KAPITEL 45
Sylvia Diaz zählte die Tabletten durch, dann noch einmal. Dann rechnete sie zusammen, wie viele Pillen sie in den letzten drei Wochen verschrieben hatte, und verglich diese Zahl mit der Inventarliste ihres Medikamentenbestands. Schließlich setzte sie sich an den Computer und ermittelte die gespeicherten Zahlen. Die Computerdaten stimmten mit dem tatsächlich vorhandenen Bestand überein, aber nicht mit der Menge, die nach den Rezepten noch da sein musste. Und Sylvia vertraute den Angaben auf ihren von Hand geschriebenen Rezepten. Offensichtlich gab es einen nicht dokumentierten Schwund an Medikamenten. Sie rief ihre Sekretärin an und unterhielt sich ausführlich mit ihr. Dann gingen sie die Listen noch einmal gemeinsam durch. Danach sprach sie mit ihrer Arzthelferin, die im Büro Rezepte für die Patienten ausstellte. Nach dem Gespräch war Sylvia überzeugt, genau zu wissen, wo das Problem lag.
Sie überlegte, was sie tun sollte. Sie hatte keinen eindeutigen Beweis in der Hand, nur Indizien. Sie fragte sich, wann der Diebstahl stattgefunden hatte. Es gab nur eine Möglichkeit, das zu überprüfen. Die Eingangstür zur Leichenhalle und zur Arztpraxis war außerhalb der Öffnungszeiten nur mit einer Schlüsselkarte zugänglich. Das System speicherte die Daten, welche Personen zu welchem Zeitpunkt das Haus betreten oder verlassen hatten. Sylvia rief die Sicherheitsfirma an, gab die nötigen Informationen und ihr Passwort durch und stellte Fragen. Sie erfuhr, dass innerhalb des vergangenen Monats außer ihr nur eine Person die Arztpraxis außerhalb der Öffnungszeiten betreten hatte: Kyle Montgomery. Und Sylvia fand heraus, dass sein letzter Besuch gegen zehn Uhr an dem Abend stattgefunden hatte, bevor Bobby Battle ermordet worden war.
Janice Pembrokes Mutter war älter, als King erwartet hatte. Janice war das Baby gewesen, das jüngste von acht Kindern, wie Mrs Pembroke erklärte. Sie war einundvierzig gewesen, als sie Janice zur Welt gebracht hatte. Sie und ihr zweiter Ehemann, der Stiefvater von Janice, wohnten in einem baufälligen einstöckigen Ziegelhaus in einer heruntergekommenen Gegend. Janice hatte als einziges Kind noch zu Hause gewohnt. Ihr Stiefvater war ein untersetzter Mann mit Bierbauch und mürrischer Miene. Um neun Uhr morgens saß er mit einer Zigarette hinter dem Ohr und einem Bud in der Hand da. Offenbar ging er spät zur Arbeit, falls überhaupt. Er grinste Michelle anzüglich an und wandte den Blick auch nicht von ihr ab, nachdem sie sich im überfüllten Wohnzimmer gesetzt hatten. Seine Frau war ein zierliches, erschöpftes Wesen, was kein Wunder war, wenn sie acht Kinder großgezogen und nun eins auf so schreckliche Weise verloren hatte. An den Armen und im Gesicht hatte sie mehrere blaue Flecke.
»Ich bin die Treppe runtergefallen«, erklärte sie, als King und Michelle sie darauf ansprachen.
Die Frau sprach stockend von ihrer verstorbenen Tochter und musste sich immer wieder mit einem Papiertaschentuch Tränen aus den Augen wischen. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass Janice sich mit Steve Canney traf, sagte sie.
»Die beiden stammten aus ganz verschiedenen Gesellschaftsschichten«, brummte der Stiefvater. »Und sie hat wild in der Gegend herumgevögelt, die dreckige kleine Hure. Das hat sie nun davon. Wahrscheinlich hat sie gedacht, sie könnte sich schwängern lassen und würde so an einen reichen Jungen wie Canney rankommen. Ich hab ihr gesagt, dass sie Abschaum ist und bloß Abschaum vom Leben erwarten kann. Tja, jetzt hat sie bekommen, was sie verdient hat.« Er sah King mit triumphierendem Blick an.
Überraschenderweise versuchte die Mutter nicht, ihre Tochter zu verteidigen, woraus King den Schluss zog, dass die Verletzungen der Grund dafür waren.
Janice hatte keine Feinde gehabt, soweit die beiden wussten, und sie konnten sich auch keinen Grund denken, warum jemand sie töten wollte. Es war dieselbe Geschichte, die sie auch der Polizei und anschließend dem FBI erzählt hatten.
