KAPITEL 43
Wie King vorhergesagt hatte, traf die Polizei zu spät ein, um Juniors Mörder zu fassen. Als die Neuigkeit eines weiteren Mordes an die Öffentlichkeit drang, geriet die ganze Gegend in helle Aufregung. Der Bürgermeister von Wrightsburg demonstrierte in einem eindrucksvollen Auftritt sein mangelndes Vertrauen in Polizeichef Williams und das FBI und verlangte, dass die Nationalgarde mobilisiert und das Kriegsrecht ausgerufen wurde. Zum Glück reagierte niemand auf diese Forderungen. Die nationale Nachrichtenmaschinerie hatte sich auf Wrightsburg und Umgebung gestürzt und stillte ihren unersättlichen Hunger nach Einzelheiten, ganz gleich, wie banal oder unbedeutend sie für die Ermittlungen sein mochten. Die großen Übertragungswagen und die Nachrichtensprecher mit drahtlosen Mikros in den Händen wurden so allgegenwärtig wie die sprießenden Frühlingsknospen. Die einzigen Menschen, die sich über diese Entwicklungen freuten, waren die einheimischen Gaststättenbesitzer und Verschwörungstheoretiker, die mit immer neuen Spekulationen aufwarteten. Fast jeder versuchte, die Gelegenheit zu fünfzehn Minuten Ruhm zu nutzen.
Todd Williams wurde von der journalistischen Sintflut überschwemmt, genauso wie Chip Bailey. Selbst King und Michelle gelang es nicht, sich vollständig dem Ansturm zu entziehen. Bestürzt mussten sie mit ansehen, wie Details aus ihren bislang geheimen Ermittlungen ans Licht gezerrt und zu Sensationszwecken ausgeschlachtet wurden.
Weiteres Personal wurde von nationalen und bundesstaatlichen Polizeibehörden angefordert, doch King war nicht sicher, ob die Ermittlungen dadurch unterstützt oder behindert wurden. Eher schien Letzteres der Fall zu sein, da fast alle um die besten Posten rangelten.
Schließlich traf der Brief ein. Er offenbarte, dass der Mörder von Junior Deaver nun den Clownprinzen der Dunkelheit imitierte, wie er in Serienkillerkreisen bekannt war: John Wayne Gacy. Und ihr habt gedacht, er hätte nur junge Männer getötet, hieß es spöttisch in der Nachricht. Jetzt wisst ihr, dass er sich traut, große fette Rednecks wie Junior Deaver zu erledigen.
Alle trafen sich zu einer weiteren morgendlichen Einsatzbesprechung in der Polizeiwache. Der große Konferenzraum war in eine Art Krisenzentrum verwandelt worden, mit Computern und Telefonen, die rund um die Uhr besetzt waren, Karten und Diagrammen an den Wänden, Aktenstapeln, hoch spezialisierten Mitarbeitern, die jedem Hinweis nachgingen, und tonnenweise Kaffee und Doughnuts. Nur ein mutmaßlicher Verdächtiger war nicht in Sichtweite.
»Gacy hat viele seiner Opfer mit dieser Erdrosselungstechnik getötet«, erklärte Chip Bailey.
»Sie scheinen Ihre Serienmörder gut studiert zu haben«, sagte Michelle.
»Das sollte man meinen. Ich habe Jahre damit verbracht, ihnen auf die Schliche zu kommen.«
»Und im Gefängnis hat dieser große, fröhliche Kerl angefangen, Clowns zu malen«, fügte King hinzu. »Deshalb die Maske, nur für den Fall, dass wir durch das Tourniquet nicht darauf gekommen wären.«
»Und Juniors Uhr stand definitiv auf fünf«, sagte Michelle. »Also kann unser Serienmörder entweder nicht richtig zählen, oder der Mord an Bobby Battle wurde von einem Nachahmungstäter begangen.«
»Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass wir es mit zwei Mördern zu tun haben«, räumte Bailey ein. »Obwohl die abwegige Möglichkeit besteht, dass es doch nur ein Mörder ist, der aus irgendeinem Grund ein verwirrendes Zahlenspiel betreibt.«
»Sie meinen, er möchte nur für fünf statt sechs Morde zur Rechenschaft gezogen werden?«, fragte King. »Ich weiß nicht, wie es anderswo gehandhabt wird, aber in Virginia werden Mörder nur einmal hingerichtet.«
Williams stöhnte und griff nach einer Tablette. »Verdammt, mir tut schon wieder der Schädel weh.«
»Haben Sie Bobby Battles Testament gesehen, Todd?«, fragte Michelle.
Williams schluckte die Tablette und nickte. »Der überwiegende Teil seines Nachlasses geht an Remmy.«
»Waren die beiden gemeinschaftliche Eigentümer des Besitzes?«, fragte King.
»Nein. Vieles lief nur auf Bobbys Namen, einschließlich all seiner Patente. Das Haus ging automatisch an Remmy, und sie hat selbst einen umfangreichen Besitz.«
»Sie sprachen vom überwiegenden Teil. Wohin geht der Rest?«
»Verschiedene soziale Einrichtungen. Ein bisschen an Eddie und Dorothea. Aber nicht annähernd genug, um dafür zum Mörder zu werden.«
»Und Savannah?«, fragte King.
