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Talia, 16
Zu Anfang, als der Staat
Israel gegründet wurde, lebten viele Menschen in Kibbuzim –
gemeinschaftlich verwalteten Siedlungen. Die Menschen in einem
Kibbuz hatten gemeinsamen Grundbesitz und trugen durch ihre Arbeit
zum Wohl der Gemeinschaft und zum Wohl Israels bei. Das war eine
Möglichkeit, Israel aufzubauen, und zugleich Ausdruck dafür, dass
die Interessen des Landes und der Gemeinschaft Vorrang haben.
Israelische Jugendliche werden
noch immer dazu erzogen, sich dem Staat Israel und dem jüdischen
Gemeinwesen stark verpflichtet zu fühlen. Die Mitgliedschaft in
Jugendgruppen, religiösen wie weltlichen, wird gefördert, damit die
jungen Leute sich als Teil einer größeren Gemeinschaft empfinden.
Diese Jugendgruppen legen besonderen Wert auf den Dienst am
Nächsten, auf die Vermittlung von Fertigkeiten, auf Erholung und
darauf, dass ihre Mitglieder einen Sinn für die Geschichte
entwickeln.
Talia wohnt in der Nähe von Emek
Refain, einer Straße mit vielen Boutiquen, Kaffeehäusern und
kleinen Geschäften in West-Jerusalem. West-Jerusalem liegt auf
israelischem Gebiet. Es ist eine sehr neue, moderne Stadt, die sich
westlich der Altstadt erstreckt. Dort gibt es schöne Häuser, Parks
und von Bäumen gesäumte Straßen.
|28|Ich
gehe in die elfte Klasse. Mein bestes Fach ist hebräische
Literatur. Ich bin eine gute Schülerin. Auch meine Freundinnen
nehmen die Schule ernst. Am liebsten sitze ich mit ihnen im Café,
aber im Krieg ist das nicht so einfach. Wir können nicht in die
Innenstadt oder in ein Einkaufszentrum gehen, weil wir Angst davor
haben, was alles passieren könnte. Man kann in einem Café sitzen
und sich ganz normal unterhalten und mitten im Gespräch in die Luft
gesprengt werden. Meine Mutter macht sich viele Sorgen. Bomben
explodieren dann, wenn niemand es erwartet.
Ich kenne ein Mädchen, dessen Schwester
getötet wurde, als sie Bücher für die Schule kaufen wollte. Sie war
erst 16, genauso alt wie ich jetzt. Das war vor ein paar Jahren. Es
kann uns überall und jederzeit erwischen. Ganz gleich, ob wir
bereit sind oder nicht.
Jüdisch zu sein ist nicht ungefährlich
hier, aber es war noch nie irgendwo ungefährlich, Jude zu sein.
Wenigstens können wir uns hier schützen, weil dies unser Land
ist.
Ich war vor kurzem mit den Pfadfindern in
Polen. Wir hatten uns zwei Monate lang auf diese Reise vorbereitet,
durch Seminare, Vorträge, Projekttage und Diskussionen. Wir haben
gelernt, welche Länder am Zweiten Weltkrieg beteiligt waren, worum
es dabei ging und all das, und wir haben gelernt, was mit den Juden
passiert ist.
Wir hatten schon Exkursionen zur
Holocaust-Gedenkstätte Jad Vashem unternommen, doch auf unserer
Polen-Reise sollten wir mit eigenen Augen sehen, was den Juden
während des Krieges angetan wurde. Viele Menschen hier |29|in Israel haben Verwandte, die von den Nazis
ermordet wurden. Viele der älteren Bürger Israels haben
eintätowierte Nummern auf den Armen, an denen man sieht, dass sie
im Konzentrationslager waren. Unsere Reise sollte uns die Orte
zeigen, an denen diese schrecklichen Dinge passiert sind, damit wir
uns und unser Volk besser verstehen.
Wir sind durch ganz Polen gereist. Wir
waren in Warschau und haben gesehen, wo früher die Ghettos standen.
Dort kämpften Juden gegen die Nazis, bis die Nazis viele von ihnen
töteten und den Rest in die Konzentrationslager brachten.
Wir haben auch Auschwitz besucht. Das war
einer der Orte, wo Juden hingebracht wurden, um sie umzubringen.
Wir haben die Haare gesehen, die diesen Juden abgeschnitten wurden,
und die Schuhe, die man ihnen abgenommen hat. Wir haben die
Gaskammern gesehen, in denen sie umgebracht wurden. Das waren große
Duschräume. Man zwang sie hineinzugehen, ganz viele auf einmal,
Männer, Frauen und Kinder zusammen, alle nackt, so als würden sie
duschen gehen. Aber aus den Duschköpfen kam Gas statt Wasser und
tötete jeden im Raum. Wir sahen Haarbürsten, Handspiegel, Schmuck,
Brillen, Koffer, Bücher, Menora, das sind siebenarmige Leuchter, –
Gegenstände, die ihren Familien etwas bedeutet haben. All diese
Sachen wurden ihnen sofort weggenommen, als sie ins Lager
kamen.