»Und ich hoffe, das ist jetzt das letzte Mal, dass wir damit behelligt werden«, sagte der Stiefvater. »Wenn sie loszieht und sich abknallen lässt, ist das ihre eigene Schuld. Ich hab keine Zeit, hier rumzusitzen und den Bullen immer wieder dasselbe zu erzählen.«
»Oh, halten wir Sie von etwas Wichtigem ab?«, fragte Michelle. »Von einem weiteren Bier vielleicht?«
Er zündete seine Zigarette an, nahm einen Zug und grinste sie an. »Sie gefallen mir, Lady.«
»Wo waren übrigens Sie in der Nacht, als Janice ermordet wurde?«, fragte Michelle, die sich offensichtlich zusammenreißen musste, um dem Mann keine schweren Verletzungen zuzufügen.
Sein Grinsen verschwand. »Was zum Teufel soll das bedeuten?«
»Das bedeutet, dass ich wissen möchte, wo Sie waren, als Ihre Stieftochter getötet wurde.«
»Das hab ich den Bullen schon gesagt.«
»Auch wir sind Bullen. Also werden Sie es uns noch einmal sagen.«
»Ich war mit ein paar Kumpels unterwegs.«
»Haben diese Kumpels Namen und Adressen?«
Ja, die hatten sie, und Michelle notierte sie sich, während der Mann nervös zuschaute.
»Ich hab nichts mit dem Mord an ihr zu tun«, beteuerte er, als er ihnen nach draußen folgte.
»Dann haben Sie auch nichts zu befürchten«, erwiderte Michelle.
»Darauf können Sie Gift nehmen, Baby.«
Michelle fuhr herum. »Mein Name ist Maxwell. Deputy Maxwell. Und falls Sie es noch nicht wussten: Wer seine Frau schlägt, begeht eine Straftat.«
Er schnaufte. »Hab keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Ich glaube, Ihre Frau würde das anders sehen.« Michelle deutete mit einem Nicken auf Mrs Pembroke, die sie von drinnen durch die Gardinen beobachtete.
Er lachte. »Sie wird nichts sagen. Ich bin der Herr im Haus. Warum kommen Sie nicht einfach mal vorbei, dann beweise ich es Ihnen, Schätzchen.«
Michelles Körper spannte sich.
»Tu es nicht, Michelle«, warnte King, der sie genau im Auge behielt. »Lass ihn reden.«
»Du kannst mich mal, Sean!«
Sie stapfte zu dem Mann hinüber und redete mit leiser, aber sehr deutlicher Stimme auf ihn ein. »Hören Sie mir zu, Sie armseliger kleiner Schwachkopf. Ihre Frau muss Sie gar nicht mehr persönlich anzeigen. Das kann der Staat für sie übernehmen. Wenn ich das nächste Mal hier vorbeischaue – und das werde ich – und sie auch nur einen einzigen blauen Fleck hat, werde ich Ihren schlaffen Arsch hinter Gitter schleifen, nachdem ich Ihnen gezeigt habe, wie sich Schläge anfühlen.«
Dem Mann fiel die Zigarette aus dem Mund. »Das können Sie gar nicht. Sie sind bloß Polizistin.«
»Ich werde sagen, dass Sie die Treppe runtergefallen sind.«
Der Mann blickte King an. »Diese Frau hat mich bedroht«, rief er.
»Ich habe nichts gehört«, sagte King.
»So soll das also laufen, was? Nun, ich hab keine Angst vor einer Hungerharke wie Ihnen.«
Vor dem Haus stand ein anderthalb Meter hoher, dicker Holzpfosten, an dem eine altertümliche Laterne hing. Michelle ging hinüber und zerbrach den Pfosten mit einem kräftigen Fußtritt in der Mitte.
Danach lag plötzlich auch die Bierdose neben der Zigarette auf dem Boden, während der Mann offenen Mundes auf das Ergebnis dieser Demonstration starrte.
»Ich freue mich auch schon auf unser Wiedersehen, Schätzchen!«, sagte Michelle, als sie zum Wagen ging.
King bückte sich und hob einen Splitter vom Holzpfahl auf. »Stellen Sie sich mal vor«, sagte er zu dem erschütterten Mann, »das wäre Ihr Rückgrat gewesen.« Er gab ihm vierzig Dollar, um den Schaden zu begleichen, und folgte Michelle.
»Ich glaube, er hat sich in die Hose gemacht«, sagte King, als sie in den Wagen stiegen.
»’tschuldigung. Ich war wütend. Aber man kann nicht immer die andere Wange hinhalten.«
»Um ehrlich zu sein, ich bin richtig stolz auf dich.«
»Danke. Aber wenn ich ihm drohe, wird sich nichts an der Situation seiner Frau ändern. Bei einem solchen Kerl weiß man nie, was er als Nächstes tut. Wahrscheinlich hätte ich lieber die Klappe halten sollen.«
»Aber du wirst wiederkommen und nachsehen, wie es der Frau geht?«
»Verlass dich drauf.«
»Sag mir vorher Bescheid.«
»Warum? Damit du es mir ausreden kannst?«
»Nein. Damit ich den Drecksack festhalten kann, während du ihn windelweich prügelst.«