»Sie hat nichts bekommen. Schließlich hat sie schon ein sattes Treuhandvermögen.«
»Trotzdem klingt es ziemlich herzlos, ihr gar nichts zu hinterlassen.«
»Vielleicht haben sie und Bobby sich nicht verstanden«, sagte Bailey.
King sah ihn an. »Wie gut kennen Sie die Familie?«
»Mit Eddie treffe ich mich mehr oder weniger regelmäßig. Wir gehen zusammen auf die Jagd, und ich war bei einigen seiner Historiendramen dabei. Als Gegenleistung ist er nach Quantico gekommen und durfte die FBI-Akademie besichtigen. Remmy und Bobby haben übrigens dieselbe Tour gemacht, und auch Mason, der Butler. Ich besitze ein paar von Eddies Kunstwerken. Dorothea hat mir dabei geholfen, ein Haus in Charlottesville zu finden. Ich war einen Nachmittag bei ihnen, nachdem sein Vater getötet wurde. Es hat ihn schwer mitgenommen, das kann ich Ihnen versichern. Aber ich glaube, er hat sich die meisten Sorgen gemacht, welche Auswirkungen die Tragödie auf seine Mutter haben wird.«
King nickte. »Er kommt sowieso nicht als Mörder seines Vaters in Frage. Er war zur Tatzeit mit uns zusammen.«
»Und er hat im Bürgerkrieg gekämpft, als Rhonda Tyler, Steve Canney und Janice Pembroke getötet wurden«, sagte Bailey.
»Was ist mit Dorothea?«, fragte Michelle.
»Wir haben sie überprüft. Sie ist sauber.«
»Auch zu dem Zeitpunkt, als Bobby Battle starb?«, fragte King.
»Sie sagte, sie wäre nach Richmond gefahren, weil sie dort am nächsten Morgen einen Termin hatte.«
»Allein?«
»Ja.«
»Also hat sie streng genommen kein Alibi«, sagte King. »Wie gut kennen Sie Dorothea?«
»Wie ich bereits sagte, sie hat als Maklerin für mich gearbeitet. Aber ich glaube nicht, dass sie viele Tränen vergießen wird, weil Bobby tot ist.«
»Ist die Ehe glücklich?«, fragte Michelle.
»Eddie liebt sie, das weiß ich. Aber ich bin mir nicht sicher, wie stark seine Gefühle erwidert werden. Unter uns gesagt könnte ich mir sogar vorstellen, dass Dorothea sich nebenbei ein bisschen Abwechslung verschafft.«
»Und Savannah behauptet, sie wäre zu Hause gewesen, als ihr Vater starb. Stimmt das?«
»Ich habe die Haushaltshilfen danach gefragt, aber alle hatten sich zu diesem Zeitpunkt in ihre Quartiere zurückgezogen, außer Mason, und der erinnert sich nicht, Savannah gesehen zu haben. Allerdings war sie nicht gerade in Topform, als wir mit ihr geredet haben. Ich werde sie noch einmal befragen müssen.«
»Also zählt auch sie weiterhin zum Kreis der Verdächtigen«, sagte King. »Was ist mit Bobby und Remmy?«
»Was meinen Sie?«
»Wären Sie überrascht, wenn ich Ihnen sage, dass wir eine Information haben, nach der die beiden vor drei oder vier Jahren einen heftigen Streit wegen Bobbys notorischer Untreue hatten?«
»Nein. Er hat sich diesen Ruf redlich erworben. Manche Leute haben gedacht, diese Zeit wäre für ihn vorbei, aber alte Hunde pinkeln immer wieder an die gleiche Stelle.«
»Was ein ziemlich gutes Motiv sein könnte, den Ehemann umzubringen«, sagte Michelle.
»Möglicherweise«, sagte Bailey.
»Was ist mit Remmy?«, fragte King.
»Was? Ob auch sie sich Seitensprünge genehmigt hat?«
King nickte.
»Niemals«, sagte Bailey im Brustton der Überzeugung.
»Mason scheint sehr viel von Remmy zu halten«, sagte King.
»Daran zweifle ich nicht, aber er spielt nicht in ihrer Liga und wird es auch niemals tun, falls Sie etwas in dieser Richtung andeuten wollen.«
King blickte Bailey ein paar Sekunden lang an; dann beschloss er, das Thema zu wechseln. Er wandte sich an Williams. »Hat Sylvia die Obduktion von Junior schon abgeschlossen?«
»Ja«, antwortete Williams, dem es schon wieder so gut ging, dass er sich einen Doughnut und Kaffee geholt hatte. »Er starb durch Erdrosselung, obwohl er zuvor schwere Schläge auf den Kopf erhalten hat, zuerst mit einer Schaufel, dann mit einem Stück Holz. Hat sehr viel Blut verloren.«
»Das wissen wir«, entgegnete King trocken.
