die Soldaten
feuern das Tränengas aus einer Art Pistole ab, und es verwandelt
die Luft in Gift. Dann bekomme ich keine Luft mehr, meine Augen
tränen, und mein Gesicht wird total heiß.
Die Soldaten zerrten alle aus dem Haus.
Ich sah, wie ein Soldat meine kleine Schwester trat, die gestolpert
und hingefallen war. Er schrie sie an, sie sollte aufstehen, sonst
würde die Planierraupe über sie drüberfahren und sie zerquetschen.
Ich wollte zu ihr, aber ein Soldat schlug mich mit seiner M16 und
drückte mich auf den Boden. Alle sind |114|noch rechtzeitig rausgekommen. Ich stand da
und sah, wie die riesige Planierraupe in unser Haus fuhr und es
einriss. Auch alles, was drinnen war, wurde zerstört.
Mein Vater hat viele israelische Freunde.
Er rief sie an, und viele Israelis kamen, um uns dabei zu helfen,
unser Haus wieder aufzubauen. Bevor sie kamen, dachte ich, alle
Israelis wären unsere Feinde. Aber als uns so viele von ihnen
halfen, musste ich meine Meinung ändern. Die Soldaten sind nicht so
gemein zu uns, weil sie Israelis sind. Sie sind so gemein, weil das
ihr Job ist und es ihnen Spaß macht.
Ich habe in der Schule ein bisschen was
darüber gelernt, wie die Israelis im Zweiten Weltkrieg in
Deutschland behandelt wurden. Die Deutschen haben sie umgebracht
und ihre Leichen in Öfen gesteckt. Ich glaube, die Israelis lassen
jetzt ihre Wut auf die Deutschen an den Palästinensern aus.
Irgendwie kann ich das ja verstehen, aber das heißt nicht, dass es
richtig ist. Wenn ich wütend auf meinen Vater bin, kann ich nicht
meinen Bruder schlagen, nur damit ich mich besser fühle. Ich weiß
auch nicht, was die richtige Lösung ist; die Israelis können den
Deutschen ja jetzt schlecht den Krieg erklären. Ich habe keine
Ahnung, wie das wieder gutgemacht werden könnte. Vielleicht geht
das gar nicht.
Ich habe schöne Erinnerungen an unser
erstes Haus. In meinem Zimmer waren Betten und Bücherregale,
Spielzeug, Puppen, Puzzles, Spiele – alles, was Kinder
normalerweise so haben. Inzwischen kann ich damit nichts mehr
anfangen. Ich bin kein Kind mehr, auch wenn ich immer noch gern
Verstecken mit meinen Freundinnen spiele. Mein Lieblingsfach in der
Schule ist Englisch.
|115|Wir
haben unser Haus mit Hilfe unserer israelischen und
palästinensischen Freunde wieder aufgebaut. Aber als es gerade
fertig war, kamen die Planierraupen zurück und haben es noch mal
zerstört. Hunderte von Freiwilligen kamen, um es ein drittes Mal
aufzubauen. Und wieder haben die Soldaten gewartet, bis das Haus
fertig war und wir gerade einziehen wollten. Ich war schon ganz
aufgeregt, nach so langer Zeit endlich wieder in unserem richtigen
Haus wohnen zu können, aber sie haben es noch mal eingerissen. Es
liegt noch immer in Trümmern. In ein paar Wochen kommen die
nächsten Freiwilligen. Wir werden das Haus so lange immer wieder
aufbauen, bis die Israelis keine Lust mehr haben, es kaputt zu
machen, und sich irgendeine andere Beschäftigung suchen.
Ich sehe andauernd Soldaten. Sie sind
überall. Sie machen mir Angst, weil ich nicht weiß, was sie mir
antun und wann sie es tun. Sie verhängen Ausgangssperren über
unsere Stadt. Sie verhindern, dass ich ganz normal aufwachsen
kann.
Bei Ausgangssperre muss man drinnen
bleiben. Wenn man rausgeht, töten sie einen. Sogar Frauen. Und
Kinder. Die Israelis erschießen jeden. Es ist ihnen ganz egal, ob
man etwas Schlimmes tut oder nicht. Sie erschießen einen sogar,
wenn man aus dem Fenster guckt. Also müssen wir drinnen bleiben und
die Fensterläden geschlossen halten, so dass kein Sonnenlicht
reinkommt.
