KAPITEL 93

King war aus dem Heerlager um das Casa Battle geflohen und hatte mit Sylvia in deren Haus in Ruhe zu Abend gegessen. Auch hier stand ein Deputy auf Posten.

Sylvia spielte mit dem Reif an ihrem linken Handgelenk. »Was glaubst du, wo er sich verbirgt?«

King hob die Schultern. »Schwer zu sagen. Er kann fünfzehnhundert Kilometer weit weg sein, aber genauso gut fünf Meter.«

»Diese Brutalität«, sagte Sylvia und schüttelte den Kopf. »Er hat Jean Robinson den Schädel zertrümmert und dem Deputy die Luftröhre zerquetscht. Und bei Chip Bailey hat er mit solcher Gewalt zugestochen, dass die Messerspitze die Wirbelsäule getroffen hat. Ganz davon zu schweigen, was mit Sally Wainwright und all den anderen Opfern geschehen ist. Obendrein hätte er fast auch dich umgebracht.«

»Aber nur fast«, sagte King.

Eddie schwamm auf der Stelle, indem er Wasser trat, und verschaffte sich einen Überblick. Es war genauso, wie er erwartet hatte: Das Bootshaus und der Anlegeplatz wurden nicht bewacht.

Mit regelmäßigen Schwimmstößen legte Eddie das restliche Stück bis zum Ufer zurück. In seinem schwarzen Schwimmanzug war er nahezu unsichtbar. Er erreichte die Schwimmleiter, kletterte aus dem Wasser, blieb stehen und lauschte. Aufmerksam beobachtete er die Umgebung, ehe er sich weiter vorwärts wagte. Er nahm den wasserdichten Beutel an sich, den er sich ans Bein gebunden hatte, holte die Pistole heraus und warf einen Blick auf die Armbanduhr. Er musste sich beeilen. Lautlos konnte er seinen Weg nicht fortsetzen, doch in der Ferne hörte er bereits Donnergrollen: Ein schweres Unwetter mit Orkanböen zog heran – so, wie die Wetterfrösche es vorhergesagt hatten.

Eine vorteilhaftere Nacht hätte Eddie sich nicht wünschen können. Die Elemente schienen stets seine Freunde zu sein. Gut so, denn andere Freunde hatte er nicht.

Er ging zum Bootshaus, öffnete das Zahlenschloss, schob die Tür auf und trat ein. Im Innern trug er die Ausrüstung zusammen, die er brauchte, setzte den elektrisch betriebenen Lift in Betrieb und eilte zurück ins Freie, die Fernbedienung in der Hand.

Der Lift ließ das FasTech-Schnellboot zu Wasser. Vor seiner Festnahme hatte Eddie die Weitsicht gehabt, dafür zu sorgen, dass das Boot einsatzbereit gemacht wurde. Der Händler, der es seinem Vater verkauft hatte, hatte behauptet, es sei eins der schnellsten Wasserfahrzeuge auf dem See, wenn nicht das schnellste überhaupt. Und es war gut möglich, dass Eddie auf jeden Knoten Geschwindigkeit angewiesen war.

Er schwang sich ins Cockpit. Als das Boot mit dem gesamten Rumpf im Wasser lag, drückte er auf der Lift-Fernbedienung die Stopptaste. Am See wurde es wieder still. Die Scheinwerfer wollte Eddie, falls überhaupt, erst weit draußen auf dem Wasser einschalten. Es war ein Glück, dass in seiner Familie außer ihm niemand großes Interesse an Booten hatte. Deshalb stand nicht zu befürchten, dass um diese Stunde jemand am Bootshaus erschien.

Eddie wartete, bis das Unwetter herangezogen war. Im Krachens des Donners warf er die beiden Mercury-Motoren an. Tausend PS erwachten zum Leben. Eddie nahm Gas weg, und das Boot tuckerte vorwärts. Er drehte den Bug in die Richtung, in der sich die Ausfahrt aus der Bucht befand, drückte den Gashebel nach vorn und lenkte das FasTech mit etwa zehn Knoten Geschwindigkeit vom Bootshaus fort. Er spürte, wie der Rumpf leicht bebte, als würden die Mercury-Motoren ungeduldig darauf warten, endlich ihre gewaltige Kraft entfalten zu können und jeden Konkurrenten abzuhängen. Eddie tätschelte das Armaturenbrett. Das kommt später, ich verspreche es.

Als er in eine freie Fahrrinne gelangte, schaltete er auf halbe Kraft, und die Geschwindigkeit erhöhte sich atemberaubend schnell auf fünfunddreißig Knoten, ein Tempo, das den Motoren merklich besser gefiel. Den Blick auf den GPS-Farbbildschirm in der Mitte des Armaturenbretts gerichtet, steuerte Eddie das Boot auf 150 Grad Südost. Andere Fahrzeuge verkehrten derzeit nicht auf dem See, den Eddie in-und auswendig kannte. Die Fahrrinnen waren mit Leuchtbojen gut sichtbar markiert; an roten Bojen leuchteten gerade Zahlen flussaufwärts, während grüne Bojen mit ungeraden Zahlen flussabwärts strahlten. Untiefen hatte man mit grellweißen Leuchtbojen gekennzeichnet. Doch Eddie wusste ohnehin, wo er sich befand. In Schwierigkeiten könnte er nur in Buchten geraten, in denen Untiefen nicht immer markiert waren und das Ufer unregelmäßige Landspitzen bildete. Aber sein Vater hatte für das FasTech zusätzlich ein Radargerät angeschafft; deshalb bestand kein Grund zu der Sorge, irgendwo auf Grund zu laufen. Gut gemacht, Dad. Dafür bin ich dir wirklich zu Dank verpflichtet, du alter Drecksack.