»Gut«, sagte der Polizeichef. »Auf jeden Fall glaubt Sylvia, dass sie diesmal vielleicht ein paar Spuren vom Täter sichergestellt hat. Und die Jungs haben Fasern gefunden, die nicht zu Juniors Kleidung passen. Außerdem haben wir in der Nähe ein Stück einer Reifenspur entdeckt. Könnte das Fahrzeug sein, mit dem er geflohen ist.«
»Sie sollten diese Fasern lieber mit meiner Kleidung vergleichen«, sagte King. »Ich hatte Kontakt mit Junior, als die Schüsse fielen.«
»Apropos, haben Sie die Kugeln aus den Reifen untersucht?«, fragte Michelle.
»Kaliber vierundvierzig«, sagte Williams. »Nichts Besonderes. Wir können nur hoffen, dass wir irgendwann eine Waffe haben, der wir sie zuordnen können.«
»Der Typ hat ein Laserzielgerät«, sagte King. »Das ist ziemlich spezialisiert.«
»Außerdem fehlte Juniors Gürtelschnalle«, warf Williams ein.
»Eine weitere Trophäe«, sagte Michelle.
»Wie es scheint, hat Junior dem Mörder einen harten Kampf geliefert«, sagte Bailey. »Er hat viele Verletzungen an Händen und Unterarmen, die auf heftige Gegenwehr schließen lassen. Und eine Rigipswand ging zu Bruch, vermutlich während des Kampfes.«
»Der Angreifer hat offensichtlich ein paar Fehler gemacht«, sagte Williams. »Obendrein seid ihr beide auf der Bildfläche erschienen und habt ihm das Spiel verdorben.«
»Ich glaube kaum, dass wir irgendetwas bewirken konnten«, sagte Michelle, »außer dass wir ihn entkommen ließen.«
King schaute sich noch einmal die Kopie des Briefes an. »Das ist das erste Mal, dass er ein Opfer namentlich erwähnt.«
»Das ist mir auch aufgefallen«, sagte Bailey.
»Warum sollte ein Mörder so etwas tun?«, fragte Todd Williams.
»Er spielt mit uns. Er will uns an der Nase herumführen.«
»Zu welchem Zweck?«, fragte Michelle.
»Weil alles Teil von etwas viel Größerem ist, das wir im Augenblick noch nicht erkennen«, antwortete King.
»Und was könnte das sein?«, fragte Bailey skeptisch.
»Wenn ich das herausgefunden habe, werden Sie es als Zweiter erfahren«, sagte King und warf Williams einen bedeutungsvollen Blick zu. »Wie hat Lulu es aufgenommen, Todd?«
Williams lehnte sich zurück und zuckte mit den Schultern. »Sie hat nicht geweint, aber die Kinder waren dabei. Allerdings wurde ihre Mutter völlig hysterisch. Sie schrie herum, wie sehr sie Junior liebt und was in aller Welt sie nun ohne ihn machen sollen. Schließlich musste Lulu sie aus dem Zimmer befördern. Sie ist schon eine Marke.«
King und Michelle sahen sich an und schüttelten gleichzeitig die Köpfe.
»Jetzt kommen wir zu einem interessanten Punkt«, sagte Williams. »Sie haben uns gesagt, dass Junior von Remmy bedroht wurde. Dass sie ihre Sachen zurückhaben wollte und Junior sie niemandem zeigen sollte.«
King nickte. »Das zumindest hat Lulu uns erzählt. Aber nicht Remmy Battle hat Junior zusammengeschlagen und anschließend erdrosselt.«
»Aber Lulu zufolge hat Remmy zu Junior gesagt, sie würde gewisse Leute kennen.«
King schüttelte den Kopf. »Ich wüsste nicht, warum Remmy an seinem Tod interessiert sein sollte. Zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Angeblich wollte sie Junior Bedenkzeit geben. Wenn er tot ist, kann er ihr nicht mehr sagen, wo ihre Sachen sind. Was er sowieso nicht hätte tun können, weil er sie meiner Meinung nach nicht gestohlen hat.«
»Aber wenn er tot ist«, sagte Bailey, »kann er die Sachen niemand anderem mehr zeigen.«
King ließ sich nicht überzeugen. »Da könnte Remmy sich nicht sicher sein. Er hätte Vorkehrungen treffen können für den Fall, dass ihm etwas zustößt.«
»Das klingt einleuchtend«, sagte Williams. »Aber wir sollten dieser Angelegenheit trotzdem nachgehen. Nicht, dass ich mich darauf freue, mit Remmy über dieses Thema zu sprechen.«
»Wir beide werden mit ein paar anderen Personen reden«, sagte King.
»Mit wem?«, fragte Bailey streng.
»Steve Canneys Vater und Janice Pembrokes Eltern.«
»Wir haben schon mit ihnen gesprochen. Und auch mit allen, die in Verbindung zu Diane Hinson standen.«
»Aber Sie haben sicher nichts dagegen, wenn wir ebenfalls mit ihnen reden«, sagte Michelle.
»Nur zu«, sagte Williams. »Meine Erlaubnis habt ihr.«
»Aber melden Sie sich, falls Sie etwas Interessantes herausfinden sollten«, sagte Bailey.
»Ich zähle schon die Minuten«, murmelte King.