KAPITEL 99
Eddie Battle bekannte sich sämtlicher Morde als schuldig. Er zeigte sich kooperativ und beantwortete alle Fragen. Da es seinen Anwälten gelang, ihren Antrag auf Unzurechungsfähigkeit durchzupauken, wurde eine Haftstrafe ausgehandelt – allerdings ohne Aussicht, dass Eddie je wieder ein freier Mann wurde. Dieser Handel zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung löste in der Öffentlichkeit heftige Reaktionen aus. In Wrightsburgs Straßen demonstrierten Befürworter der Todesstrafe. Es gab Amtsenthebungsforderungen gegen den Gouverneur, die Staatsanwaltschaft und den Richter. Die Battles wurden mit Drohbriefen bombardiert. Eddie, so wurde ihnen prophezeit, sei binnen eines Monats tot, egal, in welches Hochsicherheitsgefängnis man ihn einwies.
King verfolgte das alles nur mit mäßigem Interesse. Nachdem er Eddie niedergeschossen hatte, hatte er dabei geholfen, ihn und Sylvia zu den Motorbooten am Ufer zu schaffen; von dort hatte man sie in die Klinik gebracht. Beide waren inzwischen vollständig genesen, wenngleich King bezweifelte, dass Sylvia nach diesem schrecklichen Erlebnis je wieder die Alte sein würde.
Mann Gottes, ging es King durch den Kopf, vielleicht werde ich auch nie mehr der Alte sein.
Mit seinem Motorboot hatte er lange Fahrten über den See unternommen und war am helllichten Tag die Strecken abgefahren, die er in jener schrecklichen Nacht hatte zurücklegen müssen. Er hatte mit Michelle nur noch ein letztes Mal über die ganze Angelegenheit gesprochen. Bei der Erinnerung hatte sie immer wieder den Kopf geschüttelt. »Ich habe mich noch nie so wehrlos gefühlt, Sean«, hatte sie gesagt. »Einem solchen Menschen bin ich noch nie begegnet. Es schien, als wäre er von etwas besessen, das nicht von dieser Welt ist.«
»Ich glaube«, sagte King, »so war es tatsächlich.«
Das Ganze hatte King am Ende zu jenen Überlegungen veranlasst, die ihn jetzt beschäftigten, als er an seinem Schreibtisch saß: Die Frage, was Eddie mit den Äußerungen gemeint haben mochte, als er blutend auf dem Hügel lag, ließ ihm keine Ruhe.
»Bloß einen Tick daneben…«
Immerzu kreisten diese fünf Wörter durch Kings Gedanken; er wurde sie einfach nicht los. Schließlich verließ er seinen Schreibtisch und fuhr zu den Battles. Mason empfing ihn und führte ihn zu Remmy.
Im Hausflur standen etliche Gepäckstücke.
»Will jemand verreisen?«, erkundigte sich King.
»Savannah tritt in Übersee eine Stelle an«, erklärte Mason. »Sie reist morgen ab.«
Remmy wirkte wie ein Schatten ihrer selbst. King war sicher, dass der Kaffee, den sie gerade trank, zu neunzig Prozent Jim Beam enthielt.
»Wie ich höre, verlässt Savannah das Haus«, sagte King, nachdem Mason sie beide allein gelassen hatte.
»Ja, aber vielleicht ist sie zu Weihnachten wieder da«, meinte Remmy hoffnungsvoll.
Oder auch nicht, dachte King.
»Ist Dorothea aus der Entzugsklinik zurück?«, fragte er.
»Ja. Sie sitzt nebenan. Ich werde ihr bei der Lösung ihrer finanziellen Probleme helfen.«
»Freut mich zu hören. Es gibt keinen Grund, weshalb man Reichtum nicht gleichmäßig verteilen sollte. Wird sie im Zusammenhang mit Kyle Montgomerys Tod nicht mehr von der Polizei verdächtigt?«
»Ich glaube nicht. Es steht zu bezweifeln, ob der Fall jemals aufgeklärt wird.«
»Man hat schon Pferde kotzen sehen.«
Kein Wort fiel über Eddie. Was hätte man auch noch über ihn sagen sollen?
King wollte nicht lange bleiben; daher beschloss er, gleich zur Sache zu kommen. »Remmy, ich habe Sie aufgesucht, um Ihnen noch eine einzige Frage zu stellen. Sie betrifft Ihren früheren Angestellten Billy Edwards.«
Scharf sah Remmy ihn an. »Den Automechaniker?«
»Genau den.«
»Und wie lautet Ihre Frage?«
»Ich brauche das genaue Datum seiner Entlassung.«
»Das wird sich den Gehaltsabrechnungen entnehmen lassen.«
»Darauf hatte ich gehofft.« Erwartungsvoll musterte King sie.