Wenn man das Lager Auschwitz betritt,
kann man sich in einen Juden von vor 60 Jahren hineinversetzen, der
dort ankommt. Man kann sich vorstellen, wie die Polizeihunde bellen
und deutsche Soldaten einen mit ihren Gewehren |30|schlagen und alle Angst haben und weinen. Es
hat geschneit, als wir dort waren. Wir hatten mehrere Schichten
Kleider übereinander, so dass wir nicht gefroren haben. Die Juden,
die damals dort gefangen gehalten wurden, hatten weder warme
Kleider noch Stiefel, keine Decken und nicht genug zu essen.
Der größte Teil des Lagers ist noch
erhalten – die Baracken, in denen die Gefangenen zusammengepfercht
waren, die Wachtürme, die anderen Gebäude. Während ich dort war,
versuchte ich mir vorzustellen, was sie damals empfunden haben,
aber das gelang mir natürlich nicht.
Es war ein unglaubliches Gefühl, mit der
israelischen Flagge dort herumzulaufen. Die Nazis haben versucht,
uns zu vernichten, aber wir haben überlebt und haben jetzt unser
eigenes Land und unsere eigene Fahne. Wir sind noch da, aber die
Nazis nicht. Wir haben an jedem Ort eine kurze Feier abgehalten und
die israelische Nationalhymne gesungen. Ich stelle mir gerne vor,
dass die Geister der Menschen, die dort ermordet wurden, uns hören
konnten und dass ihnen das ein bisschen Frieden gebracht hat.
Wir alle sind in dem Glauben dort
hingereist, dass wir danach alles verstehen würden, verstehen, wie
so etwas geschehen konnte. Aber es ist unfassbar. Ich weiß nicht,
ob es überhaupt jemals jemand begreifen kann. Es hilft, dort
gewesen zu sein, sich die Orte vor Augen rufen zu können und sich
ein wenig genauer vorstellen zu können, was diese Menschen
durchgemacht haben. Es zeigt, dass wir auf uns aufpassen müssen,
dass wir unsere Sicherheit sehr ernst nehmen müssen.
|31|In
meinem Viertel gibt es viele Gedenkstätten für Menschen, die von
den Palästinensern umgebracht wurden. Kleine Parks oder Bänke zum
Beispiel, die einer getöteten Person gewidmet sind. Das ist ganz
schön seltsam, wenn ich darüber nachdenke. Obwohl man genau weiß,
dass so etwas passiert, glaubt man nie, dass es einen selbst
treffen könnte.
Das mit den Palästinensern ist
kompliziert. Niemand scheint die richtige Lösung zu kennen. Es ist
für beide Seiten schwierig, zusammenzukommen. Bald wird es sogar
noch schwerer sein, wegen der Mauer, die um das Westjordanland
gezogen wird. Diese Mauer hält die Palästinenser aus Israel fern,
damit sie uns nicht in die Luft sprengen können.
Die vielen Soldaten auf der Straße sind
für mich normal. Der Mann meiner Schwester kommt aus den
USA und er hat ein Problem
damit, so viele Menschen mit Waffen herumlaufen zu sehen. Schon
komisch, dass er das sagt, wo wir doch in der Schule gelernt haben,
dass in den Vereinigten Staaten viel mehr Menschen durch Waffen
sterben als hier, und hier herrscht schließlich Krieg. Er findet,
dass wir uns nicht an Waffen gewöhnen sollten, aber ich bin schon
daran gewöhnt. Für mich wäre es seltsam, wenn sie nicht da
wären.
Außerdem erfüllen die Soldaten eine
wichtige Aufgabe. Kürzlich hat ein Wachmann verhindert, dass ein
Restaurant in die Luft flog.
Wenn ich mit der Schule fertig bin, gehe
ich zur Armee. Das ist sehr wichtig, auch für Mädchen. Es gehört zu
meinen |32|Pflichten als israelische
Staatsbürgerin. Ich halte nichts von Leuten, die ihrer Pflicht
nicht nachkommen, damit sie einfach bequem weitermachen können mit
ihrem Leben. Ich kann verstehen, dass es Menschen gibt, die gegen
den Krieg sind, aber wenn das ihr Beweggrund ist, dann können sie
ja stattdessen Zivildienst leisten.
Für jemanden wie mich oder meine
Freundinnen ist es unmöglich, in die von den Palästinensern
kontrollierten Gebiete zu fahren. Wenn ich schon aus Vorsicht
unsere eigene Innenstadt meide, dann fahre ich ganz bestimmt nicht
in die Westbank!
Ich kenne keine palästinensischen oder
arabischen Jugendlichen. Ich habe keine Ahnung, ob palästinensische
Jugendliche so sind wie ich oder nicht. Ich weiß nichts über sie,
nicht mal darüber, wie sie leben, außer, dass ihre
Lebensbedingungen nicht gut sind.