Manchmal lerne ich. Manchmal lese ich
oder sehe fern oder spiele mit meinen Geschwistern. Wir streiten
uns viel, wenn Ausgangssperre ist. Dann hocken wir in der Wohnung
|116|und langweilen uns und gehen
uns gegenseitig auf die Nerven, also streiten wir uns.
Die Soldaten setzen viele verschiedene
Waffen gegen uns ein. Manchmal kommen sie mit Hubschraubern. Dann
hört man den Lärm, den sie machen, vor allem wenn sie niedrig
fliegen, um uns Angst einzujagen. Sie haben Gas und Gewehre und
Panzer, und eine Art Bombe, die macht, dass die Leute hinfallen.
Bei meiner Freundin haben sie mal so eine Bombe ins Haus
geworfen.
Ich weiß eine ganze Menge über die Kinder
in anderen Ländern. Die Kinder im Irak sind genau wie ich. Sie
haben Angst vor Bomben und Angriffen. Dort geht es allen Kindern so
wie mir. Die Kinder in Europa und Amerika leben in guten
Verhältnissen. Sie haben Spaß, gehen zur Schule und wissen gar
nicht, was eine Ausgangssperre ist. Aber wir Kinder in Palästina
und im Irak haben immer Angst.
Am meisten hasse ich die Israelis. Nicht
die, die versuchen, mit den Palästinensern befreundet zu sein, aber
die, die es darauf anlegen, uns wehzutun. Irgendwann werde ich
diesen Hass in Taten umwandeln. Dann kämpfe ich mit Waffen gegen
die Israelis. Palästinensische Frauen und Kinder sind sehr gute
Kämpferinnen.
Ich hasse es, durch die Kontrollpunkte zu
gehen. Die israelischen Soldaten behandeln uns wie Hunde. Sie
lassen uns ohne Grund rumstehen und warten, nur weil sie die Macht
dazu haben. Sie reden nicht mit uns. Sie ignorieren uns einfach, so
als würden wir nicht existieren, als wären wir nicht mal Menschen.
Dann rufen sie: »Weiter!« Sie kommandieren uns herum, als wären wir
Hunde! »Weiter!«|119| »Halt!« Sie
möchten, dass wir uns fühlen wie unter Belagerung, weil wir nicht
rauskönnen. Sie zwingen uns dazu, endlos zu warten, so lange, dass
ich schon nirgendwo mehr hinwill, wenn wir weitergehen
sollen.
|117|

|119|
Ich würde gerne einen Israeli umbringen;
dann würde ich mich stark fühlen. Ich bin es leid, dass sie mir
ständig das Gefühl geben, ich sei klein und schwach. Ich möchte
stark sein und stolz.
Die Israelis werden uns nie in Ruhe
lassen. Wir werden hier nie Frieden bekommen, bis wir gute Anführer
haben, vor allem gute israelische Anführer, nicht solche wie jetzt.
Bessere. Welche, die uns nicht hassen.
Meiner Mutter geht es schon lange nicht
gut. Sie hat aufgehört zu sprechen. Sie war jedes Mal, wenn unser
Haus zerstört wurde, sehr, sehr traurig, bis sie dann irgendwann zu
traurig war, um zu reden. Ich vermisse ihre Stimme, sogar mehr, als
ich unser Haus vermisse. Ich möchte so sehr, dass sie mit mir
spricht, dass sie irgendetwas sagt, und wenn sie mir nur sagt, was
ich machen soll. Aber sie kann nicht. Inzwischen geht es ihr ein
bisschen besser, und dafür bin ich sehr dankbar. Aber ich habe
Angst, dass sie wieder richtig krank wird.
Ich wünsche mir, dass alle Israelis, die
versuchen, uns unser Land wegzunehmen, sterben. Ich möchte einen
guten Schulabschluss machen. Denn das macht den Israelis Angst. Sie
möchten nicht, dass wir was lernen, und schließen oft unsere
Schulen. Außerdem möchte ich ein Haus bauen, das die Soldaten nicht
zerstören können, und mit meiner Familie darin wohnen.