Eddie ließ die Scheinwerfer aus, erhöhte aber die Geschwindigkeit auf fünfzig Knoten. Abwechselnd spähte er über den Bug nach vorn und blickte auf den GPS-Monitor. Inzwischen liefen die Motoren rund, und der Rumpf zitterte nicht mehr. Obwohl das Gewitter nun heftig tobte, hielt Eddie das Boot mit steter Fahrt gleichmäßig auf Kurs. Er schaltete das Hochfrequenz-Funkgerät ein und hörte sich den Wetterbericht an. Man forderte die Fahrer sämtlicher kleinen Wasserfahrzeuge zur Umkehr ans Ufer auf und empfahl den Leuten, die Schotten dichtzumachen.

Hab Dank, lieber Gott. Nun hatte Eddie seine Einmannshow. Nach Erreichen der Hauptfahrrinne wechselte er den Kurs nach Südwesten. Auf dem Wasser war der Weg gar nicht so weit. Mit dem Auto brauchte man länger; deshalb hatte er ja das Boot genommen. Außerdem waren auf den Straßen ganze Kolonnen von Streifenwagen unterwegs. Auf dem See dagegen gab es nur ein Polizeiboot, das ausschließlich am Wochenende zum Einsatz kam, wenn der meiste Freizeitbetrieb herrschte. In dieser Nacht kam ihm bestimmt keiner in die Quere.

Eddie stand am Steuerrad, ließ sich den Wind ins Gesicht peitschen und in seinen Haaren zerren. Der Wind schwoll an; die Wellen wurden höher. Gischt krönte die dunklen Wogen, doch das FasTech teilte unbeeindruckt die Fluten. Eddie blickte zum unheilvoll düsteren Himmel hinauf. Er hatte sich immer gern im Freien aufgehalten: Reiten, Soldat spielen, unter dem weiten Himmel kampieren, atemberaubende Sonnenuntergänge malen, Jagen, Fischen, Einsichten gewinnen, wie eines mit dem anderen harmonierte, wie sich eines vom anderen ernährte…

Nun aber bewegte sich alles dem Ende entgegen. Heute unternahm er seine letzte Spritztour. Es überraschte ihn, wie schnell der Schlusspunkt heranrückte. Er war gesund und kräftig; dennoch endete sein Leben mit knapp vierzig Jahren. Doch wenn es vorbei war, hatte er alles verwirklicht, was ihm etwas bedeutete. Wie viele Menschen konnten das von sich behaupten? Er hatte sein Leben zu seinen eigenen Bedingungen geführt, nicht nach denen seines Vaters, den Wünschen seiner Mutter oder dem Willen irgendeines anderen.

Das war die Lüge, die Eddie sich jeden Tag selbst auftischte.

Er stieß den Gashebel ganz nach vorn. Die Motoren brüllten auf, und das Boot beschleunigte auf über siebzig Seemeilen. Die Hügel, die den von Menschen geschaffenen See säumten, schienen nur so vorüberzusausen, und die Bäume, die auf den Anhöhen wuchsen, waren stumme Zeugen für Eddies letztes Hurra. Angriff von Eddie Lee Battle und seiner getreuen Brigade. Großer Gott, er war ganz und gar in seinem Element!

»Und von neuem in die Bresche geworfen!«, rief er in den finsteren, vom Flackern der Blitze durchzuckten Himmel, als der Regen einsetzte, und leckte sich die Tropfen vom Gesicht. »Die größte Tugend eines Mannes ist der Mut des Einen gegen alle!«, rief er die schwülstigen Worte eines Dichters der Bürgerkriegszeit, der wahrscheinlich nie eine Muskete geschultert hatte. »Wenn die Welt am dunkelsten ist, erscheint uns Licht, und sei es nur aus dem Pulsschlag eines lebendigen Herzens!« Wie auf ein Stichwort krachten Donnerschläge, und als das Gewitter seine ganze Kraft entfaltete, gleißte ein Milliarden Watt heller Blitz.

Das Heulen der Mercury-Motoren wetteiferte mit dem Tosen des Unwetters. Das dahinjagende Boot erzeugte eine riesige Bugwelle, doch die Fahrt blieb gleichmäßig, sicher und ruhig – ruhiger als Eddie selbst. Fast drei Viertel des elf Meter langen Rumpfes jagten über dem Wasser dahin, durchschnitten die fast meterhohen Wogen. Das Schnellboot erschien Eddie wie ein gewaltiges Projektil. Niemand konnte ihn einholen.

Niemand!

Mit jedem Schlag der Stunde
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