Ich bin israelische Staatsbürgerin, mit
den gleichen Rechten wie andere israelische Staatsbürger. Die
Palästinenser gehören nicht dazu. Sie haben ihre eigene Regierung,
aber Israel steht über allem. Die Palästinenser dürfen viele Dinge
nicht tun, die ich darf, zum Beispiel kann ich mich frei durchs
Land bewegen.
Wir haben Sperren rund um unsere Schule,
damit niemand hineinkann, der nicht hineindarf. Rund um die Schule
herrscht Parkverbot. Wenn ich auf der Straße an einem geparkten
Auto vorbeigehe, denke ich oft, ob es wohl neben mir in die Luft
fliegen wird. Ich kenne viele Menschen, die in diesem Krieg
umgekommen sind. Ein Mädchen aus meiner Tanzschule wurde getötet,
als eine |33|Bombe in dem Bus
explodierte, in dem sie saß. Wir waren in derselben
Volkstanzgruppe. Ich habe sie oft gesehen. Nach dem Bombenattentat
haben wir einen Tanzabend in einem Jerusalemer Theater veranstaltet
und ihn ihr gewidmet.
Ich kenne noch jemanden, einen Mann, der
ging zur Bank, hob Geld ab und ging dann wieder die Straße
hinunter, und hinter ihm flog die ganze Straße in die Luft. Die
Freundin meines Bruders trug ein Medaillon aus Indien um den Hals.
Ein Splitter von einer Bombe traf sie genau an dem Medaillon und
sie blieb unverletzt. Man weiß nie, wann eine Bombe hochgeht. Man
kann gerade gut oder schlecht gelaunt sein, in Schwierigkeiten
stecken oder das tun, was man tun soll. Es hilft nicht, wenn man
ein gutes Leben führt. Na ja, es ist schon wichtig, ein gutes Leben
zu führen, aber gut zu sein schützt einen nicht vor den
Bomben.
Am meisten macht mir der Gedanke Angst,
dass irgendjemandem, der mir oder meiner Familie nahesteht, etwas
Schlimmes passieren könnte. Wenn unsere ganze Familie
zusammenkommt, dann bin ich am glücklichsten. Mein Bruder lebt in
New York und meine Schwester in Miami. Ich bin sehr gern mit ihnen
zusammen, auch wenn mein Bruder mir häufig auf die Nerven gegangen
ist, als er noch hier wohnte. Er hat mich immer aus dem Zimmer
geworfen, wenn seine Freunde vorbeikamen.
Früher sind wir in den Ferien immer auf
den Sinai gefahren. Das war unser Urlaub. Wir sind mit der ganzen
Familie und Freunden dort hingereist, aber jetzt fahren wir
|34|nicht mehr. Es ist nicht sicher
da. Nirgendwo ist es mehr sicher.
Hier hat jeder ein Handy dabei. Ich rufe
Mama häufig an, einfach nur um zu sagen, dass alles in Ordnung ist,
dass ich noch lebe. Wenn sie eine Weile nichts von mir hört, macht
sie sich Sorgen, mir könnte irgendetwas passiert sein. Wenn es
einen großen Terroranschlag gegeben hat, bricht immer das
Telefonnetz zusammen, weil jeder versucht, alle anzurufen, um zu
hören, ob es ihnen gut geht.
Ich war gerade drei Tage lang mit den
Pfadfindern im Süden Israels zelten, um mal von all dem
wegzukommen. Wir haben in der Wüste gezeltet. Meine Freundinnen und
ich sind viel spazieren gegangen. Alles war ruhig. Der Sand war
erstaunlich bunt. Es tat gut, mal ganz entspannt zu sein und ohne
Druck. Der Norden von Israel ist auch schön. Da gibt es viel Grün
und viel Wasser.
Es wäre schon ganz gut, wenn ich ein paar
Palästinenser kennenlernen würde. Jugendliche sind überall gleich.
Es fällt mir allerdings schwer, mir vorzustellen, dass sie genauso
sind wie ich, weil ich einen Freund in der Armee habe. Er erzählt
mir fürchterliche Sachen. Ein Freund von ihm wurde getötet, als er
eine jüdische Siedlung beschützt hat.
Damit dieser Krieg aufhört, werden alle
ein bisschen nachgeben müssen. Niemand wird komplett als Sieger
daraus hervorgehen. Eines Tages muss der Krieg enden, aber beide
Seiden werden irgendetwas aufgeben müssen.
Die Welt ist nicht perfekt. Wir hätten
mehr aus dem Holocaust lernen sollen – die Welt, meine ich. Wir
haben nicht |35|genug daraus
gelernt, sonst wäre die Welt besser, als sie ist. Ich habe nur
einen Wunsch. Ich möchte, dass der Krieg aufhört, damit ich weiter
in Israel leben und hier meine Kinder großziehen kann.