»Wollen Sie die Unterlagen sofort?«
»Sofort.«
Als Remmy ihm die Akten ausgehändigt hatte, wollte King sich verabschieden, als er plötzlich stutzte.
Er betrachtete »Remmy« Remington Battle, die adrett frisiert und elegant gekleidet in einem kostbaren alten Sessel saß, die Verkörperung einer aristokratischen Dame aus dem alten Geldadel der Südstaaten.
Remmy hob den Blick. »Ist noch etwas?«, fragte sie kühl.
»Hat es sich gelohnt?«
»Was soll sich gelohnt haben?«
»Bobby Battles Ehefrau zu sein. Hat es sich gelohnt, dafür beide Söhne zu verlieren?«
»Wie können Sie es wagen!«, fuhr sie ihn an. »Ist Ihnen nicht klar, dass ich durch die Hölle gegangen bin?«
»Für mich war es auch kein Spaziergang. Warum versuchen Sie nicht, meine Frage zu beantworten?«
»Warum sollte ich?«, hielt sie ihm entgegen.
»Nennen wir es die Huld einer gebildeten, würdevollen Lady.«
»Ihren Sarkasmus können Sie sich sparen.«
»Dann will ich mal Tacheles reden. Bobby junior war Ihr Sohn. Wie konnten Sie ihn verrecken lassen?«
»So war es nicht!«, rief Remmy mit schriller Stimme. »Denken Sie etwa, ich hatte eine Wahl? Glauben Sie, ich hätte meinen Sohn nicht geliebt?«
»Worte kosten nichts, aber Taten sprechen für sich, Remmy. Sie hätte sich bemühen können, sich gegen Ihren Ehemann zu behaupten. Sie hätten ihm sagen können, dass es Ihnen scheißegal sei, woher er Syphilis hatte, aber dass Ihr Sohn in Behandlung müsse. Selbst damals war die Krankheit schon leicht zu diagnostizieren. Hätten Sie dem Jungen Penicillin verabreichen lassen, hätten Sie heute noch beide Söhne. Haben Sie die Sache einmal unter diesem Aspekt betrachtet?«
Remmy setzte zu einer Entgegnung an, verkniff sie sich aber. Sie stellte die Kaffeetasse ab und faltete die Hände im Schoß. »Vielleicht war ich damals innerlich nicht so stark wie heute«, sagte sie schließlich, und King sah Tränen in ihren Augen funkeln. »Aber letzten Endes habe ich dennoch die richtige Entscheidung getroffen. Ich bin mit Bobby bei allen möglichen Fachärzten gewesen.«
»Aber zu spät.«
»Ja«, bestätigte Remmy, deren Stimme nun vollkommen ruhig war. »Dann bekam er Krebs. Und er war längst zu schwach, um diese Krankheit zu besiegen.« Sie wischte ihre Tränen fort und langte nach der Tasse, zog jedoch die Hand zurück und sah stattdessen King ins Gesicht.
»Jeder muss im Leben Entscheidungen treffen, Sean«, fügte sie hinzu.
»Und viele Menschen treffen falsche Entscheidungen.«
Remmy schien eine bissige Antwort geben zu wollen, doch King kam ihr zuvor, indem er ein Foto vom Regal nahm und es ihr hinhielt. Das Bild zeigte Eddie und Bobby als Kinder. Mit einem Ruck fuhr Remmys Hand an ihren Mund, als müsste sie ein Aufschluchzen ersticken. Wieder blickte sie in Kings Gesicht, und nun liefen ihr Tränen über die Wangen. »Als wir geheiratet haben, war Bobby ein ganz anderer Mensch. Vielleicht war es Wunschdenken, an das ich mich geklammert habe – die Hoffnung, dass er eines Tages wieder so wird wie früher.«
King stellte das Foto zurück ins Regal. »Ein Mann, der seinen Sohn sterben lässt, ohne einen Finger zu rühren, ist einen Dreck wert. Ich würde einen solchen Mistkerl eher in die Wüste jagen, als darauf zu warten, dass er zur Vernunft kommt.«
Ohne sich umzuwenden, ging King davon.
Als er das Haus verließ, sah er, dass ein Fahrer Savannahs Gepäck in eine schwarze Limousine lud. Savannah stieg aus dem Wagen und kam zu ihm.
»Gut, dass ich dich noch sehe, bevor ich abreise«, sagte sie. »Ich habe einiges von dem gehört, was du mit meiner Mutter besprochen hast…«
»Offen gestanden, ich weiß nicht, ob ich sie bemitleiden oder verabscheuen soll.«
Savannah starrte auf das Haus. »Sie wollte immer Matriarchin unserer altehrwürdigen SüdstaatenFamilie sein. Einer Art Dynastie, verstehst du…?«
»So ganz hat sie es nicht geschafft«, bemerkte King.
