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Merav, 13
Siedlungen sind
israelische Gemeinden auf palästinensischem Gebiet, das nach dem
Sechs-Tage-Krieg 1967 von der israelischen Armee besetzt wurde. Den
Anfang machten Menschen, die dieses Gebiet für Israel beanspruchen
wollten, obwohl es nach internationalem Recht den Palästinensern
gehört. Die in diesen Siedlungen lebenden Menschen bekommen von der
Regierung Steuervergünstigungen und Unterstützung beim Wohnungsbau
und bei den Schulgebühren. Die Siedlungen werden von der Armee
sowie von den Siedlern selbst bewacht; viele von ihnen tragen zu
ihrem Schutz Waffen bei sich.
Inzwischen gibt es mehr als 200
Siedlungen im Westjordanland, dem Gazastreifen und Groß-Jerusalem.
Viele dieser Siedlungen bestanden anfangs aus kleinen Ansammlungen
von Wohnwagen und notdürftigen Unterkünften, wurden jedoch von der
Regierung und den dort lebenden Menschen immer weiter ausgebaut.
Heute sehen sie mit ihren modernen Häusern, Schulen, Parks und
Geschäften wie schöne Städte aus. Mehr als 400 000 Israelis leben
inzwischen in solchen Siedlungen.
Zubringerstraßen verbinden die
Siedlungen untereinander und häufig auch mit Jerusalem und anderen
größeren Städten. Diese Straßen dürfen nur von Israelis befahren
werden. Zum |79|Schutz vor
Steinewerfern und Heckenschützen sind sie häufig von hohen Wänden
umgeben. Da die Straßen, ebenso wie die Siedlungen, auf
palästinensischem Gebiet liegen, herrscht über ihren Bau großer
Unmut bei den Palästinensern.
Die Siedler erheben außerdem
Anspruch auf die Wasservorräte in der Region. Der Großteil des
verfügbaren Wassers wird zu den Siedlungen umgeleitet. Ein Israeli
verbraucht so viel Wasser wie vier Palästinenser.
Auch im Lebensstil gibt es
Unterschiede. Da die Palästinenser in kleinen abgegrenzten Gebieten
eingesperrt sind und die meisten von ihnen nicht durch die
Kontrollpunkte gelassen werden, hat die palästinensische Wirtschaft
Schaden genommen. Den Israelis, die sich freier bewegen können,
geht es dagegen wirtschaftlich besser. Viele in Armut lebende
Palästinenser sehen von ihren Fenstern aus wohlhabende Siedlungen
mit Swimmingpools und anderen Annehmlichkeiten, was ihren Groll auf
die Israelis noch verstärkt. Manchmal werden die Siedlungen
angegriffen und Siedler getötet. Und manchmal sind Palästinenser
das Ziel von Siedler-Angriffen.
Um das Westjordanland wird eine
neue Sperranlage gebaut, die an manchen Stellen aus einer acht
Meter hohen Betonmauer besteht und an anderen aus Elektrozaun.
Diese Anlage wird sich am Ende über 750 Kilometer erstrecken. Sie
windet sich um die Siedlungen und zergliedert das
Palästinensergebiet noch weiter in kleine Einheiten, die die
Palästinenser nicht ungehindert verlassen dürfen. Alle 300 Meter
gibt es Wachtürme, mit jeweils einem tiefen Graben drum herum,
einem Patrouillenweg und Bewegungsmeldern. Ein großer Teil der
Sperranlage wird auf palästinensischem Land errichtet. Olivenhaine,
|80|Gärten mit Zitronenbäumen und
von Bauern bewirtschaftetes Land wurden platt gewalzt, um Platz
dafür zu schaffen.
Viele Israelis glauben, diese
Mauer sei notwendig zum Schutz vor den Palästinensern. Andere sind
der Ansicht, sie verschlimmere die Situation nur. Auch über die
Siedlungen sind die Menschen in Israel geteilter Meinung. Manche
vertreten die Auffassung, dass sie zu einer Verschärfung des
Konflikts beitragen, und es gibt viele Aufrufe, die Siedlungen
aufzulösen. Eine Vielzahl von Soldaten ist ständig damit
beschäftigt, die Siedler zu schützen, und die Anwesenheit von
Soldaten auf palästinensischem Gebiet führt dazu, dass die
Palästinenser sich zur Wehr setzen, was die Soldaten wiederum dazu
veranlasst, gegen die Palästinenser vorzugehen und immer so
weiter.
Es gibt auch andere Stimmen in
Israel, die die Siedlungen wichtig für Israels Sicherheit finden.
Sie betrachten die Siedler als mutige Pioniere, die enorme Opfer in
Kauf nehmen, um inmitten einer feindlichen Umgebung zu leben und
ihre Kinder großzuziehen.
Merav lebt in einer Siedlung in
der Nähe von Efrat.
Efrat liegt zwischen Jerusalem und
Hebron. Es ist eine hübsche Stadt mit Einkaufszentren, Pizzerien,
Spielplätzen und Parks – allem, was man so braucht. Außerdem ist es
sehr schön, in dieser Stadt zu leben, weil sie im Judäischen
Bergland liegt. Ich wohne sehr gern hier. Die Menschen sind aus
vielen verschiedenen Ländern hierher gezogen, aus den Vereinigten
Staaten, Kanada, England, Russland und Südafrika.