Savannah richtete den Blick auf ihn. »Ich glaube, sie hat sich eingeredet, sie hätte es geschafft. In ihrem Innern hat sie meinen Vater gehasst, ihn in der Öffentlichkeit aber zum Idol erhoben. Sie hat ihre Söhne geliebt und sie trotzdem geopfert, um ihre Ehe zu retten. Kann man so etwas begreifen?« Sie wischte sich über die Augen. »Ich weiß nur eins, ich mache mich auf und davon. Ich werde die nächsten zehn Jahre wohl mit dem Versuch verbringen, das alles irgendwie zu verstehen. Aber nicht hier, sondern weit weg.«
Sie umarmten sich, und King öffnete ihr den Wagenschlag.
»Viel Glück, Savannah.«
»Richte Michelle meinen Dank für alles aus, Sean.«
»Mach ich.«
»Und dass ich ihren Rat bezüglich meiner Tätowierung befolgt habe.«
Erstaunt forschte King in ihrer Miene, sagte aber nichts. Er winkte, als der Wagen davonfuhr.
King fuhr zur Wrightsburg Gazette und setzte sich, ohne es zu ahnen, an denselben Mikrofilmbetrachter, den Eddie bei seinem nächtlichen Einbruch benutzt hatte. King ging die Aufzeichnungen früherer Ausgaben der Gazette durch, bis er zu dem Datum gelangte, das ihn interessierte: dem Tag, an dem die Battles den Mechaniker Billy Edwards entlassen hatten. Doch er fand nicht, was er suchte. Er suchte weiter, schlug am folgenden Tag nach und entdeckte die Meldung auf der ersten Seite. Aufmerksam las er den Bericht. Schließlich lehnte er sich langsam zurück und blickte ins Leere, während sein Verstand versuchte, in Bereiche vorzudringen, die sich dem Vorstellungsvermögen entzogen.
Als er sich schließlich wieder vorbeugte, fiel sein Blick auf die von Eddie beschmierte Wand. Der Schriftzug war abgewaschen worden, doch man konnte noch Spuren erkennen.
TEAT
Einige Tage zuvor hatte King über verschiedene Bedeutungsmöglichkeiten dieser Buchstaben nachgegrübelt, doch ohne Ergebnis. Aber er konnte nicht glauben, dass Eddie das Wort an die Wand geschrieben hätte, wenn es nicht irgendeine Bedeutung besäße.
King holte die Dechiffrierscheibe aus der Tasche. Er hatte sie nicht ohne Grund dabei. Schon vor langer Zeit hatte man entdeckt, dass eine Häufigkeitsanalyse einen verschlüsselten Text mittlerer Länge einigermaßen zuverlässig in Klartext umwandeln konnte. Diese Methode war relativ unkompliziert. Manche Buchstaben des Alphabets fanden weit öfter Verwendung als anderen. Und der allerhäufigste Buchstabe war das E. Diese Erkenntnis hatte den Kode-Knackern für einige Zeit einen beträchtlichen Vorsprung verliehen, bis die Verschlüsselungsexperten wieder die Oberhand gewannen.
King drehte den äußeren Ring der Scheibe, bis der Buchstabe E dem Buchstaben A gegenüberstand. Einen Tick daneben. King richtete den Blick erneut auf die Wand, und in seinem Geist wechselte ein Buchstabe, das A wich einem zweiten E. Nun lautete das Wort TEET. Auch das ergab auf den ersten Blick keinen Sinn.
Resigniert verließ King die Redaktion der Gazette, suchte sein Büro auf, ging ins Internet und gab einer Suchmaschine die Wörter Teet und Verbrechen ein. Eigentlich erwartete er keine Ergebnisse, doch auf dem Monitor erschien eine lange Liste.
Schon beim Lesen des ersten Eintrags setzte King sich plötzlich kerzengerade hin.
»Mein Gott«, entfuhr es ihm. Er las den gesamten Text, lehnte sich zurück und betastete seine Stirn: Sie war feucht vor Schweiß, und er zitterte am ganzen Körper. »Mein Gott«, wiederholte er.
Bedächtig stand er auf. Er war froh, dass Michelle außer Haus war. Er hätte ihr nicht in die Augen schauen können. Im Moment ganz und gar nicht.
Um ganz sicher sein zu können, mussten noch einige wenige Nachforschungen angestellt werden.
Und dann musste King sich der größten Herausforderung seines Lebens stellen.