Meine Familie und ich sind heute zu einem
Chanukkafest |81|nach Hebron
gekommen. Chanukka ist ein sehr fröhliches Fest. Es erinnert an ein
lange zurückliegendes Ereignis, als die Griechen einen jüdischen
Tempel erobert haben. Sie vernichteten dabei das ganze geweihte Öl
für die Lampen. Als die Juden den Tempel zurückeroberten, fanden
sie nur noch eine Flasche Öl, die nicht kaputt war. Es reichte
gerade so aus, um die Lampen einen Tag lang brennen zu lassen, aber
durch ein Wunder brannten sie dann acht Tage lang! Also feiern wir
dieses Wunder, indem wir die Kerzen der Menora anzünden, es gibt
besonderes Essen wie Latkes – das sind so kleine Kartoffelpuffer.
Wir essen und feiern und bekommen Geschenke.
Nachts stellen wir die brennende Menora
in Eingänge und Fenster. Die Lichter sehen sehr schön aus. Sie
sollen uns daran erinnern, dass Gott immer bei uns ist, auch wenn
wir Angst haben und uns allein fühlen. Gott bedeutet, dass ich
versuchen muss, als Mensch so gut zu sein, wie es nur geht. Ich
muss einem sehr hohen Anspruch genügen.
Heute versammeln sich hier viele Menschen
aus der Gegend um Jerusalem. Sie kommen mit Bussen, um mit uns
Chanukka zu feiern und uns zu unterstützen. Mit »uns« meine ich die
Siedler. Sie finden es mutig von uns, in den Siedlungen zu
leben.
Sie veranstalten ein Fest für die Kinder,
mit einem Clown und Geschenken, um uns für eine kurze Zeit vom
Krieg abzulenken. Aber ich denke sowieso nicht ständig an den
Krieg. Ich denke an ganz andere Sachen, zum Beispiel an die Schule
oder an meine Freundinnen.
In unserer Siedlung sind viele Soldaten.
Ich bin immer |82|stolz, wenn ich
sie sehe. Sie sind sehr mutig. Sie beschützen mich und meine
Familie, und ich bin froh, dass sie da sind. Denn es ist sehr
gefährlich, da zu wohnen, wo wir wohnen. Überall um uns herum sind
Palästinenser, und die sind unsere Feinde. Wir Kinder werden
dauernd ermahnt, vorsichtig zu sein und nicht allein herumzulaufen.
Um die palästinensischen Orte wird gerade eine hohe Mauer gebaut,
die helfen soll, uns zu schützen.
Wenn man alleine herumläuft, sieht einen
vielleicht ein bewaffneter Palästinenser und erschießt einen. Sie
warten nur darauf, Leute zu erwischen, die unvorsichtig sind oder
abgelenkt und gerade mal nicht Acht geben. Entspannen kann man sich
nur, wenn jemand auf einen aufpasst.
Die Palästinenser haben bereits Leute aus
Efrat umgebracht. Zwei Frauen wurden ermordet, als sie auf dem Weg
nach Jerusalem waren. Andere wurden getötet oder beschossen. Es gab
hier auch einen Selbstmordattentäter, der versucht hat, Sanitäter
umzubringen.
Die Eltern der meisten Freundinnen von
mir fahren Autos mit Fenstern aus Spezialglas, um sich vor Steinen
zu schützen. Die Palästinenser bewerfen israelische Autos mit
Steinen. Die Busse haben Panzerglas, an dem die Kugeln einfach
abprallen, wenn wir während der Fahrt beschossen werden.
Aber ich denke nicht gern an den Krieg.
Es gibt so viel anderes, worüber man nachdenken kann.
Ich bin gern mit meinen Freundinnen
zusammen. Wir gehören zur Jugendbewegung und unternehmen viel
zusammen, Ausflüge und so was. Wir reisen viel durch Israel.
|83|Manche der Orte, die wir
besuchen, sind sehr alt und historisch wichtig. An andere fahren
wir eher zum Vergnügen. Wir hängen auch gern zusammen rum und
reden. Manchmal diskutieren wir auch über Weltprobleme. Aber
normalerweise über Dinge, die nicht so ernst sind, einfach nur zum
Spaß.
Letztes Jahr habe ich Bat Mizwa gefeiert.
Das ist eine Zeremonie für Mädchen, die bedeutet, dass wir keine
Kinder mehr sind. Die Zeremonie fand in unserer Synagoge statt. Das
heißt, dass ich jetzt mehr Verantwortung trage, wie eine Erwachsene
und nicht mehr wie ein Kind. Es bedeutet, dass ich jetzt mehr ins
Leben einbezogen bin.
Ich habe nicht vor, zur Armee zu gehen,
wenn ich älter bin. Das tun zwar viele Mädchen, und ich bin auch
nicht gegen die Armee, aber ich werde stattdessen Zivildienst
machen, vielleicht in einem Krankenhaus.
Ich kenne keine palästinensischen Kinder.
Sie sind überall draußen um meine Siedlung, aber ich kenne keins
von ihnen. Es gibt für mich keinen Grund, mit ihnen
zusammenzukommen. Sie sind gefährlich und erschießen mich, wenn sie
die Gelegenheit dazu haben. Die israelische Armee hält sie von uns
fern. Meine Freunde, meine Familie und ich leben mitten im Krieg.
Es ist unheimlich, von Leuten umgeben zu sein, die uns umbringen
wollen, aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.